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E-Book

Einfach losgehen

Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen

AutorBertram Weisshaar
VerlagEichborn AG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl253 Seiten
ISBN9783732560493
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR

Bertram Weisshaar verführt uns mit seinem Buch zum Wandern. 'Eine Wanderung an der eigenen Haustüre zu beginnen, scheint mir sehr naheliegend, wortwörtlich das Nächstliegende. Das Überraschende dabei ist: Schon nach wenigen Minuten verändert sich etwas. Jeder Schritt hier, alles ist mir doch so vertraut, unmittelbares Wohnumfeld, und doch ist es ein bisschen so, als wäre es mir nun ein wenig fremd, als wäre ich schon nicht mehr von hier.'

Der Promenadologe Weisshaar beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Gehen. Er spürt nach, wie sich unsere Wahrnehmung verändert, wie wir den Raum sozusagen begreifen können und warum Spaziergänge so wichtig für uns sind.



Bertram Weisshaar arbeitet seit den Neunzigerjahren freiberuflich als Spaziergangsforscher. Ausgebildet als Fotograf und Landschaftsplaner nahm er schon viele Menschen mit auf von ihm hierzu gestaltete Spaziergänge oder auch mehrtägige Wanderungen. Stets suchen dabei seine "Gedankengänge" den ungewöhnlichen Blick und überraschende Perspektiven.

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Leseprobe

Zielloses Interesse


Ich durchquere das Land bei dieser Tour bis zu einem gewissen Grad mit einer Absicht, aber auch ein Stück weit einfach aufs Geratewohl. Dabei sammeln sich allerlei Erfahrungen an. Wobei Erfahrung an dieser Stelle und heutzutage recht eigenartig klingt, sind es doch eher Ergehungen. Doch dieses Wort gibt es (noch) nicht im deutschen Wortschatz. Hingegen ist das Wort Erfahrung ein sehr altes. Es geht zurück auf das mittelhochdeutsche ervarunge, das auch die Bedeutung hatte von Durchwanderung oder Erforschung. »Ein kluger Mensch wird heute noch als bewandert bezeichnet, ein Ausdruck, der sich ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen läßt und ›aus eigener Erfahrung kennend‹, eigentlich ›vielgereist‹ meint.«1

Bei meiner »Durchwanderung« begegne ich zahlreichen kleinen Fremdheiten, die dann oft etwas Amüsantes an sich haben. So bemerke ich einen kaum fünf Meter hoch aufgeschütteten Erdhügel, der mit einer überdachten Raststation markiert ist als die »Kiritzscher Höhe«. Mitten im Nirgendwo stoße ich auf Mitarbeiter eines Ausgrabungsprojekts, die nach Spuren einer Siedlung aus vergangenen Jahrhunderten suchen, doch mir keinerlei Fragen beantworten wollen, weil im Heute an diesem Ort niemand sein dürfte. Auf einer völlig vegetationsfreien, weiten Ackerfläche zieht ein Bagger ewig lange, breite Furchen, und Männer mit Detektoren folgen ihm auf der Suche nach alter Munition. Dabei ist es heiß und staubig – ein Hauch von Texas weht über die ausgeräumte Fläche. Der Bagger kommt in einer riesigen Staubwolke auf mich zugefahren, der Baggerfahrer ermahnt mich, ich dürfte keine Holzpflöcke stehlen. Später hupt er mir hinterher und korrigiert gestikulierend meine Laufrichtung nach dem Ort Pödelwitz. Dann, ich weiß beim besten Willen nicht, wie sich das zugetragen hat, passiere ich das zentrale Einfahrtstor des Bergbaubetriebs – allerdings von der Innenseite. Die Dame an der Pforte hat einige Minuten lang damit ein deutliches Problem und mit mir eine angeregte Diskussion, bis ich dann letztlich doch das Betriebsgelände verlassen darf und meines Weges ziehen kann. Ihre letzten Worte waren, was ich denn in Pödelwitz wolle, da sei doch sowieso nix mehr.

