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E-Book

Stalins Nomaden

Herrschaft und Hunger in Kasachstan

AutorRobert Kindler
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl381 Seiten
ISBN9783868546125
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Stalins Sowjetunion duldete keine Nomaden. Die im Land umherziehende Bevölkerung war weder politisch noch ökonomisch kontrollierbar. Staatliche Herrschaft ließ sich unter diesen Umständen kaum durchsetzen. So begannen die Bolschewiki Ende der 1920er Jahre mit der konsequenten Unterwerfung der multiethnischen Bevölkerung Kasachstans mittels Sesshaftmachung, Kollektivierung und Dekulakisierung. Die Requirierung der landwirtschaftlichen Ressourcen, vor allem der Viehherden, zerstörte die Lebensgrundlagen der kasachischen Nomaden. Die Ökonomie der Steppe brach zusammen. Eine präzendenzlose Hungerkatastrophe, die zwischen 1930 und 1934 mehr als eineinhalb Millionen Menschen das Leben kostete und Hunderttausende zu Flüchtlingen machte, war die Folge. Sowjetisierung durch Hunger - so nennt Robert Kindler das Projekt der Bolschewiki, Menschen durch die Inszenierung von Krisen in gehorsame Untertanen zu verwandeln. Je desaströser die Krise, je schlimmer Chaos und Elend waren, desto größer wurde die Macht der Herrschenden. Robert Kindler untersucht nicht nur die Auslöser der Hungersnot, sondern auch, was sie über die Herrschaftsdurchsetzung an der sowjetischen Peripherie aussagt. Seine innovative Analyse führt zum Kern stalinistischer Herrschaft.

Robert Kindler, Dr. phil., geb. 1978, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Geschichte Osteuropas der Humboldt-Universität zu Berlin und Redakteur für osteuropäische Geschichte bei H-Soz-u-Kult.

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Leseprobe

Kontexte – Nomaden und russische
Kolonialmacht


»Die Feindschaft zentralisierter Staaten gegenüber umherziehenden Viehhirten ist allgemein bekannt«, hat der Geograf Leslie Dienes einmal erklärt.1 Die Kombination aus militärischer Unberechenbarkeit und partieller Überlegenheit sowie die konstitutive Eigenschaft nomadischer Gemeinschaften, sich staatlichen Zugriffsversuchen zu entziehen, ließen Nomaden zum ungeliebten – und mitunter auch gefürchteten – Gegenüber sesshafter Gesellschaften werden. Solche Gemeinwesen und Staaten begegneten der Herausforderung des Nomadismus auf unterschiedliche Art und Weise: Sie versuchten, die »Barbaren« entweder zu befrieden oder sie zu bekämpfen. Waren sie nicht in der Lage, die Nomaden von den eigenen Grenzen fernzuhalten und erfolgreich zu bekriegen, verlegten sie sich notgedrungen auf die Zahlung von Tributen.2 Hinzu kamen vielfältige wechselseitige Abhängigkeiten und (Handels-)Kontakte. Nomaden und Sesshafte lebten stets auch mit- und voneinander.3

Die Kultur und Lebenswelt der kasachischen Nomaden wurden von den Erfordernissen der Viehhaltung dominiert.4 Traditionell hielten die Kasachen vor allem Schafe, Ziegen und Pferde. Zudem züchteten sie Kamele, die als Arbeits- und Transporttiere in der Steppe unentbehrlich waren.5 Infolge der russischen Kolonisation nahmen auch Rinder an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen immer wichtigeren Platz in der Steppenökonomie ein.6 Die meisten Kasachen lebten in aus bis zu fünf Familien beziehungsweise Jurten bestehenden Aulen, die gemeinsam mit ihren Herden durch die Steppe zogen.7 Lediglich aus der Perspektive zugereister Europäer, die mitunter nicht verstanden, was sie sahen, erweckten die zielgerichteten Migrationen der Nomaden den Eindruck, es handele sich dabei um ein mehr oder minder zielloses Umherirren in der Steppe. Das Gegenteil war der Fall. Die kasachischen Nomaden bewegten sich innerhalb klar definierter Korridore zwischen ihren Winter- und Sommerweiden, wobei die Distanzen stark variieren konnten. Während etwa die im Westen Kasachstans lebenden Adajer bis zu eintausend Kilometer im Jahr zurücklegten, zogen manche Stämme im Osten nur wenige Kilometer zu den Sommerweiden.

