Teil I Grundsätzliches
1 Von Mutter Teresa, Mülltrennung und »Jetzt komm ich«
Über Egoismus
Die Geschichte ist alt, aber sie ist nach wie vor gut. So gut, dass sie unzählige Male verfilmt wurde, am bekanntesten in der Fassung mit Charlton Heston.[1] Heston wurde dafür sogar für den Golden Globe nominiert, während der Film selbst einen Oskar für die besten Spezialeffekte erhielt. Die Rede ist von »Die Zehn Gebote«. Es ist aber auch eine geradezu unfassbare Geschichte: Moses steigt auf einen Berg,[2] um einen neuen Bund auszuhandeln zwischen Israel, dem Volk Gottes und Gott selbst, und er kommt wieder herunter mit zwei Steintafeln, auf denen die Zusammenfassung dessen steht, was das Volk in Zukunft einzuhalten hat, eben jene Zehn Gebote. Zu den unzähligen Darstellungen, Umsetzungen und Verfilmungen dieser Geschichte gesellte sich jüngst ein kurzer Clip:[3] Moses kommt vom Berg Sinai zurück mit zwei Tafeln in der Hand und begrüßt das Volk mit den Worten, dass er eine gute und eine schlechte Nachricht habe. Die gute sei, »Ich habe ihn auf zehn runter«. Die schlechte: »Ehebruch ist immer noch drinnen.«
Man kann Moral auf vielerlei Arten begründen, die wichtigsten davon will ich später in einem eigenen Kapitel vorstellen. Man kann es, wie hier bei den Zehn Geboten, unter Berufung auf Gott tun. Das kann funktionieren, wirft jedoch spätestens dort Probleme auf, wo Einzelne nicht an Gott oder auch nur nicht an diesen Gott glauben. Dazu mehr im Kapitel über die ethischen Theorien. Worum es hier gehen soll, ist die Frage, was daraus folgt, wenn man die Moral nicht auf einen oder mehrere Götter, sondern auf den Menschen bezieht. Wenn man sagt, dass moralisch richtig nur etwas sein kann, das Menschen zugutekommt, vielleicht sogar nur deshalb richtig ist, weil es Menschen – oder anderen Lebewesen wie Tieren – zugutekommt. Und nicht, weil es einem höheren Wesen gefällt oder einem bestimmten Prinzip gehorcht.
Meiner Ansicht nach folgt daraus, dass der Mensch nicht nur derjenige ist, an den sich die Forderungen der Moral richten. Er ist nicht nur der, dem gesagt wird: Du sollst oder du sollst nicht, der eingeschränkt wird von den Forderungen der Moral. In der Ethik nennt man diese Position Subjekt der Moral, weil es um denjenigen geht, der handeln soll oder eben nicht. Bei einer Moral, die sich auf den Menschen bezieht, ist der Mensch aber zugleich Objekt der Moral, also – neben Verpflichtungen gegenüber anderen Lebewesen – derjenige, dem das Gebot oder Verbot zugutekommen soll. Und er ist als Drittes auch Maßstab der Moral. Er ist derjenige, an dem sich die Moral messen lassen muss. Was ich damit meine, hat der amerikanische Moralphilosoph William K. Frankena folgendermaßen formuliert:
»Und sie [die Gesellschaft] darf auch nicht vergessen, dass die Moral die Funktion hat, das gute Leben der einzelnen zu fördern und es nicht mehr als nötig zu stören. Die Moral ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Moral.«[4]
Auch wenn er den Umweltaspekt vermissen lässt, halte ich gerade den letzten Satz für einen der wirklich zentralen Sätze jeder Beschäftigung mit Moral. Müsste ich eine Werbekampagne für die Moral starten, würde ich ihn vermutlich großflächig plakatieren lassen. Man kann ihn nicht oft genug wiederholen:
»Die Moral ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Moral.«
Was bedeutet das? Wenn man so will eine Art Verteilung der Beweislast: Man muss sich nicht für das, was man tut, rechtfertigen, sondern die Moral muss begründen, warum man sich in einer bestimmten Art und Weise verhalten soll. Warum man das eine unterlassen soll und das andere tun. Und das wiederum führt dazu, dass man sich auch nicht für etwas rechtfertigen muss, das eigentlich das Natürlichste auf der Welt ist: an sich zu denken. Seine eigenen Interessen zu verfolgen ist zunächst moralisch neutral. Probleme entstehen erst, wenn weitere, negative Aspekte hinzutreten, weil man deswegen Pflichten gegenüber Anderen vernachlässigt oder Andere unangemessen beeinträchtigt, wenn man etwa zugunsten der eigenen Interessen jemanden schädigt oder jemandem etwas vorenthält.
