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Das Erfurter Programm

Vollständige Ausgabe

AutorKarl Kautsky
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl249 Seiten
ISBN9783849629038
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 kehrte Kautsky nach Deutschland zurück und lebte von 1890 bis 1897 in Stuttgart, wo Die Neue Zeit erschien. 1891 bereitete er zusammen mit August Bebel und Eduard Bernstein das Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) vor. Inhalt: Vorwort zur ersten Auflage Vorrede zur fünften Auflage I. Der Untergang des Kleinbetriebs II. Das Proletariat III. Die Kapitalistenklasse IV. Der Zukunftsstaat V. Der Klassenkampf

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Leseprobe

4. Die Prostitution

 

Hand in Hand mit dem Vorwurf der Auflösung der Familie geht der der Weibergemeinschaft, die wir angeblich anstreben. Dieser Vorwurf ist ebenso verlogen wie der andere. Wir behaupten vielmehr, daß gerade das Gegenteil jeder Weibergemeinschaft, jedes geschlechtlichen Zwanges und jeder Unzucht, nämlich die ideale Liebe, in einem sozialistischen Gemeinwesen der Grund aller ehelichen Verbindungen sein wird und daß diese Liebe erst in einem solchen zu allgemeiner Geltung gelangen kann. Was sehen wir dagegen heute? Die Widerstandslosigkeit der Frauen, die, bisher in ihren Haushaltungen eingeschlossen, von dem öffentlichen Leben und der Macht der Organisation meist nur dunkle Begriffe haben, ist so groß, daß der kapitalistische Unternehmer es wagen darf, ihnen dauernd Löhne zu zahlen, die zu ihrer Erhaltung nicht ausreichen, und sie für deren Ergänzung auf die Prostitution zu verweisen. Die Zunahme der industriellen Frauenarbeit zeigt überall die Tendenz, eine Zunahme der Prostitution nach sich zu ziehen. Es gibt im Staat der Gottesfurcht und frommen Sitte ganze „blühende“ Industriezweige, deren Arbeiterinnen so schlecht entlohnt sind, daß sie verhungern müßten, wenn sie sich nicht prostituierten. Und die Unternehmer erklären, gerade auf diesen niederen Löhnen beruhe die Konkurrenzfähigkeit, die „Blüte“ ihrer Industrie. Höhere Löhne würden sie zugrunde richten.

 

Die Prostitution ist so alt wie der Gegensatz zwischen arm und reich. Aber ehedem bildeten die Prostituierten ein Mittelding zwischen Bettlern und Gaunern, waren sie ein Luxus, den die Gesellschaft sich erlauben konnte, dessen Verlust aber keineswegs ihren Bestand gefährdet hätte. Heute sind es nicht bloß die Lumpenproletarierinnen, sondern auch die arbeitenden Frauen, die gezwungen sind, ihren Körper gegen Entgelt preiszugeben. Diese Preisgebung ist nicht mehr bloß eine Luxussache, sie ist eine der Grundlagen der Entwicklung der Industrie geworden. Unter der kapitalistischen Produktionsweise wird die Prostitution zu einer der Stützen der Gesellschaft. Was die Verteidiger dieser Gesellschaft uns vorwerfen, das betreiben sie selbst, die Weibergemeinschaft. Allerdings nur die Gemeinschaft mit den Weibern des Proletariats. Und so tiefe Wurzeln hat diese Art der Weibergemeinschaft in der heutigen Gesellschaft gefaßt, daß ihre Vertreter allgemein die Prostitution für eine Notwendigkeit erklären. Sie können sich nicht vorstellen, daß die Aufhebung des Proletariats die Aufhebung der Prostitution bedeutet, weil sie sich eine Gesellschaft ohne Weibergemeinschaft überhaupt nicht vorstellen können.

 

Die heutige Weibergemeinschaft ist eine Erfindung der höheren Gesellschaftsschichten, nicht des Proletariats. Diese Weibergemeinschaft ist eine der Arten der Ausbeutung des Proletariats. Sie ist nicht Sozialismus, sondern das Gegenteil davon.
 

 

5. Die industrielle Reservearmee

 

Die Einführung der Frauen- und Kinderarbeit in die Industrie ist, wie wir gesehen, eines der mächtigsten Mittel für die Kapitalisten, die Arbeitslöhne herabzudrücken.

 

Aber zeitweise wirkt ebenso mächtig ein anderes Mittel: die Zufuhr von Arbeitern aus zurückgebliebenen Gegenden, wo die Bevölkerung noch geringe Bedürfnisse, dafür aber eine durch das Fabrikwesen noch nicht gebrochene Arbeitskraft besitzt. Die Entwicklung des Großbetriebs, namentlich des Maschinenwesens, schafft nicht nur die Möglichkeit, diese ungeschulten Arbeiter anstelle geschulter zu verwenden, sie schafft auch die Möglichkeit, sie billig und rasch herbeizuschaffen. Hand in Hand mit der Entwicklung der Produktion geht die Entwicklung des Verkehrswesens; der Massenproduktion entspricht der Massentransport, nicht bloß von Waren, sondern auch von Personen. Dampfschiffe und Eisenbahnen, diese gepriesenen Träger der Kultur, bringen nicht bloß Gewehre, Schnaps und Syphilis zu den Barbaren, sie bringen auch die Barbaren zu uns und mit ihnen die Barbarei. Der Zuzug der Landarbeiter in die Städte wird nun ein immer stärkerer. Und von immer weiter her ziehen die bedürfnislosen, ausdauernden und widerstandslosen Scharen herbei. Slawen, Schweden und Italiener kommen als Lohndrücker nach Deutschland; Deutsche, Belgier, Italiener nach Frankreich; Slawen, Deutsche, Italiener, Irländer, Schweden nach England und den Vereinigten Staaten; Chinesen nach Amerika und Australien, vielleicht in nicht allzu ferner Zeit auch nach Europa. Auf deutschen Schiffen nehmen bereits Chinesen und Neger die Stelle von weißen Arbeitern ein.

