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Am Himmel kein Licht

Die lange Reise eines kleinen Jungen, der allein aus Afghanistan flieht

AutorGulwali Passarlay
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783492974066
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Gulwali Passarlay wuchs in einer traditionellen afghanischen Paschtunen-Familie auf. Mit nur 12 Jahren schickt ihn seine Mutter Richtung Europa, um ihn vor dem blutigen Konflikt der Taliban mit den US-Soldaten zu retten, dem bereits sein Vater zum Opfer gefallen war. Seine Flucht ist eine atemberaubende Odyssee durch acht verschiedene Länder, die er als Junge alleine bewältigen muss: das vollständige Ausgeliefertsein an die Schlepper, gefährliche Grenzübertritte, Hunger und Erschöpfung, Gefängnisaufenthalte, eine Bootsfahrt übers Mittelmeer, die er nur haarscharf überlebt. Nach zahllosen Versuchen gelingt ihm schließlich die Einreise in England, wo er sich mit großem Bildungshunger ein neues Leben aufbaut. Die packend erzählte und emotional aufrüttelnde Geschichte eines Flüchtlingsjungen, der es geschafft hat, sich in der westlichen Welt zu behaupten.

Gulwali Passarlay wurde von seiner Mutter als 12-Jähriger aus Afghanistan Richtung Europa geschickt, um ihn vor den Fängen der Taliban und der US-Streitkräfte zu retten, deren Konflikt bereits sein Vater zum Opfer gefallen war. Nach einer traumatisierenden Reise durch acht verschiedene Länder erreicht Gulwali ein Jahr später mit viel Glück England, wo der mittlerweile 21-Jährige Politik an der University of Manchester studiert. Gulwali engagiert sich in vielen politischen und sozialen Verbänden, und sein großes Ziel ist es, eines Tages für die afghanische Präsidentschaft zu kandidieren. 2012 war er Träger der Olympischen Fackel.

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Leseprobe

Prolog


Bevor ich starb, stellte ich mir vor, wie es sich anfühlen würde zu ertrinken.

So würde ich also sterben. Weit weg von der Wärme meiner Mutter, dem Schutz meines Vaters und der Liebe meiner Familie. Die weißen Wellen würden ihren Rachen aufreißen und mich verschlingen, und mein junger Körper würde in den eisigen, finsteren Tiefen versinken.

»Morya, Morya!« schrie ich und flehte meine Mutter an, ihren zwölfjährigen Sohn in die Arme zu nehmen und aus den Fluten zu retten.

Diese Reise sollte doch der Anfang meines Lebens sein und nicht das Ende.

Ich habe einmal gehört, dass das Ertrinken ein friedlicher Tod sein soll. Aber wer das behauptet hat, der hat nicht miterlebt, wie sich erwachsene Männer vor Angst in die Hosen machen, während ihr überfülltes, ruderloses Boot auf dem Mittelmeer durch einen Sturm treibt.

Das bisschen Proviant, das der Kapitän an Bord gebracht hatte, war schon nach wenigen Stunden aufgezehrt. Das war vor fast zwei Tagen gewesen. Das Einzige, von dem wir noch reichlich hatten, waren Angst, Übelkeit und Kot. Die Hoffnung war während der endlosen Nacht im Meer versunken und hatte den Mut mit in die Tiefe gezogen. Die Verzweiflung füllte meine Taschen wie Steine.

Als wir in der Türkei in See gestochen waren, hatte uns der weißhaarige kurdische Schmuggler versprochen, dass wir in wenigen Stunden in Griechenland sein würden. Der Mann arbeitete für einen mächtigen Schlepper, einen jener schattenhaften Unternehmer, die den Strom der verzweifelten Migranten durch ihre Länder kontrollieren und besitzen. Über Kontaktleute und Mittelsmänner fließt Geld und werden Abmachungen getroffen. Ein mächtiger Schlepper hat seine Handlanger überall, er bezahlt Hunderte Schleuser, Fahrer und Führer und schmuggelt oft Hunderte und Tausende Migranten und Flüchtlinge gleichzeitig durch ein Land.

Doch trotz der Versprechungen des Kurden waren seit unserem Aufbruch inzwischen zwei Tage vergangen, und wir trieben noch immer auf dem Meer.

