2. Theoretischer Rahmen
Der Schwerpunkt der vorliegenden Forschungsarbeit liegt auf der Wahrnehmung der gebauten Umwelt als Teil unserer Alltagswirklichkeit. Sie stellt eine von Menschen in den unterschiedlichsten Epochen geschaffene materiale Kultur dar. Gleichzeitig bildet sie die menschliche Lebensumgebung: Menschen leben in dieser materialen Kultur und sind in sie eingeordnet. In dieser Forschungsarbeit wird die Auffassung vertreten, dass in den architektursoziologischen Theoriediskussionen bisher der soziologische Teil der Architektur-Soziologie im Verhältnis zur Architektur-Soziologie noch immer viel zu wenig Beachtung findet. Dieser Mangel zeichnet sich dementsprechend deutlich ab anhand dem nach wie vor wenig ausgeschöpften Potenzial soziologischer Methodenauswahl und soziologischer Methodologie. Wenn diese Beurteilung der gegenwärtigen Forschungstätigkeit zutrifft, müssen einige Ergänzungen und Erweiterungen aufgrund theoretischen und methodologischen Überlegungen geleistet werden, wozu die vorliegende Forschungsarbeit ihren Anteil besteuern will.
Um also die theoretische Ausgangsbasis mit explizit soziologischen Kategorien in den Mittelpunkt zu stellen, befasst sich im Folgenden das Kapitel 2 ausführlich mit den theoretischen Abgrenzungen zur bisherigen Forschung um deutlich zu machen, welche Forschungsfelder noch von niemanden betreten wurden. Nach der vorangestellten Begriffseinbettungen der wichtigsten Definitionen (siehe Kap. 2.1), werden diese im Folgenden mit dem aktuellen architektursoziologischen Forschungsstand (Kap. 2.2) verknüpft. Anschließend werden folgende Forschungslücken aufgezeigt: zuerst wird auf die bisherige Nichtbeachtung der Sichtweise der handelnden Subjekte (als personale Akteure) auf die gebaute Umwelt als deren Alltagswirklichkeit eingegangen und somit auch zur aktuellen soziologischen Theoriediskussion, insbesondere zur ANT Stellung genommen (siehe 2.3.1 und Kap. 2.4). Wenn damit in soziologischen Kategorien weitergedacht davon ausgegangen wird, dass die gebaute Umwelt als Sinnphänomen in den Sinn- und Relevanzstrukturen unserer Alltagswirklichkeit konstituiert ist, bedeutet dies darüber hinaus, dass dieses Phänomen selbst als materiale Verkörperung von Sinnstrukturen und insoweit als Vorgabe zur Herstellung von Sinnstrukturen aufgefasst werden muss.
Des weiteren verstellt eine architektur-dominierende Perspektive bisher den Blick auf die gebaute Umwelt und die sich darin befindlichen Artefakte in zweifacher Weise: so wird hier erstens die These vertreten, dass soziologisch hochrelevante Unterschiede bestehen zwischen einer Außenwahrnehmung von Architektur und mithin der gebauten Umwelt und deren Wahrnehmung im Inneren, also den Innenräumen (siehe Kap. 2.3.2). Und zweitens muss festgestellt werden, dass in der gegenwärtigen, architektursoziologischen Forschungstätigkeit nach wie vor ihre Aufmerksamkeit auf architektonisch interessante oder/und architektonisch relevante Artefakte (sprich Bauten) ausgerichtet ist und weniger auf das eher unspektakuläre Durcheinander von Artefakten in der gebauten Umwelt (siehe Kap. 2.3.3 und 2.3.4). Auch hier muss der soziologische Anteil stärker gewichtet werden um eine ausgewogenere Balance in der Architektur-Soziologie herzustellen.
Nach diesen Erläuterung der theoretischen Ausgangsposition und der Darlegung der Forschungslücken im soziologischen Forschungskontext, wird die damit eng verknüpfte methodologische Zugangsweise dargelegt, um die aufgeworfenen, offen formulierten Fragestellungen zu analysieren und als Forschungsbeitrag die soziologisch relevanten Antworten zu finden.
2.1 Definitionen und Begriffseinbettungen
Um den Ausgangspunkt dieser Forschungsarbeit zu verdeutlichen, beginnt dieses Kapitel zuerst mit einer Definition zentraler Begriffe und ihrer Einbettung in die hier relevanten Themen: (1) Kultursoziologie und kulturelle Objektivationen; (2) Architektur und gebaute Umwelt; (3) Alltagswissen und die Wirklichkeit der Alltagswelt; (4) Dinge, Objekte und Artefakte sowie (5) die hier verwendete begriffliche Auffassung von Wahrnehmung.
2.1.1 Kultursoziologie und kulturelle Objektivationen
Die vorliegende Arbeit wird in der Traditionslinie der neueren deutschsprachigen Kultursoziologie eingebettet. Darunter wird mit Clemens Albrecht und Stephan Moebius eine Kultursoziologie verstanden, die vor allem eine „Neugründung“ war,
„weil vorher alles Kultursoziologie war. Den deutschen Klassikern jedenfalls, die ihre Theorien im Kontext der historischen Geisteswissenschaften entfalteten, verwiesen beide Begriffe nicht auf getrennte Tatsachen, sondern auf analytische Perspektiven. Ihnen war alle Kultur in Strukturen eingelagert, alle Struktur durch Kultur erfüllt. Insofern gehörte die kultursoziologische Betrachtung und Erforschung sozialer Phänomene zu einem festen Bestandteil der älteren deutschsprachigen Soziologie (vgl. Lichtblau 1996)“ (Albrecht/ Moebius 2014: 10).
