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Die Immunität der Literatur

AutorJohannes Türk
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783104010601
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Literatur als Strategie der Immunisierung Immunität ist in den letzten Jahren zu einem Leitbegriff geworden - Johannes Türk nimmt ihn auf und macht ihn für die Literatur- und Kulturwissenschaft fruchtbar: Literatur und Immunität hängen eng zusammen, so seine These, ja man kann sogar behaupten, dass Literatur den Menschen immun macht gegenüber den Zumutungen des Lebens - so deutet Türk z.B. die Funktion der Tragödie bei Aristoteles und Schiller ebenso wie die Form des Bildungsromans. Das Buch folgt der Entdeckungsgeschichte der medizinischen Immunität seit der Antike und verbindet sie mit den literarischen Aneignungen von Immunität etwa bei Goethe, Thomas Mann, Proust und Freud. Türk erkennt Immunität dabei als ein zentrales Paradigma der Kulturwissenschaft und kann in seinen überraschenden Interpretationen zeigen, welche Impulse von dieser neuen Betrachtungsweise ausgehen können.

Johannes Türk, geb.1972, studierte Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Paris und Yale. Zur Zeit arbeitet er als Assistant Professor für Germanic Studies an der Indiana University in Bloomington, USA.

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Leseprobe

Einleitung


Am 14. Mai 1796 entfernt der englische Arzt Edward Jenner Material von einer Pustel an der Hand der an Kuhpocken erkrankten Melkerin Sarah Nelms und impft damit den gesunden acht Jahre alten Jungen James Philipps. An der Stelle der Impfung bildet sich eine Pustel, die wieder verschwindet. Daraufhin impft er den Jungen am 1. Juli mit den menschlichen Pocken, ohne daß eine Erkrankung erfolgt. Die auffällig lange, schmale Hand der Melkerin, deren tägliche Arbeit sie durch die Euter in Berührung mit den Kuhpocken bringt, weist auf der Zeichnung Jenners die Merkmale einer Krankheit auf, die für den Menschen unschädlich verläuft, nach ihrem Abklingen aber bleibende Immunität gegen die entstellenden und häufig tödlichen Pocken hinterläßt. Noch Krankheitszeichen, deutet sich in ihnen schon der Schutz an, den sie nach ihrem Vernarben hinterlassen.

Die Hände einer Frau, deren Gesicht unbekannt geblieben ist, sind Ausgangspunkt für eine Entdeckung, die am Ende des 18. Jahrhunderts eine Revolution der Medizin zu ihrem Abschluß bringt: Die medizinische Prophylaxe, die in Europa mit der gefährlicheren Variolisation Anfang des Jahrhunderts begonnen hat – bei ihr wird eine milde Form der menschlichen Pocken verimpft –, wird durch die Ersetzung mit den Kuhpocken in der Vakzination ungefährlich. Das neue Verfahren der Inokulation,[1] so die These dieses Buches, wird zum Modell für die Umgestaltung diverser Kulturtechniken. Die medizinische Praxis, die schützt, ohne die vollen Risiken des Ernstfalls zu bergen, dient der Literatur des 18. Jahrhunderts dazu, Erfahrungen zu artikulieren, die auf Lebenskrisen vorbereiten. Dem Übel, das einem widerfahren ist, selbst der traumatischen Erfahrung, kann so Sinn abgewonnen werden, und für Ereignisse, die selten sind, wird die Imagination zu einem Ort, an dem das künstliche Unglück das wirkliche vorwegnimmt. Ähnlich wie bei der Pockenimpfung werden Zumutungen bewältigt, indem man sie heraufbeschwört.

