Die vielversprechende Moderne
Der Schlüsselbegriff, der diese elektrisierende Fortschrittsvorstellung einzufangen suchte, war der Terminus »Moderne«. Eingeführt hatten ihn die Dichter des französischen Symbolismus in den 1870er Jahren, um ihre künstlerische Abkehr vom realistischen Stil zu rechtfertigen; schon bald fand er als Schlagwort breite Verwendung, wann immer Veränderungen initiiert werden sollten. Ein Jahrzehnt später übernahmen bestimmte Mitglieder der Berliner Literatenszene das Etikett und legitimierten so ihre Bewegung, den Naturalismus, dessen Ausdrucksmittel, wie sie meinten, erlaubten expressiver und kritischer über das »moderne Leben« zu schreiben. Auch in anderen Bereichen bedienten sich Avantgardisten dieses Begriffs und sprachen etwa von »moderner Kunst«, wenn sie mit atonaler Musik oder abstrakter Malerei experimentierten. Bürgerliche Intellektuelle, denen es um Reformen im Lebensstil der Mittelklasse ging, griffen das Wort ebenfalls auf; Wissenschaftler und Erfinder benutzten es, um ihre Entdeckungen zu propagieren. Und so wandelte sich »Moderne« denn am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Lieblingsbegriff intellektueller Kreise, der die Idee suggerierte, hier breche man mit Traditionen, indem man neue Möglichkeiten erkunde. Bezog sich die Bezeichnung ursprünglich nur auf innovative Impulse, wurde die Parole »Moderne« nun ein allgemeines Codewort für Fortschritt im Sinne von Befreiung.
Das Adjektiv modern markiert prinzipiell einen Gegensatz zur Vergangenheit. Ebendies aber macht den Terminus wandelbar, weshalb es stets schwerfiel, seine exakte Bedeutung zu erfassen. Wörterbüchern zufolge wurde der Begriff in der Renaissance geprägt, um die damalige Epoche von früheren Epochen zu unterscheiden, da sie sich abkehre vom klassischen Erbe der Antike, doch auch von der Periode dazwischen, in der religiöser Aberglaube und politische Konfusion geherrscht hätten, also jenem Zeitraum, den wir als das Mittelalter kennen. Dass der Terminus sich allein durch die Differenz zu einer vorherigen Ära bestimmt, bewirkte, dass er selbst kaum festen semantischen Gehalt bekam; wer ihn definieren wollte, musste sich ja auf die Gegenwart beziehen, und die bildete gleichsam ein bewegliches Ziel, da sie sich ständig veränderte. Dank dieser Fluidität konnten in der Geschichte immer wieder kulturelle Avantgarden, nur weil sie mit der Tradition zu brechen beabsichtigten, behaupten, sie seien »modern«, gleichgültig, welchen Stil sie gerade praktizierten. In Philosophie und Politik hieß »modern« oft auch, progressiv-aufklärerische Ansichten zu vertreten, eine weltlich orientierte Einstellung, die für rationales Denken und gesellschaftliche Verbesserungen eintrat. Dass diese Konnotationen beliebig ineinanderflossen, hat die weite Verbreitung des Terminus beschleunigt, denn letztlich blieb offen, was eigentlich genau damit gemeint war.