Dort allerdings treffe ich zum ersten Mal am heutigen Tag auf einen Menschen, mit dem ich wirklich verständlich sprechen kann. Er und noch 33 weitere Einwohner sind in diesem Dorf geblieben, von einstmals 130 Einwohnern. Die Bergbaugesellschaft betreibt die Planung zur »Überbaggerung« des Ortes. Etwa vier Fünftel der Grundstücke hat der Betrieb bereits aufgekauft. Doch die verbliebenen Einwohner sehen mit erstaunlich gelassener Zuversicht den Gerichtsprozessen entgegen und erhalten einstweilen ihre Häuser und Grundstücke in tadellosem Zustand. Es ist schon recht merkwürdig, ausgerechnet in diesem Ort fühle ich mich heute am wenigsten fremd.

Wenn ich ansonsten mit Menschen zufällig ins Gespräch komme und erzähle, dass ich für mehrere Tage zu Fuß unterwegs bin, erstaunt das die meisten: »Zu Fuß? Das ist stark!« Auch scheinen sie sich zu freuen, dass es das überhaupt noch gibt. Außerhalb von ausgesprochenen Wandergebieten scheint diese Spezies fast ausgestorben. Man erkennt es auch an dem beinahe entsetzten Staunen in den Blicken einiger Autofahrer, wenn auf einer kleinen Straße ein Wanderer auftaucht. Oder frage ich einmal einen Autofahrer nach dem Weg, erhalte ich als Antwort: »Was, das alles wollen Sie gehen?«

Die Vorstellung, einfach loszugehen, ohne ein festes Ziel zu haben, ohne geplante Route, übte schon lange eine Sehnsucht auf mich aus: sich ganz auf die unterwegs auftauchenden Begegnungen und Beobachtungen einlassen, um dann dahin zu gehen, wo der aus den Zufällen entstehende Impuls gerade hinlenkt. (Und so hat sich auch mein Weg zu dem Dorf Pödelwitz erst durch ein Gespräch unterwegs ergeben.) Dieses Wandern ist wohl nur allein, als Einzelgänger möglich. Frei nach Seneca könnte man sagen: »Insofern ist der Wanderer sich selbst genug; nicht, daß er ohne Freund sein will, sondern daß er es kann.«

Es gibt natürlich auch viele gute Gründe, sich ein klares Wanderziel vorzunehmen oder einer berühmten Route zu folgen. Das vorgegebene Ziel kann einem Durchhaltevermögen und Motivation verleihen, um vielleicht noch ein Stück weiterzugehen, um die vorgenommene Tagesetappe wirklich durchzuhalten. Jede Form des Wanderns hat für mich jedenfalls ihre Vorzüge. Wie sehr einem ein gestecktes Ziel helfen kann, wird ganz besonders deutlich beim ziellosen Durch-das-Land-Streichen. Die Sinnfrage kann dabei schon mal bohrend werden. »Warum jetzt noch weitergehen?« Ich habe mich dies schon oft fragen lassen müssen – von mir selbst.

Für das ziellose Wandern ist es beinahe unabdingbar, gänzlich ohne Erwartungen zu gehen. Dieses Wandern ist eine Haltung, eine bestimmte Einstellung, ein offenes, zielloses Interesse. In diesem Modus des Gehens spielt es keine Rolle, ob Aussichtspunkte oder andere Besonderheiten am Wege liegen. Denn in jeder Minute des Voranschreitens wird die Welt erlebt – eben so, wie sie ist. Das ist viel.

Diese Art des Gehens ist insofern eine gute Übung, da unsere Kultur durchtränkt ist von der Jagd nach dem Besonderen und dem Spektakel. Die in unserem Kulturkreis allgegenwärtige Praxis des Fotografierens hat daran einen Anteil: Sie ist die beständige Übung darin, aus der Fülle der Welt eben das Besondere »auszuschneiden«, diese Fülle auf einen fotografischen Bildausschnitt einzugrenzen. Was danebenliegt, was nicht viel sagt, wird weggeschnitten, nicht erinnert, nicht berichtet. Das Dazwischen, was zwischen den Bildausschnitten lag, gibt es dann zuletzt gar nicht mehr in der bewusst wahrgenommenen, erinnerten Welt. Überspitzt ausgedrückt: Erlebt wurde nur, was es wert war, in einem Foto festgehalten zu werden – obwohl das Dazwischen im Leben prozentual einen weit größeren Anteil ausfüllt. Die Redaktionen der Presse- und Fernsehnachrichten wirken in die gleiche Richtung: Die eben aufgetauchte, noch mehr Aufsehen erregende Meldung verdrängt die zuvor gesehene Nachricht, als hätte das, was darin zur Sprache kam, nie stattgefunden.