Am Morgen des zweiten Tages hatte der Kapitän die türkische Flagge gegen eine griechische getauscht. Das hätte ein gutes Zeichen sein sollen, doch irgendetwas stimmte nicht. Wenn wir in griechischen Gewässern waren, warum waren wir dann noch nicht an Land gegangen?

Alle ahnten, dass etwas schiefgelaufen war, und unter den Männern machte sich Panik breit. Viele waren unter Deck eingesperrt – diejenigen, die als Erste an Bord gegangen waren und die Schwächeren beiseitegestoßen hatten, um einen Platz zu ergattern. Als sie das Boot bestiegen hatten, hatte der Kapitän sie in den Kielraum geschickt. Woher hätten sie auch wissen sollen, dass sie hinter einer Eisentür eingesperrt werden? Sie hatten nicht damit gerechnet, in einem schwimmenden Sarg gefangen zu sein, und hatten die halbe Nacht hindurch verzweifelt geschrien, der Kapitän solle sie herauslassen. Ich dankte dem Schöpfer, dass ich nicht dort unten war.

Ich war als einer der Letzten an Bord gegangen und hatte befürchtet, dass ich keinen Platz mehr bekommen würde. Da der Kielraum bereits voll war, bekam ich einen Platz auf dem Deck – eine glückliche Fügung. Als einziges Kind an Bord hatte ich ohnehin schlechte Karten, aber auf dem offenen Oberdeck hatte ich zumindest eine kleine Chance.

Es gab keine Toilette an Bord. Viele Männer hatten ihre Kleidung beschmutzt, andere hatten in leere Wasserflaschen uriniert, und einige hoben sich die gelbe Flüssigkeit auf, um sie zu trinken. Verzweiflung setzt gewaltige Kräfte frei. Eine stinkende Mischung aus Meerwasser, Urin und Fäkalien schwappte um unsere Füße, und selbst an der frischen Luft war der Gestank unerträglich. Außerdem tat mir der Hintern weh, weil ich seit zwei Tagen auf der harten Holzbank saß, die um das Deck herumlief. Hier schlief ich auch, wobei es unmöglich war, mehr als ein paar Minuten am Stück zu dösen. Wir waren so eng zusammengepfercht, dass wir nur im Sitzen schlafen konnten.

Neben mir saß Hamid, ein junger Mann von Anfang zwanzig. Wir hatten uns sechs Tage zuvor kennengelernt, während wir versteckt im Wald auf unsere Überfahrt gewartet hatten. Abwechselnd legten wir den Kopf auf die Schulter des anderen. Mein einziger anderer Freund, Mehran, war einer der Unglücklichen, die im Kielraum eingesperrt waren. In den Nächten hörte ich ihn vor Angst schreien: »Allah, hilf uns, Allah!«

In der zweiten Nacht fanden wir ein wenig Erholung, weil der Kapitän mir und Hamid erlaubte, auf das Dach des Boots zu klettern. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet mich auswählte – vielleicht tat ich ihm leid, weil ich ein kleiner Junge und allein unterwegs war.

Das Boot schlingerte durch die hohen Wellen, doch oben auf dem Dach fühlte ich mich sicherer. Es war eine solche Erleichterung, die frische Luft zu atmen und die Arme und Beine ein wenig ausstrecken zu können, aber gleichzeitig war mir schrecklich bewusst, dass ich bei der kleinsten falschen Bewegung über Bord und in die Wogen stürzen würde. Ich konnte nicht schwimmen: Wenn ich ins Meer fiel, war ich tot. Ich nahm nicht an, dass mir jemand hinterherspringen würde, um mich zu retten.

Beim Anbruch des dritten Tages war unser Kapitän furchtbar nervös und brüllte dauernd auf Türkisch in sein Funkgerät. Vermutlich wusste er, dass wir es ohne Wasser nicht mehr lange machen würden.

Neben mir tuschelten zwei Passagiere, beide wie ich Afghanen, ob sie das Boot in ihre Gewalt bringen sollten.

»Komm, wir überwältigen und fesseln ihn«, flüsterte der eine.

Sein Freund schüttelte den Kopf. »Du spinnst. Wer soll uns denn dann nach Griechenland bringen?«

Der Zweite hatte recht.

Ob es uns gefiel oder nicht, wir waren dem Kapitän und dem Meer ausgeliefert.

