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E-Book

Grundlagen und Praxis der Soziotherapie

Richtlinien, Begutachtung, Behandlungskonzepte, Fallbeispiele, Antragsformulare

AutorRalf-Michael Frieboes
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2005
Seitenanzahl136 Seiten
ISBN9783170272781
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Unter Mitarbeit von Sybille Schreckling und Petra Godel-Ehrhardt Soziotherapie soll gemäß § 37a SGB V schwer psychisch Kranken die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen ermöglichen. Sie soll durch Motivation und strukturiertes Training helfen, psychosoziale Defizite abzubauen und die Patienten in die Lage versetzen, die erforderliche Behandlung anzunehmen. Obwohl soziotherapeutische Maßnahmen seit 2002 zum Leistungskatalog der Krankenkassen gehören, besteht bei Psychiatern, Sozialtherapeuten, Psychiatriepflegekräften und gesetzlichen Betreuern ein großer Informationsbedarf. Die Autoren geben mit diesem Buch einen anschaulichen Einblick in Grundlagen und Anwendung der Soziotherapie.

Dr. med. Ralf-Michael Frieboes, als ehemaliger Leiter des Kompetenz-Centrums Psychiatrie/Psychotherapie der Gemeinschaft der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) an der Formulierung der Soziotherapie-Begutachtungsrichtlinien maßgeblich beteiligt, ist Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätspoliklinik des Inselspitals in Bern. Dr. med. Sybille Schreckling, stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbandes Deutscher Psychiater, führt eine eigene Praxis in Hürth. Petra Godel-Ehrhardt ist dort als Mitarbeiterin tätig.

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Leseprobe

1.2 Die Verwendung des Begriffs Soziotherapie vor der Definition in § 37a SGB V – sozialwissenschaftlicher und medizinischer Ansatz


Eine computergestützte Literaturrecherche ergibt, dass es sich bei der Soziotherapie (also nicht der ambulanten Soziotherapie nach § 37a SGB V!) um eine ausschließlich in deutschsprachigen Ländern eingesetzte Therapieform handelt. Lediglich eine Arbeit eines deutschsprachigen Autors vergleicht unter dem Stichwort »Sozialtherapie« ein US-amerikanisches Modell Psychosozialer Rehabilitation mit deutschen Übergangseinrichtungen (Schroeter 1990), fünf Autoren sind Österreich, sieben der Schweiz, 35 Deutschland zuzurechnen. Der Literatursuche (Stand März 2001) lagen die Datenbanken Medline, Embase, SOMED, PSYC, SOLIS, PSYCINFO zugrunde, zur Suchstrategie wurden eingesetzt: Soziother*, sociother* (Freitext, Titel); CT D Sociotherapy/Sozialtherapie + Psychiatrie/Psychiatrische-Patienten/ Mental-Disorders/ Psychosis. 48 Literaturangaben wurden als auswertbar identifiziert.

Es liegen eine Anzahl von Arbeiten sowohl zu methodischen Aspekten der Soziotherapie, etwa als stationärem (n=6) oder ambulantem Therapieverfahren (n=2), als Terminus der Sozialwissenschaften (n=11) und als Ausdruck von Milieutherapie (n=4) als auch zu Fragen der Indikation, zur Behandlung von Schizophrenie (n=13), Depression (n=3), Suchterkrankungen (n=5) und geriatrischen Erkrankungen (n=4) vor. Diese Einteilung ist willkürlich, und es treten Überschneidungen auf. Erkennbar ist jedoch, dass sich die meisten Arbeiten mit der einer »Sozialtherapie« vergleichbaren Therapie als sozialwissenschaftlichem Terminus oder der Schizophreniebehandlung (im stationären setting) beschäftigen.

Die ausgewerteten 48 Literaturstellen lassen wegen ihrer inhaltlichen Divergenz keine Meta-Analyse zu. Darüber hinaus erfüllen sie nicht die Einschlusskriterien, kontrollierte und randomisierte Studien hochwertiger Methodik zu sein. Inhalte der Behandlungsmethoden, Patientenpopulationen, methodische Standards und Ergebnisse machen ein Pooling für eine zusammenfassende Analyse unmöglich. Hier findet die Methode der Meta-Analyse ihre Grenze (Siebert et al. 2000). Die deskriptive Darstellung spiegelt die Heterogenität der Veröffentlichungen wider.