 

Diese fremden Arbeiter sind zum Teil Expropriierte, Kleinbauern und Kleinbürger, welche die kapitalistische Produktionsweise ruiniert, von Haus und Hof verjagt hat und denen sie nicht nur ihr Heim nimmt, sondern auch ihre Heimat. Man sehe sich die zahllosen Auswandererscharen an und frage sich, ob es die Sozialdemokratie ist, welche sie vaterlandslos macht, welche die Vaterlandslosigkeit züchtet.

 

Durch die Expropriierung von Kleinbauern und Kleinbürgern, durch die Herbeischaffung von Arbeitermassen aus fernen Ländern, durch die Entwicklung der Frauen- und Kinderarbeit, durch die Verkürzung der Lehrzeit, die eine bloße Anlernzeit wird, gelingt es der kapitalistischen Produktionsweise, die Zahl der Arbeitskräfte, die ihr zur Verfügung stehen, ungeheuer zu vermehren. Und Hand in Hand damit geht eine stetige Zunahme der Produktivität der menschlichen Arbeit infolge des ununterbrochenen Fortgangs technischer Verbesserungen und Vervollkommnungen. Und nicht genug damit steigert die kapitalistische Ausbeutung auch die Ausnützung der einzelnen Arbeitskraft aufs äußerste, teils durch Ausdehnung der Arbeitszeit, teils auch, namentlich dort, wo die Gesetzgebung oder Arbeiterorganisationen ersteres untunlich machen, durch größere Anspannung des Arbeiters.

 

Und gleichzeitig wirkt die Maschine dahin, Arbeitskräfte überflüssig zu machen. Jede Maschine erspart Arbeitskraft – wenn sie das nicht täte, wäre sie ja zwecklos. In jedem Industriezweig ist der Übergang von der Handarbeit zur Maschinenarbeit mit den größten Leiden der betroffenen Handarbeiter verknüpft, die, seien es nun Handwerker oder Manufakturarbeiter, überflüssig gemacht und aufs Pflaster gesetzt werden. Diese Wirkung der Maschine war es, welche die Arbeiter zuerst empfanden. Zahlreiche Aufstände in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts zeugten davon, welche Summen von Leiden der Übergang zur Maschinenarbeit über die Handarbeiter verhängte, welche Empörung und Verzweiflung sie mit sich brachte. Die Einführung des Maschinenwesens sowie jede folgende Verbesserung desselben ist für einzelne Arbeiter schichten stets verderblich: Freilich können unter Umständen andere Arbeiterschichten – z. B. die in der Maschinenfabrikation Beschäftigten – dadurch gewinnen. Aber wir glauben nicht, daß dies Bewußtsein die Verhungernden sehr trösten wird.

 

Eine jede neue Maschine bewirkt, daß infolge ihrer Einführung ebensoviel wie früher bei geringerer Arbeiteranzahl oder, bei gleicher Arbeiteranzahl, mehr als früher erzeugt wird. Soll also die Zahl der in einem Lande beschäftigten Arbeiter unter dem Einfluß der fortschreitenden Entwicklung des Maschinenwesens nicht abnehmen, dann muß der Markt sich in demselben Verhältnis erweitern, in dem die Produktivkraft der Arbeiter wächst. Da aber die ökonomische Entwicklung gleichzeitig die Arbeitsleistung der Arbeiter erhöht und die Menge der verfügbaren Arbeitskräfte rasch steigert – und zwar viel rascher, als die Gesamtbevölkerung zunimmt –, so muß, soll nicht Arbeitslosigkeit eintreten, der Markt sich noch viel rascher erweitern, als der Vermehrung der Produktivkraft der Arbeiter durch die Maschine entspricht.

 

Eine so rasche Ausdehnung des Marktes hat unter der Herrschaft der kapitalistischen Großindustrie kaum jemals, sicher nie für einen auch nur einigermaßen erheblichen Zeitraum auf einem größeren Gebiet der kapitalistischen Industrie stattgefunden. Die Arbeitslosigkeit ist also eine ständige Erscheinung der kapitalistischen Großindustrie, die mit ihr untrennbar verknüpft ist. Auch in den besten Zeiten, wenn der Markt plötzlich eine bedeutende Erweiterung erfährt und die Geschäfte am flottesten gehen, ist die Industrie nicht imstande, alle Arbeitslosen in Tätigkeit zu setzen; in schlechten Zeiten, während einer Geschäftsstockung, wächst deren Zahl ins riesenhafte an. Sie bilden eine ganze Armee – die industrielle Reservearmee, wie Marx sie genannt hat, denn sie bilden eine Armee von Arbeitskräften, die dem Kapital stets zur Verfügung steht, aus der es stets Reserven heranziehen kann, wenn die industrielle Kampagne anfängt, hitzig zu werden.

 

Für den Kapitalisten ist diese Reservearmee unschätzbar. Sie bildet für ihn eine wichtige Waffe, um die Armee der Arbeitenden im Zaum zu halten und sie fügsam zu machen. Nachdem die Überarbeit der einen die Arbeitslosigkeit der anderen hervorgerufen, wird die Arbeitslosigkeit dieser ein Mittel zur Erhaltung und Steigerung der Überarbeit jener. Und da sage man, in dieser Welt sei nicht alles aufs beste...

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