Inzwischen war mir schwindelig vor Hunger und Durst, und ich hatte Halluzinationen. Mein Hals war so trocken, dass ich nicht mehr durch den Mund atmen konnte. Ich stellte mir vor, wie schön es in Griechenland sein würde – schon allein, dass ich mich waschen könnte und nicht mehr nach Pisse und Kotze stinken würde. Ich träumte von neuen Kleidern und davon, wie gut sie sich auf der sauberen Haut anfühlen würden.

Ich musste mich zu sehr auf das nackte Überleben konzentrieren, um allzu oft an meine Familie denken zu können, die ich zurückgelassen hatte. Die Erinnerung machte mich unsagbar traurig, vor allem der Gedanke an meinen dreizehnjährigen großen Bruder Hazrat. Mit ihm zusammen war ich aus Afghanistan geflohen, weil wir dort um unser Leben fürchten mussten, doch schon nach wenigen Tagen waren wir von den Schleppern auseinandergerissen worden.

Es gab mir Kraft, wenn ich mich an die Entschlossenheit meiner Mutter erinnerte und mir ihre Stimme vorstellte, mit der sie mir Mut zusprach: »Pass auf dich auf und komm nicht zurück.« Das waren ihre Abschiedsworte gewesen, damit hatte sie mich und meinen Bruder auf den Weg geschickt, um in der Fremde Zuflucht zu suchen. Das alles, um uns zu retten und vor Männern in Sicherheit zu bringen, die uns nach dem Leben trachteten.

Wie oft hatte ich mir gewünscht, sie hätte es nicht getan.

Irgendwann am Nachmittag des dritten Tages begann der Motor zu stottern und zu spucken, dann setzte er schließlich ganz aus. Eine Weile tat der Kapitän noch so, als wäre alles in Ordnung. Doch während er versuchte, den alten Dieselmotor wieder anzuwerfen, wurde er immer wütender. Schließlich brüllte er wieder in sein Funkgerät, diesmal in einer Sprache, die ich nicht erkannte.

Nach einer besonders hitzigen Diskussion bat er einen Passagier, der Türkisch sprach, für uns alle zu übersetzen.

»Sie schicken ein neues Boot. Keine Sorge.«

Der Kapitän lächelte in die Runde und zeigte seine fauligen Zähne, doch seine Augen verrieten die Wahrheit. Ich bekam große Angst. Nicht alle von uns würden überleben, so viel war mir klar. Ich spürte, wie der Zorn in mir hochkochte über all die schmierigen Lügen, die er uns mit solcher Leichtigkeit erzählt hatte.

Meine Ängste bestätigten sich, als das Wetter umschlug. Der Wind heulte furchterregend und peitschte die Wellen auf.

»Morya, Morya! Ich will meine Morya!« Ich schrie nach meiner Mutter im fernen Afghanistan. Ich war ein einsamer kleiner Junge, der bald in einem eisigen, fremden Meer seinen Tod finden sollte.

Als ich an Bord gegangen war, hatte ich zum ersten Mal im Leben das Meer gesehen. Bis dahin kannte ich es nur aus meinen Schulbüchern. Die Wirklichkeit übertraf meine wildesten Träume. In meinen Augen waren diese Wellen das Tor zur Hölle.

Ich schaffte es, ein wenig höher zu klettern, auf das Dach des Steuerhäuschens. Dort hatte ich Luft und Platz, aber nun wurde ich von jeder Welle hin- und hergeschleudert. Mit meinen kleinen Fingern klammerte ich mich an die Reling, bis meine Knöchel weiß und blutleer waren.

Nach einigen Stunden im Sturm leckte das Boot und begann, sich mit Wasser zu füllen. Die Männer schrien, und die Eingesperrten hämmerten verzweifelt mit Fäusten und Schuhen gegen die Tür.

»Wir ertrinken, lass uns raus! In Gottes Namen, lass uns raus! Wir werden sterben!«

Der Kapitän fuchtelte mit einer Pistole herum und schoss in die Luft, aber niemand schenkte ihm Beachtung. Es sah so aus, als müsste das Boot jeden Moment kentern.

Einen kurzen Moment lang war ich ruhig und ergab mich in mein Schicksal: »So wirst du also sterben, Gulwali.« Ich stellte mir in allen Einzelheiten vor, wie ich ertrinken würde, und spürte, wie sich das kalte Wasser über mir schloss. Vor meinen Augen blitzten Bilder aus der Vergangenheit auf:...

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