Begibt man sich an eine internet-Suchmaschine sind im Sommer 2004 nicht weniger als 18 300 Einträge zu »Soziotherapie« zu finden, deren Vielfalt ein überwältigendes und für die Diskussion aussagekräftiges Bild gibt zum Durcheinander im Verständnis des klassischen Begriffs Soziotherapie, jedoch auch der ambulanten Behandlungsform dieses Namens.

1.2.1 Soziotherapie zur Behandlung psychiatrischer Störungen – die etablierte Sichtweise


Klassische Soziotherapie zur Behandlung von Patienten mit Schizophrenie

Hinsichtlich der Behandlung der schizophrenen Erkrankung ist der bisherige Gebrauch des Begriffs divergent. Während in einer frühen Arbeit aus dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie 1990 unter Sozialtherapie im Wesentlichen ein standardisiertes Training sozialer Kompetenz als zusätzliche verhaltenstherapeutische Intervention zur Steigerung der Wirksamkeit einer neuroleptischen Langzeittherapie verstanden wird (Bossert et al 1990), ist andererseits in einigen Arbeiten der sozialwissenschaftliche Ansatz vertreten, wenn gezeigt wird, dass die sozialen Beziehungen schizophrener Patienten zu ihrer Umwelt zum einen eine Belastung darstellen können, diese zum anderen aber therapeutisch genutzt werden können, nämlich in der Soziotherapie (Katschnig 1998). Lorenzen stellt ein soziotherapeutisches Behandlungskonzept für schizophrene Patienten mit zusätzlich bestehendem Substanzmissbrauch vor; für diesen Patientenkreis mit der Doppeldiagnose sei die sozialtherapeutische Behandlung in einem gemeindepsychiatrischen Zentrum zur Rückfallverhütung besonders wichtig (Lorenzen 1992). In einer Arbeit von Theilemann wurde die Soziotherapie im Sinne einer »socioenvironmental therapy« verglichen mit kognitiver Verhaltenstherapie zur Beeinflussung kognitiver Störungen bei schizophrenen und schizoaffektiven Psychosen. Die kognitive Therapie im Sinne der integrierten psychologischen Therapie für schizophrene Patienten (IPT) führte rascher zu einer Besserung der kognitiven Störungen als die Soziotherapie, 12 Wochen nach der Beendigung der Therapie hatten sich die Therapieerfolge jedoch angeglichen (Theilemann 1993). In einer Arbeit wird ein soziotherapeutischer Ansatz der Behandlung schizophrener Psychosen des Kinder- und Jugendalters dargestellt. Die soziotherapeutischen Aspekte zur Stabilisierung von Ich-Strukturen und Stützung einer altersabhängigen Entwicklung sollen zur Behandlung der Schizophrenie im Jugendalter parallel zu einer Psychotherapie stattfinden (Resch 1994). Der soziotherapeutische Ansatz in der Langzeitbehandlung der Schizophrenie kann andererseits in einer weiteren Interpretation des Begriffes bedeuten, dass bei der Langzeitbehandlung der Schizophrenie die Einbeziehung von Patienten und Angehörigen als gleichberechtigte Partner neben den professionellen Helfern angestrebt wird. Die Soziotherapie sei in der Regel kombiniert mit Pharmakotherapie bei Einbeziehung der Angehörigen als unterstützende Therapie zu empfehlen (Katschnig 1995). Da das Zusammenleben mit Angehörigen insbesondere auch die emotionalen Faktoren bestimme, die dann wieder auf den Verlauf der schizophrenen Erkrankung Einfluss nähmen, habe die Soziotherapie im Sinne eines Einflusses auf psychosoziale Faktoren Relevanz (Ciompi 1995). Durchgängig wird die Soziotherapie in diesem Sinne neben der Pharmakotherapie als aktueller Standard bei der Behandlung schizophrener Erkrankungen angesehen (Möller 1996). Soziotherapie kann als Teil der integrativen Schizophrenietherapie neben pharmakologischen, psychoedukativen, psychotherapeutischen Maßnahmen im Rahmen eines multidimensionalen Vorgehens verstanden werden (Krausz und Naber 2000). Wiederum enger wird Soziotherapie als soziotherapeutische Interventionsmethode in einer Arbeit verstanden, die den Einfluss der Soziotherapie auf Befinden und Verhalten von schizophrenen Patienten im Vergleich zu Kontrollgruppen von Patienten untersucht. Gezielte psychosoziale Interventionsmethoden im Sinne von Familienbetreuung und kognitive Therapiemethoden ergaben einen Mehreffekt gegenüber der medikamentösen und unspezifischen Kontrollgruppenbehandlung (Wunderlich et al. 1996). Diesem verhaltenstherapeutischen Ansatz steht eine eher tiefenpsychologische Betrachtungsweise von soziotherapeutischen und psychotherapeutischen Vorgehensweisen zur Behandlung einer Gruppe von psychotischen Patienten, die unter zahlreichen Krankheitsschüben und einem chronisch schleichenden Verlauf mit Residualsymptomatik litten, gegenüber. Soziotherapeutische und psychotherapeutische Vorgehensweisen werden hier mit dem Verfahren der Logotherapie in Zusammenhang gebracht, auch die Grenzen der Psychotherapie bei schizophrenen Patienten werden aufgezeigt (Winklhofer 1996). Schließlich kann auch Arbeitstherapie als eine weitgefasste Form von Soziotherapie verstanden werden. In diesem Sinne fanden Reker und Eikelmann an einer Population von 83 langzeithospitalisierten schizophrenen Patienten Hinweise darauf, dass Arbeitstherapie als Soziotherapie einen positiven Einfluss auf Hospitalisationsraten habe (Reker und Eikelmann 1997).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bisher in der Behandlung von Patienten mit Schizophrenie der Begriff Soziotherapie sehr unterschiedlich verstanden wird. Wie auch das Gesamtverständnis des Terminus differieren die verschiedenen Ansätze zur Soziotherapie in der Schizophreniebehandlung erheblich. Das Spektrum umfasst:

