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E-Book

Autismus, genetisch betrachtet

Veränderungen der Gene als Ursache und Auslöser

AutorRolf Knippers
VerlagGeorg Thieme Verlag KG
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl248 Seiten
ISBN9783132208117
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der Genetik-Experte Prof. Dr. Rolf Knippers vermittelt in diesem Buch die genetischen Grundlagen des Autismus. Diese wissenschaftliche Arbeit ist bisher die einzige, die auch für Nichtfachleute leicht zugänglich ist. Sie erfahren vieles über die Geschichte der genetisch orientierten Autismusforschung. Dazu ihre wichtigsten Methoden und Ergebnisse sowie eine Darstellung und Beschreibung einiger Risiko-Gene. Auch der psychologische und medizinische Phänotyp des Autismus wird aufgegriffen. Die Entstehung des Autismus erscheint Ihnen nach der spannenden Lektüre in einem neuen Licht.

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Leseprobe

2 Bettelheims Irrtum und wie es dann weiterging


2.1 Bruno Bettelheim


Nachdem in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts Autismus als eigenständige und eigentümliche psycho-medizinische Besonderheit entdeckt worden war, war es nur allzu natürlich, nach den Ursachen zu fragen. Mehrere Jahre lang waren viele Psychologen und Psychiater davon überzeugt, dass Autismus in irgendeiner Form auf traumatisierende frühkindliche Erfahrungen zurückgehen musste. Es war der Zeitgeist, der solche Antworten nahelegte. Und der fand seinen Propheten in einem hoch geschätzten Pädagogen und selbst ernannten Psychologen, der viele Menschen mehr durch seine Persönlichkeit als durch wissenschaftliche Argumente überzeugte: Bruno Bettelheim, eine eindrucksvolle und facettenreiche Person.

Bruno Bettelheim wurde am 28. August 1903 in Wien geboren als erster Sohn und zweites Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie. Sein Vater war mit eigenen Sägewerken und eigenem Vertrieb an einem einträglichen Holzhandel beteiligt.

Bettelheim war ein kränkelndes Kind, oft mehrere Wochen hintereinander bettlägerig. Aber sein größtes Handicap waren eine extreme Kurzsichtigkeit und, wie er selbst fand, ein hässliches Äußeres. Er war ein ordentlicher Schüler, etwas verträumt und verlesen. Im Rückblick sagte er oft, seine Mutter hätte ihn vernachlässigt. Dafür gibt es keine unabhängigen Hinweise, aber es passt zu seinen psychologischen Theorien.

Bettelheim studierte nach Ende des Ersten Weltkrieges zunächst Literatur, dann Kunstgeschichte und schließlich Philosophie. Dieses Studium führte er zu Ende. Zudem besuchte er Seminare in Psychologie. Als er 23 Jahre alt war, starb sein Vater, und er musste das Geschäft übernehmen. Ihm gelang der Einstieg, da er neben dem Universitätsstudium eine Handelsschule besucht hatte. Auf diese Weise konnte er den Wohlstand für sich, seine Mutter und die ältere Schwester erhalten sowie Regina Altstadt heiraten.

Regina Altstadt war Kindergärtnerin. Über ihren Beruf hatte sie Agnes Piel Crane, eine reiche Amerikanerin, kennengelernt, die nach Wien gekommen war, um sich bei Sigmund Freud behandeln zu lassen. Wir erwähnen das, weil die Bekanntschaft zwischen Regina Bettelheim und Mrs. Crane in mehrfacher Hinsicht interessant für die weitere Geschichte ist. Zunächst: Mrs. Crane hatte eine Tochter Patricia, kurz Patsy genannt. Sie war ein extrem zurückgezogenes Kind, das in einer eigenen Welt lebte und nichts mit anderen Menschen zu tun haben wollte. Obwohl überaus schwierig im Umgang, fand Regina einen Zugang zu ihr und nahm sie sozusagen als Ziehtochter an.

Als Regina mit ihrem Schützling nach Amerika fuhr, um die Crane-Familie zu besuchen, begann Bruno Bettelheim eine Affäre mit Gertrude Weinfeld, einer Lehrerin an der Wiener Montessori-Schule. Sie hatte ein großes Interesse an Psychologie und war es wohl, die Bettelheim wieder an Psychologie und Psychoanalyse heranführte. In der Folge besuchte er psychologische Kurse und beendete seine Doktorarbeit in Philosophie, die den Titel Das Problem des Naturschönen und die moderne Ästhetik trug. Dafür erhielt er 1937 den Grad eines Doktors der Philosophie.

Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen 1938 brach die Wiener Welt der Bettelheims zusammen. Schon bald begann der Terror mit einer Orgie von Gewalt gegen Kommunisten und Monarchisten, Sozialdemokraten und Kleriker. Bekannte Juden wurden deportiert, unter ihnen Mitglieder der Bankiersfamilie Rothschild, und Otto Loewi, der zwei Jahre zuvor den Nobelpreis für die Entdeckung der Neurotransmitterstoffe erhalten hatte. Jüdische Geschäfte wurden systematisch geplündert. Regina konnte bald über Paris in die USA auswandern, Bruno jedoch blieb zurück. Er wollte sein Geschäft nicht aufgeben und Schwester und Mutter nicht allein lassen. Doch schon im Mai 1938 musste er das Geschäft weit unter Wert verkaufen. Er wurde mit Tausenden anderer jüdischer Männer zuerst nach Dachau und später nach Buchenwald verschleppt.

Die Konzentrationslager waren zu jener Zeit Orte der Erniedrigung, der Qualen und des Sadismus. Aber es waren noch nicht die Massenvernichtungslager mit Gaskammern und Krematorien der späteren Jahre. Damals konnte man sich in den Lagern das Wohlwollen der Wächter erkaufen, wenn man genügend Geld besaß beziehungsweise Geldsendungen erhielt. Dies war bei Bruno Bettelheim der Fall. Auch seine Kurzsichtigkeit kam ihm zugute: Für Arbeiten im Freien war er völlig ungeeignet und wurde deshalb für Schneider- und Flickarbeiten eingesetzt.

Im April 1939 wurde Bettelheim mit vielen weiteren Juden aus Buchenwald entlassen unter der Auflage, Deutschland und Österreich zu verlassen. Bettelheim erhielt nach intensiven Bemühungen ein Visum und konnte in die USA reisen. Dort brauchte er einige Wochen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Die Ehe mit seiner Frau Regina war zerrüttet, es kam zur Scheidung. Etwas später heiratete Bettelheim Gertrude Weinfeld, der eine abenteuerliche Flucht aus Österreich über Australien in die USA gelungen war.

2.2 Die ersten Jahre in Amerika


Nach wenigen Monaten fand Bettelheim eine Stelle als Lehrer für Deutsch und Kunst und war an mehreren Colleges tätig. Darauf folgte eine Berufung in ein Gremium zur Reform der Oberstufen, indem es seine Aufgabe war, den Literatur- und Kunstunterricht neu auszurichten.

In dieser Zeit verfasste Bettelheim einen 35-seitigen Artikel für das Journal of Abnormal and Social Psychology mit dem Titel „Das Verhalten des Menschen unter extremen Bedingungen“ (Individual and Mass Behavior in Extreme Situations), der 1943 erschien. Bettelheim bezog sich darin auf seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern und kam zu dem seinerzeit berühmten Schluss, dass Menschen unter entwürdigenden und quälenden Bedingungen in einen psychischen Zustand zurückfallen, der dem von Kindern oder frühen Jugendlichen entspräche. Der Aufsatz wurde viel gelesen und hoch gelobt und galt zunächst als einer der klassischen Texte der soziologischen und psychologischen Literatur. Heute sieht man das etwas anders, vor allem weil spätere Berichte und Forschungen die Schlussfolgerungen nicht bestätigen konnten. Auch kamen Zweifel auf, ob Bettelheim wirklich alles so erlebt hatte, wie er es schilderte.

Bettelheim hielt in jenen Jahren Vorträge und deutete dabei an, dass er in der psychologischen und psychoanalytischen Szene Wiens verkehrt hätte. Auch widersprach er nicht, wenn behauptet wurde, dass er nicht nur einen Doktor in Philosophie, sondern auch einen in Psychologie hätte. Niemand bezweifelte, dass sich dieser hart arbeitende und erfolgreiche Neuankömmling beträchtliche akademische Lorbeeren in Wien erworben hatte.

Bettelheim trat bald eine Stelle als Forschungsassistent an der Universität von Chicago an, später wurde ihm die Leitung eines Heims mit angeschlossener Schule (The Orthogenic School) für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche angeboten. Dies war verbunden mit einer Professur für Sozialpsychologie. Bettelheim organisierte das Heim neu und stellte junge Erzieherinnen und Hilfskräfte ein. Durch seine Persönlichkeit, sein pädagogisches Geschick und seine Überzeugungskraft verschaffte er Heim und Schule ein hohes Ansehen.

Neben der organisatorischen und erzieherischen Arbeit veröffentlichte Bettelheim in den ersten zehn Jahren seiner Tätigkeit an der Orthogenic School dreißig Artikel in Fachzeitschriften und zwei umfangreiche Bücher, die ein weites Lesepublikum fanden und Bettelheims Reputation weit über die engen Kreise der Kinder- und Jugendpsychologie hinaus begründeten: Love is Not Enough von 1950 und Truants from Life von 1955.