 

Die Impfung ist nur der Scheitelpunkt einer langen Geschichte, die Immunität und Literatur thematisch miteinander verbindet. Die folgende Arbeit zieht die Linie dieser Geschichte durch exemplarische Punkte: Sie beginnt im fünften Jahrhundert vor Christus mit einer Beobachtung des griechischen Historikers Thukydides. Seine Geschichte des Peloponnesischen Krieges hält ein Ereignis fest, das als die erste schriftliche Beobachtung erworbener Immunität gilt:

Am meisten hatten immer noch die Geretteten Mitleid mit den Sterbenden und Leidenden, weil sie alles vorauswußten und selbst nichts mehr zu fürchten hatten; denn zweimal packte es denselben nicht, wenigstens nicht tödlich. Diese wurden glücklich gepriesen von den anderen und hatten auch selbst seit der Überfreude dieses Tages eine hoffnungsvolle Leichtigkeit für alle Zukunft, als könne sie keine andere Krankheit mehr umbringen.[2]

Lange bevor das Interesse der Medizin an Immunität als Resistenz gegen Infektionskrankheiten erwacht, wird sie in literarischen Texten thematisch. Deren Interesse richtet sich auf eine Erfahrung, deren politische und psychologische Relevanz kaum überschätzt werden kann. Erworbene Immunität wahrt die Integrität des Körpers während einer Epidemie und stellt von einem kollektiven Schicksal frei. Sie beruht auf einer Erfahrung, die ihre Wirkung in der Zukunft entfaltet, indem sie den Körper gegen eine bestimmte Krankheit verschließt. Diese ist gleichsam schon durchgearbeitet worden und hinterläßt – im Wortsinn oder übertragen – eine Narbe, in der sich die Geschichte des Körpers manifestiert. Neben der natürlichen Immunisierung durch eine Infektion kennen literarische Texte auch die Immunität gegen Schlangengift und andere Gifte sowie mannigfaltige Vorläufer der Impfung – von der Mithridatisation, der nach dem mythischen König von Pontos benannten Giftgewöhnung, über die Kauterisierung, der schützenden Zerstörung von Gewebe durch Brenn- oder Ätzmittel, bis hin zur Abhärtung. Es sind dies Praktiken, die seit dem 19. Jahrhundert als Atavismen wahrgenommen werden, sich zu ihrer Zeit aber innerhalb des Rahmens der zeitgenössischen Medizin bewegten.

Im 18. Jahrhundert, der Zeit, die den Scheitelpunkt dieser Geschichte bildet, wird die Medizin zu dem Ort, an dem das Wissen und die Praxis der Immunisierung sich artikulieren. Die Breite der Auseinandersetzungen um die Impfung deutet an, daß es in ihr um eine kulturelle Umwälzung größeren Maßstabs geht, durch die es möglich wird, einer Krankheit durch die gezielte Infektion zuvorzukommen. In der Impfung kündigt sich die neue Kulturtechnik der Vorwegnahme an, die in Immunisierung mündet. Dies hat Konsequenzen für den Begriff der Erfahrung: Wir erfahren, um gegen den Stimulus der Erfahrung geschützt zu sein. Auch der medizinische Begriff der Krise erhält in diesem Zusammenhang eine kulturelle Dimension. Goethe überträgt ihn von der Pockenimpfung auf neu konzipierte Entwicklungsvorgänge. Diese lassen sich als Versuch beschreiben, die Krise – analog zur Medizin verstanden als Zeitraum, in dem sich der Verlauf einer fiebrigen Krankheit, hervorgerufen durch unassimilierte Elemente, in einer intensiven Auseinandersetzung entscheidet – aus einem passiven Leiden zu einer aktiven Erfahrung zu gestalten.

Seit dem 18. Jahrhundert ist medizinische Immunität ein Paradigma, das Wissensbestände in anderen Bereichen formt. So wird etwa auch die Inokulation von Friedrich Schiller zur Beschreibung der Tragödienwirkung verwendet und diese in Analogie zu jener konzipiert. Was mit einem metaphorischen Transfer einhergeht – Diskurse sind Schauplatz tropologischer Austauschprozesse –, ist die Erschließung einer ähnlichen Struktur in einem anderen diskursiven Bereich. Paradigma ist daher nicht mit Kuhn als historischer Argumentationsrahmen einer Wissenschaft zu verstehen, für den »anerkannte wissenschaftliche Leistungen […] maßgebende Probleme und Lösungen liefern«,[3] sondern als Regularität, in der unterschiedliche diskursive Räume korrespondieren.