  • strukturiertes, verhaltenstherapeutisch geprägtes Training sozialer Kompetenz
  • gezielte psychosoziale Interventionsmethoden im Sinne von Familienbetreuung
  • enge tiefenpsychologisch orientierte Behandlungskonzepte in der Abgrenzung zu Psychotherapie
  • Teile der integrativen Schizophrenietherapie neben pharmakologischen, psychoedukativen und psychotherapeutischen Maßnahmen im Rahmen eines multidimensionalen Vorgehens
  • Einbeziehung von Patienten und Angehörigen neben den professionellen Helfern als gleichberechtigte Partner einer Sozialtherapie.

In unterschiedlichen wissenschaftlichen Arbeiten wird die Notwendigkeit der Soziotherapie bei Patienten mit der Doppeldiagnose Schizophrenie und Substanzmissbrauch, bei jugendlichen Patienten mit Schizophrenie, sowie unter dem Aspekt der Verringerung von Hospitalisationsraten durch arbeitstherapeutische Soziotherapie oder als rehabilitative Maßnahme zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft betont. Eine einheitliche, klare oder gar verbindliche Definition besteht nicht. Dieses ist umso bemerkenswerter, als auf das bisherige Verständnis immer wieder in der Diskussion um die ambulante Soziotherapie gemäß § 37a rekurriert wird.

Klassische Soziotherapie zur Behandlung von Patienten mit Depression

Drei Arbeiten wurden unter dieser Überschrift subsumiert. Das Stichwort Sociotherapy wurde von Tölle im Zusammenhang mit Rehabilitation depressiver Patienten angegeben. Insbesondere nach dem Abklingen einer schweren depressiven Episode könnten Schwierigkeiten der Reintegration durch eine rehabilitative Soziotherapie behandelt werden (Tölle 1996). Ähnlich schlagen Wolfersdorf und Kollegen die Kombination aus psycho- und soziotherapeutischen Ansätzen bei der Behandlung therapieresistenter Depressionen vor. Dieses Verfahren sollte in Kombination mit somatischen Therapieformen eingesetzt werden; neben der kognitiven Verhaltenstherapie...

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