Das ziellose Gehen ist eine Haltung jenseits der redigierten Welterfahrung. Das Leise, das Langweilige, das vermeintlich Nichts-Sagende, auch das Unverständliche – all dies taucht ungleich seltener auf in Fotos und Medienberichten, es begegnet uns aber ständig, während wir gehen. Und in seiner Fülle und durch dessen schlichte Existenz sagt es uns sehr wohl etwas, auch wenn darüber im Einzelnen jeweils nicht viel zu sagen ist. Hierbei sind wir dann selbst Redakteur, entscheiden wieder selbst, wovon wir unsere Aufmerksamkeit einfangen lassen, ohne Ranking, ohne Hasten nach Sensationen. Wir können diese Übung sehr gut gebrauchen, um den medial vermittelten, stets schon bewerteten Nachrichten und Informationen noch unsere eigene, ganz unmittelbare Welterfahrung anbeizustellen.

Es gibt bei diesem ziellosen Wandern allerdings auch Umstände, die den Wandergenuss eventuell schmälern. So kann es leicht sein, dass die sich anbietenden Wege häufig asphaltiert sind, auf welchen es auf Dauer anstrengender und ermüdender zu gehen ist als auf naturbelassenen oder wassergebundenen Wegen. Andererseits unternehmen Wanderer aber auch gerne Städtereisen, und dabei würde niemand die Anforderung stellen, dass die Fußwege in der Stadt naturbelassene Pfade sein müssten. Es zu nehmen, wie es kommt, ist die Regel beim umherschweifenden Wandern.

Indessen gibt es noch eine weitere Sache, durch welche die Freude am Wandern beeinflusst wird. Ist es doch so, als ob durch das Gehen über längere Zeit die Haut dünner würde, als ob man viel empfänglicher würde für die Eindrücke, die Gerüche, das Licht, die Töne, die Atmosphären. Als hätte man ein Fenster weit geöffnet und der leiseste Luftzug könnte nunmehr ungehindert eintreten. So kommt es vor, dass ich unvermittelt kurz stehen bleiben muss, um etwa einen alten Baum zu betrachten, und dabei seine weit ausladenden Äste mit den Augen entlangwandere. Oder die Finger streichen im Vorbeigehen über einige Blätter am Wegesrand. Oder ein Geräusch lässt mich aufhorchen, und einem daraus entstehenden Impuls folgend, bleibe ich urplötzlich stehen. Diesen Grad der Aufmerksamkeit behält man gleichwohl nicht über den ganzen Tag hinweg.

Es gibt wache und weniger wache Phasen. Aber je weiter man wandert, desto länger werden die Phasen der hellen Aufmerksamkeit, als würde man diese trainieren und mehr und mehr zurückgewinnen. Dabei ist es dann aber so, dass alle Eindrücke ungehindert durch das offene Fenster einfallen – auch die Kehrseiten der zivilisatorischen Errungenschaften werden umso deutlicher erlebt. Der Lärm einer verkehrsreichen Straße, die triste Atmosphäre eines anspruchslosen Discountmarktes, ein besonders geschmacklos gestalteter Vorgarten und dergleichen sehr vieles mehr – all jenes, woran man sich schon lange gewöhnt hatte, was man als normal hinzunehmen eingeübt hatte, all diese Dinge brechen nun ebenso wieder ein in das deutliche Erleben. Die Welt dringt in einen ein, gerade so, als wäre ein Filter unwirksam geworden, der ansonsten unsere Wahrnehmung beeinflusst.

Diesen Filter hat bereits Francesco Petrarca beschrieben – im Jahr 1356: »Wenn mich die Notwendigkeit zwingt, in der Stadt zu sein, habe ich gelernt, mir inmitten des Volkes Einsamkeit zu schaffen mit einem Kunstmittel, das nicht allen bekannt ist: Ich beherrsche meine Sinne so, dass sie nicht wahrnehmen, was sie wahrnehmen.«2 Vermutlich noch weit mehr als im Jahr 1356 zwingen die heutigen Städte unsere Sinne dazu, nicht...

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