Erst im 19. Jahrhundert etabliert sich ein systematisches Wissen von der biomedizinischen Immunität, das zunächst in einer doppelten Gestalt auftritt: Die medizinische Geographie definiert Immunität als Qualität eines Ortes, während die Immunologie nach ihren vitalistischen Anfängen körperliche Resistenz zellulär und chemisch bestimmt. Die entlang der Differenzierungen ihres Wissens entstehende Literatur der Moderne hat ein ungleich filigraneres und idiosynchratischeres Verhältnis zur Wissensgeschichte. Dabei kann es sich wie im Fall Marcel Prousts um ein biographisch motiviertes Interesse an allergischen Reaktionsformen handeln, die zu poetologischen Faktoren werden. Oder um einen Roman, der wie Thomas Manns Der Zauberberg die Einführung in eine Realität zum Gegenstand hat, die eine Realität des Wissens ist und seinen Protagonisten zu einer Veränderung seines Körper-Ichs zwingt.

 

Literarische Texte – daher der Titel dieses Buches, Die Immunität der Literatur – interessieren sich nicht nur thematisch für Immunität.[4] Vielmehr stellt die immunologische Thematik einen privilegierten Ort dar, an dem Literatur über sich selbst nachdenkt. Es gibt also eine Immunität, die der Literatur eigen ist und die sich in der immunologischen Thematik der Texte reflektiert. Daher geht es der Argumentationslinie dieses Buches weniger um exemplarische Querschnitte als vielmehr um systematische Etappen einer Erkundung des literarischen Wissens um Immunität. Schon Thukydides entwickelt aus der Struktur der Immunisierung, die er während der Epidemie beschreibt, eine Heuristik und eine Pädagogik des historischen Textes, dessen Aufgabe darin gesehen wird, Erfahrung aufzuzeichnen, um auf zukünftige Gefahren durch die Charakterisierung des Überstandenen vorzubereiten. Die Immunisierung setzt eine genaue Kenntnis dessen voraus, wovor sie schützt, und das Versagen des ärztlichen Wissens während der Epidemie ist deshalb so gravierend, weil sich die Krankheit der Kenntnis widersetzt. Ein Widerstand, der den Schreibprozeß als Irritation motiviert.

Im 18. Jahrhundert erscheinen diese reflexiven Einfaltungen literarischer Texte – die in Metaphern, Motiven, thematischen Reihen oder Reflexionen lokalisiert werden können – zunächst als Inokulation. Am deutlichsten ist dies im Fall Schillers, der das Pathetische der Tragödie als »Inokulation des unvermeidlichen Schicksals« beschreibt. Die Immunisierung durch den tragischen Affekt kennzeichnet ihm zufolge Wirkung – der Zuschauer wird immunisiert – und Struktur – das Pathetische ist das Ergebnis der Tragödienarchitektur, die eine affektive Beziehung zwischen Bühnenfigur und Zuschauer herstellt – einer literarischen Gattung. Es handelt sich nicht um eine Trope zur Kennzeichnung wirkungsästhetischer Theoreme, sondern vielmehr um eine Erfahrung, die keinen anderen Namen als denjenigen der Impfung zur Beschreibung ihrer Struktur hat.

In anderen Fällen reflektiert eine thematische Sequenz programmatische Bestimmungen des Romans, die einen geschichtsphilosophischen Hintergrund haben: so im Fall Jean-Jacques Rousseaus. In seinem Préface de la Nouvelle Héloïse: ou entretien sur les Romans rechtfertigt er das Verfassen von Romanen – obwohl er sie für...

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