Ein Leitmotiv seiner Seelenlehre war die Überzeugung, dass es die Mutter sein muss, die Schuld an allen Schwierigkeiten des Lebens hat. Diese Idee war sicher beeinflusst durch die Freudsche...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Rolf Knippers: Autismus, genetisch betrachtet1
Innentitel4
Impressum5
Vorwort6
Danksagung9
Autorenvorstellung10
Die Pioniere14
Leo Kanner14
Kanners Erstbeschreibung des kindlichen Autismus16
Hans Asperger20
Literatur23
Bettelheims Irrtum und wie es dann weiterging24
Bruno Bettelheim24
Die ersten Jahre in Amerika27
Bettelheim und frühkindlicher Autismus29
Und heute?31
Literatur35
Autismus-Spektrum – Diagnosen, Häufigkeiten, Verläufe36
Sorgfältige Diagnosen36
Formalisierungen37
DSM-IV und DSM-538
Syndrome43
Das Spektrum43
Häufigkeiten45
Verläufe48
Literatur49
Erblichkeiten51
Zwillinge51
Konkordanz52
Wie sieht es beim Autismus aus?53
Familiärer Autismus56
Konsequenzen57
Literatur58
Schädigungen und Risikofaktoren59
Umwelt59
Impfstoff61
Infektionen62
Frühgeburten63
Risikofaktoren64
Ernährung und Stoffwechsel65
Mitochondrien67
Geschlechtsunterschiede68
Literatur70
Das autistische Gehirn72
Ein Blick ins Innere72
Kopfumfänge72
Und später im Leben?75
Das Kleinhirn77
Connectivity – Verbindungsmuster79
Spiegelneuronen83
Ausblick85
Literatur86
Frühe Erfolge bei der Suche nach den Genen87
Autismus und molekulare Genetik87
Glückliche Funde88
Andere Synapsenproteine94
Synaptopathie96
Autistische Mäuse99
Weitere Knockouts100
Nützliche Knockouts101
Nicht nur Synapsen-Gene103
Ausblick104
Literatur105
Rett-Syndrom und Autismus-Spektrum107
Was ist ein Syndrom?107
Der Namensgeber: Andreas Rett108
Verläufe109
Gene auf dem X-Chromosom109
Hintergründe111
Knockouts113
Was macht das Rett-Protein?117
Therapieversuche: induzierte pluripotente Stammzellen (iPSC)119
Fazit120
Literatur120
Das zerbrechliche X-Chromosom122
James Martin und Julia Bell122
Phänotyp124
Das Gen125
Modifizierende Gene127
Genotyp FMR1 und Phänotyp FXS127
Das FMR-Protein129
Spezielle mRNA-Arten131
Schlussfolgerungen und Ausblicke133
Literatur136
Autismus bei tuberöser Sklerose137
Tuberöse Sklerose137
Gene138
Der Zweierkomplex und die Synthese von Proteinen139
Knockout-Mäuse141
Schlussfolgerungen143
Literatur144
Ubiquitin, Angelman und Autismus-Spektrum145
Optimale Mengen145
Entdeckung und Vorkommen147
Die Funktion des UBE3A-Proteins149
Knockouts150
Fazit150
Literatur151
Genotyping: DNA-Chips und das Durchsuchen ganzer Genome152
Risikogene152
Genomweite Assoziationen154
Konsortien158
Ein erster Treffer: seltene Varianten eines einzelnen Gens160
Wechselnde Ergebnisse164
Noch mehr GWAS166
Grenzen der Methode167
Copy Number Variations168
Erblichkeit173
Fazit174
Literatur176
Genom, Exom und Epigenetik178
DNA-Sequenzierung in der Autismus-Forschung178
Familien179
Exom-Sequenzierungen180
Alter des Vaters182
Gene183
Welche Gene?184
Neu versus ererbt193
Promotor196
Epigenetik197
Methylierungen198
Verhaltensformen200
Epigenetik und Autismus-Spektrum203
Geschlechtshormone204
X-gekoppelte Vererbung205
Ausblick: das Sequenzieren ganzer Genome208
Literatur210
Bestandsaufnahme: molekulare Genetik des Autismus213
Komplexe Wechselwirkungen213
Wie viele Gene sind beteiligt?215
Erbgänge216
Welche Gene?219
Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten221
Wechselwirkungen223
Expression von Genen im Gehirn225
Diagnostische Hilfen227
Behandlungen und Medikamente228
Zusammenfassung232
Literatur234
Glossar genetischer Begriffe236
Weiterführende Literatur248

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