Albrecht und Moebius zeichnen in dem Beitrag „Die Rückkehr der Kultur in der Soziologie“ die neuere Entwicklungsgeschichte dieser Kultursoziologie nach, bis zur Eigeninitiative durch die damals jüngere Forschergeneration 1983, die einen „Antrag auf Gründung einer Sektion Kultursoziologie bei der DGS“ (der Deutschen Gesellschaft für Soziologie) stellte. Unter anderem wurden darin von Wolfgang Lipp folgende Ziele formuliert:
„Liegt ihre Besonderheit methodisch auch darin, die soziokulturelle Welt methodenpluralistisch zu erfassen (…) diese Plurität verstehend-hermeneutisch wieder zusammenfassen, zu ‚Typen‘ zu bündeln und als prägnante, die Einzelinhalte bestimmende ‚Sinn‘-Gebilde darzustellen. Kultursoziologie als Theorie ist Theorie von Sinn und Sinnzusammenhängen. Sie bestimmt Sinn als Relationalität komplexer physischer, sozialer und symbolischer Elemente. Angenommen dabei wird, das erst konkretes, identifikativ-identifizierendes Handeln (…) an Sinn anknüpfen, Sinn ‚definieren‘, Sinn rekonstruieren kann“ (Lipp et al. 2014: 40; Gründungsantrag von 1983).
Clemens Albrecht erinnert in einem Vortrag an den maßgebenden Unterschied zwischen Kulturwissenschaft und Kultursoziologie, wonach erst die Kultursoziologie Subjekt und Objekt verbindet, nicht aber die Kulturwissenschaft. Nach Albrecht kann Kulturbedeutung nicht von einem Subjekt alleine konstruiert werden. Es braucht die intersubjektive Verbindung, auch zu Objekten. Offen bleibt, wodurch Kulturbedeutung vermittelt wird bzw. wer Kulturbedeutung eigentlich verleiht (Albrecht 2015). Aus dieser Perspektive kann der gebauten Umwelt diese Vermittlerrolle durchaus zugetraut werden.
Wohlrab-Sahr unterscheidet zwei verschiedene Ansätze der Kultursoziologie: eine spezielle Soziologie, die sich „mit verschiedenen Kulturbereichen beschäftigt“ (Wohlrab-Sahr 2010: 9), und den Ansätzen, die die „Kultur als grundlegende Codierung des Sozialen auffassen, die sich an verschiedensten Gegenstandsbereichen untersuchen lässt“ (Wohlrab-Sahr 2010: 10). Gemeinsam ist beiden Richtungen die Beschäftigung mit der Relation von Kultur und Gesellschaft. Wohlrab-Sahr verortet die neueren Strömungen innerhalb der Kultursoziologie dort, „wo beim Vorgang der Sinnkonstitution, der bei Weber, Schütz und Luckmann immer doppelt verankert war – in gesellschaftlichen Interaktionen, Kommunikationen und Institutionen wie auch in der Sinnorientierung personaler Akteure – von diesen personalen Akteuren weitgehend abstrahiert wird“ (Wohlrab-Sahr 2010: 14, eigene Hervorh.). Für die vorliegende Arbeit wird daher die leitende Begriffseinbettung in der ‚klassischen‘ Linie von Alfred Schütz und Thomas Luckmann gesehen: Mit ihnen wird personalen Akteuren ein eigenständiger Nennwert zugestanden, „bei denen ‚Sinn‘ immer auch als personal gebundener gedacht ist: als biographische Relevanzstruktur und in Um-zu- und Weil-Motive eingebettete Handlungslogik bei Schütz“ (Wohlrab-Sahr 2010: 14).
Kulturelle Objektivationen
„Jene objektiv geistigen Gebilde, (…) Kunst und Sitte, Wissenschaft und zweckgeformte Gegenstände, Religion und Recht, Technik und gesellschaftliche Normen – sind Stationen, über die das Subjekt gehen muss, um den besonderen Eigenwert, der seine Kultur heißt, zu gewinnen. (…) Kultur entsteht – und das ist das durchaus entscheidende für ihr Verständnis –, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis“ (Simmel 2001: 198).
Für die hier fokussierte Thematik der gebauten Umwelt erbringt zusätzlichen Erkenntnisgewinn vor allem der Aufsatz von Georg Simmel zur „Tragödie der modernen Kultur“, beschrieben als die „Nichteinholbarkeit der kulturellen Objektivationen durch die Individuen“ (Fuchs-Heinritz/Klimke/Lautmann 2011: 390). Durch die Berücksichtigung von wechselseitigen Wirkungen wird den kulturellen Objektivationen eine gewisse Eigendynamik zugesprochen. Dass diese Eigendynamik von deutenden Subjekten zugeschrieben wird, wird weiter unten zur Begriffseinbettung von Artefakten näher ausgeführt. Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff ‚Objektivationen‘ folgt einerseits der phänomenologischen Definition, nach der Objektivation bezeichnet wird als der „Prozess und das Resultat des Vorgangs, worin sich subjektive Vorgänge in Handlungen und Gegenständen in der Lebenswelt des Alltags verkörpern. Das menschliche Ausdrucksvermögen manifestiert sich in Erzeugnissen, die für den Handelnden und dessen Mitmenschen begreiflich sind“ (ebd.). Die neuere Kultursoziologie befasst sich...