Ein kasachischer Aul im Gebiet Pavlodar, 1920er Jahre
CGAKFDZ, 5-3489

Die Kasachen8 führen ihre Abstammung auf den (mythischen) Stammvater »Alaš« zurück. Untereinander identifizierten sie einander als Angehörige spezifischer Deszendenzsysteme. Jeder Kasache war in der Lage, seine Vorfahren mindestens sieben Generationen weit zu verfolgen. Indem diese Ahnenreihen beständig wiederholt und mitgeteilt wurden, verorteten sich die Kasachen untereinander im komplexen Gefüge der Steppengesellschaft.9 Ihre Mitglieder lassen sich in drei, Horden genannte, Großgruppen unterteilen. Die Angehörigen der Großen (oder: Älteren) Horde lebten vor allem im Süden und Südosten des heutigen Kasachstans, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert umfasste sie eine Gruppe von circa 700000 Personen. Die Mittlere Horde nomadisierte auf Gebieten in Zentralkasachstan, im Osten und Norden. Zu ihr wurden zur gleichen Zeit ungefähr 1,3 Millionen Menschen gezählt. Die Kleine (oder: Jüngere) Horde – zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund 1,2 bis 1,3 Millionen Menschen – lebte im Westen des heutigen Kasachstans. Neben ihrer Zugehörigkeit zu einer der drei großen Horden definierten sich Kasachen über ihre Sippe und ihren Aul.10 Die Inklusion in derartige Klannetzwerke war zentral für jeden Einzelnen, denn sie entschied über sozialen Status, ganz gleich ob die zugrunde liegenden Verwandtschaftsverhältnisse tatsächlich existierten oder konstruiert worden waren.11

Die Kasachen lebten nicht in einer egalitären oder gar »klassenlosen« Gesellschaft, wie manche zeitgenössische Beobachter glaubten, sondern ihre Gemeinschaften waren stark stratifiziert und hierarchisiert.12 Doch wenn sie Fremden begegneten oder auf Herausforderungen reagieren mussten, präsentierten sich die Aule meist als Einheit. Älteste wurden als Aksakale bezeichnet, was wörtlich »Weißbart« bedeutet, die Führer kleiner tribaler Gruppen als »Bei«. Die Bolschewiki verwendeten diesen Begriff unterschiedslos für Klanälteste, wohlhabende Kasachen, aber auch für Richter und andere Angehörige der kasachischen Oberschicht. Der Terminus wurde in den zentralasiatischen Republiken als Äquivalent zum »Kulaken« in den europäischen Regionen der Sowjetunion benutzt und lässt als Quellenbegriff – ebenso wie der des Kulaken – meist keine Rückschlüsse auf den tatsächlichen sozialen oder materiellen Status der so Bezeichneten zu. Klar ist nur, dass »Beis« den sowjetischen Funktionären als Gegner und Feinde galten.13