Die bessere Hälfte
Es gibt eine andere Geschichte, bei weitem nicht so spektakulär wie die von Moses am Berg Sinai und vermutlich noch kein einziges Mal verfilmt. Und ob sie wahr ist, weiß man auch nicht. Es ist die Geschichte von einem alten Ehepaar, das seit Jahrzehnten ein festes Ritual beim Frühstück hat: Er nimmt ein Brötchen, schneidet es auf und gibt seiner Frau das schöne knusprige Oberteil, während er selbst sich mit dem weniger schönen Boden begnügt. Nach über 30 Jahren kommt durch Zufall heraus, dass seine Frau viel lieber den Boden hätte, aber über die vielen Jahre nichts gesagt hat, weil sie dachte, auch er würde den Boden lieber mögen und wollte deshalb diesen Teil ihm lassen. Er aber liebt die knusprigen Oberteile, hatte dasselbe von seiner Frau vermutet und ihr zuliebe viele Tausende von Morgen lang darauf verzichtet.
Auch aus dieser Geschichte kann man nun mehrere Schlüsse ziehen. Man kann lachen über die beiden. Man kann weinen oder verzweifelt sein, weil die Erkenntnis erst nach einem halben Leben des unnötigen Verzichts auf beiden Seiten kam; würde es nicht am Ende doch nur um Brötchenhälften gehen. Man kann politisch korrekt sagen: Na, immerhin haben sie Brötchen, es gibt genug, denen egal wäre, welche Hälfte sie bekommen, wenn sie nur irgendetwas zu essen hätten. Man kann über das Problem nachdenken, dass man von den eigenen Wünschen nicht einfach auf die anderer schließen darf. Damit erkennen, dass die goldene Regel »Behandle Andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst« mit Vorsicht zu genießen ist. Und sich dem alten Zyniker George Bernard Shaw anschließen, der meinte: »Behandle Andere nicht, wie du möchtest, dass sie dich behandeln. Ihr Geschmack könnte nicht derselbe sein.«[5] Man kann aber auch eine allgemeine Regel des Zusammenlebens ableiten: Miteinander reden!
Oder, und darauf will ich hier hinaus, man kann sich überlegen, warum eigentlich beide der Meinung waren, ihre eigenen Wünsche seien weniger wert als die des Anderen. Und ob das Problem nicht in Wirklichkeit dort seinen Ausgang genommen hat. Aus romantischer Sicht ist es sicherlich schön, dass jeder der beiden sich selbst zugunsten des geliebten Partners zurückgenommen hat. Womöglich ist das ein Zeichen wahrer Liebe und vielleicht sogar das Geheimrezept für eine lange glückliche Beziehung. Ob es wirklich das vollkommene Glück darstellt, sich selbst so weit zurückzunehmen, müsste man noch einmal überprüfen. Auf jeden Fall aber wäre es problematisch, ein derartiges Verhalten als Ideal anzusehen oder zu fordern. So positiv es in die eine Richtung erscheint, die Wünsche des Anderen zu erfüllen, hat es auch eine unschöne Kehrseite. Es würde ja bedeuten, die eigenen Bedürfnisse völlig hintanzustellen. Doch es stehen sich zwei Menschen gegenüber, die als Menschen gleichwertig sind und deren Anliegen somit auch dasselbe Gewicht haben. Es kann nicht Ziel der Moral sein, von einem Menschen zu fordern, sich selbst immer in die zweite Reihe zu stellen. Um bei diesem Bild zu bleiben: Die Moral kann das Vordrängeln auf Kosten Anderer kritisieren und dazu auffordern, sich wie jeder Andere in die Schlange zu stellen, aber nicht dazu, auf Dauer alle anderen vorzulassen.
Moralisch oder heilig?
Vermutlich schwebt vielen unbewusst als Idealbild des moralischen Menschen Mutter Teresa vor. Ein Mensch, der sich selbst vollkommen verleugnet und sich für andere aufopfert. Einfach ausgedrückt eine Heilige, auch wenn sie es nach katholischem Kirchenrecht (noch) nicht ist.[6] Ihre Verdienste sollen unbenommen bleiben, aber im täglichen Umgang fällt ihr Name vermutlich am häufigsten im Zusammenhang mit einer Distanzierung: »Ich bin doch nicht Mutter Teresa!«[7] Sosehr viele ihr Wirken bewundern, scheint es doch eher von einer anderen Welt und auf jeden Fall nicht wirklich Vorbild für den Einzelnen. Warum? Ihr Anliegen, den Armen zu helfen und sich um Sterbende, Waisen und Kranke zu kümmern, stellt doch zweifelsfrei eine moralische Aufgabe dar. Sogar eine der elementarsten. Doch es geht um das Ausmaß. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einem Ideal und dem, was man verlangen kann. Immanuel Kant hatte 1788 in seiner »Kritik der praktischen Vernunft« dazu geschrieben:
»Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist.« [8]
Und wer von uns ist schon heilig?, möchte man an dieser Stelle fragen. Für mich persönlich kann ich es definitiv ausschließen. Tatsächlich lässt sich etwa das Leben, das Mutter Teresa führte, aus Gründen der Moral kaum von allen Menschen fordern; das, was sie leistete, ging über das Geforderte hinaus. In der Moralphilosophie nennt man so etwas »supererogatorische« Handlungen;[9] damit meint man Taten, die gut sind, aber sozusagen zu gut und deshalb über die Pflicht hinausgehen.
Nun könnte man über diese...