Nicht alle Kasachen waren Nomaden. Weite Teile der Bevölkerung lebten als Halbnomaden oder als Sesshafte. Insbesondere seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte der Druck der russischen Kolonisation dazu, dass immer mehr Kasachen ihre nomadische Existenz aufgaben.14 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügten viele Familien über befestigte Winterquartiere für sich und ihre Tiere. Die Ergebnisse der ersten sowjetischen Volkszählung von 1926 zeigten, dass immerhin ein Viertel aller Kasachen »sesshaft« war und mehr als 65 Prozent eine halbnomadische Existenz führten und lediglich im Sommer umherzogen. Nur eine kleine Minderheit von etwas mehr als sechs Prozent nomadisierte das ganze Jahr über.15 Der Wohlstand einer Familie bemaß sich dennoch vor allem an der Größe ihrer Viehherden; Land spielte für die Nomaden eine eher untergeordnete Rolle. Durch äußere Einflüsse konnten die Besitzverhältnisse der Nomaden erheblichen Veränderungen unterworfen sein. Vor allem Naturkatastrophen wie der periodisch eintretende džut, der die Steppe mit einer dicken Eisschicht bedeckte, die das Vieh mit seinen Hufen nicht durchstoßen konnte, stellten eine tödliche Bedrohung für Mensch und Tier dar.16

Die russländische17 Geschichte ist eine Geschichte der vielfältigen Interaktion mit Steppennomaden. Doch es waren vor allem die Auseinandersetzungen zwischen nomadischen Stämmen und den Moskauer Fürsten, die im kollektiven Gedächtnis von Russen und Nomaden tiefe Spuren hinterließen.18 Insbesondere das »Tatarenjoch«, die Herrschaft mongolischer Khane vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, wurde zu einer ebenso prägenden wie traumatischen Erfahrung der russischen Geschichte.19 Es dauerte Jahrhunderte, bis die von den Steppennomaden ausgehende militärische Gefahr endgültig gebannt war und sich die einzelnen Nomadenstämme nach und nach (zumindest nominell) dem Schutz der »Weißen Zaren« unterstellten.20 Das Verhältnis des russischen Staates zu seinen nomadischen Untertanen musste geklärt werden. Eine Lösung schien in der Sesshaftmachung der Letzteren zu liegen. Bereits Zarin Katharina II. unterstützte im ausgehenden 18. Jahrhundert derartige Initiativen, denen allerdings keine durchschlagenden Erfolge beschieden waren.21 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach der militärischen Eroberung Zentralasiens,22 forcierte das Imperium seine Bemühungen, die nomadischen »Fremdstämmigen« (inorodcy)23 zur Sesshaftigkeit zu zwingen.24 Die zarischen Beamten setzten unter anderem auf eine der vermeintlich effektivsten Formen kolonialer Reiche zur Unterwerfung ihrer Peripherien: Sie förderten die Ansiedlung von europäischen Bauern. Der unermessliche »freie Raum« der Steppe, so ihre Überzeugung, stehe den »Europäern« zur Verfügung, um ihn zu formen und zu füllen.25 In dieser Denktradition bewegten sich später auch die Bolschewiki, als sie sich an die Erschließung der Steppe machten.

Anfangs waren es Kosaken, die das Zarenreich in neu eroberten Territorien traditionell als koloniale Vorhut einsetzte,26 später folgten Bauern aus den zentralen russischen und ukrainischen Gebieten, die aufgrund der zunehmenden Landarmut in jenen Regionen nach Zentralasien auswanderten. Die Ansiedlung europäischer Bauern unterlag Konjunkturen; Zeiten des Zuzugverbots wechselten mit Phasen forcierter Werbung neuer Kolonisten.27 Ungeachtet dessen nahm die Zahl derer, die ihr Glück in Zentralasien versuchen wollten, kontinuierlich zu. Und nachdem die fruchtbare Region Semireč’e im Osten des späteren Kasachstans im Zuge der stolypinschen Reformen von 1906 an für die Ansiedlung freigegeben wurde, kamen die Menschen in Scharen.28

Angesichts des Zuzugs europäischer Bauernsiedler, die von den Kolonialbehörden bei der Landverteilung gegenüber der indigenen Bevölkerung bevorzugt wurden, stellte sich die Frage nach der Zukunft des Nomadismus dringlicher.29 Flächen, die nach der...

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