In ihren Untersuchungen zur raschen Transformation Europas um 1900 haben Sozialwissenschaftler wie Émile Durkheim eine Theorie der gesellschaftlichen Evolution formuliert, die auf den Prozess der Modernwerdung besonderes Gewicht legte. Als Hauptfaktoren dieser »Modernisierung«, so der neue Fachbegriff, identifizierten sie zentrale Umbrüche in der Entwicklung Europas, darunter die wissenschaftliche, die industrielle und die demokratische Revolution. Darin sahen sie ein Geschehnismuster, das sie zu einem normativen Konstrukt verallgemeinerten; das faktische Ergebnis der Entwicklung Europas erhoben sie zu einem Ideal, das überall auf der Welt erreicht werden sollte. Der Soziologe Talcott Parsons exportierte das Modell in die Vereinigten Staaten und erklärte das genannte Resultat zum »höchsten Ziel des amerikanischen Liberalismus«; das Konzept »definierte« optimistisch »einen universellen historischen Prozess, durch den sich traditionelle Gesellschaften zu modernen wandelten«. Während des Kalten Krieges wurde diese Modernisierungstheorie der demokratische Gegenentwurf zur marxistischen Ideologie. Hauptmotor der Modernisierung sei demnach die ökonomische Entwicklung, der zuliebe der dynamische Geist des Kapitalismus entfesselt werden müsse, der dann eine Wachstumsphase nach der anderen bewirke. Lehrbücher erhoben das Konzept geradezu in den Rang eines soziologischen Determinismus, dem zufolge ein universeller Prozess der Veränderung abläuft, der zwingend zu dem bekannten Ende führt; das westliche System ist dabei Maßstab und Entwicklungsziel.
Diese Verengung der Modernisierungstheorie auf eine Ideologie des Kalten Krieges provozierte harsche Kritik aus verschiedenen Richtungen. Einige Globalhistoriker schlagen schon vor, den Begriff gänzlich fallen zu lassen: Er beziehe sich unterschwellig allein auf europäische Erfahrungen, sei also gar zu »eurozentrisch«. Postkoloniale Anthropologen wiederum – eine ihrer Parolen lautet »Europa als Provinz« – wenden ein, dass offener Rassismus und rücksichtslose Ausbeutung die vorgeblich humanen Ziele des imperialen Modernisierungsprojekts unterminiert hätten. Gleichzeitig betonen Wissenschaftler und Philosophen wie etwa Zygmunt Bauman, die den Holocaust und seine Hintergründe erforschen, selbst ethnischen Säuberungen und Massengenoziden wohnten beträchtliche Elemente von Modernität inne; der vermeintlich gutartige Prozess habe also zumindest eine dunkle Kehrseite. Umwelthistoriker schließlich heben mit Blick auf die »Grenzen des ökonomischen Wachstums« den unvermeidlichen ökologischen Schaden hervor, den ungezügelte Urbanisierung und wirtschaftliche Entwicklung anrichteten. Einst war die »Modernisierung« ein weithin geteiltes Ziel; seit der Intervention dieser Kritiker, könnte man sagen, ist sie ein intellektuelles Problem.
Statt auf den Terminus komplett zu verzichten, wäre es produktiver, sich der Moderne aus einer kritischen historischen Perspektive zu nähern. »Es gibt«, schreibt der Historiker Jürgen Kocka zu Recht, »keinen anderen Begriff, der eine ganze Epoche so suggestiv, assoziationsreich und kraftvoll in diachrone Prozesse langfristigen Wandels einzuspannen vermag.« Den Terminus zu historisieren, heißt auch, seine Bedeutung zu dekonstruieren, die sich ja verschiebt, je nachdem, wann, wo und vom wem er benutzt wird. Eine solche Perspektive offenbart eine Vielzahl konfligierender zeitgenössischer Bezugnahmen auf den Begriff, aber auch einen erstaunlich exzessiven, freilich oft unkritischen Gebrauch desselben in der wissenschaftlichen Literatur. Wichtiger noch: Die Existenz mehrerer miteinander wetteifernder Modelle – liberaler, kommunistischer und faschistischer – zur Erfassung ökonomischer und politischer Entwicklungen legt eine Pluralisierung des Begriffs nahe, so dass von »multiplen Modernen« gesprochen werden sollte. Außerdem enthüllt eine solche Annäherung die grundlegende Ambivalenz der Veränderungen, die einerseits enorme Erleichterungen, andererseits aber furchtbares Leiden brachten. Statt »Moderne« als selbsterklärenden Standard der Zivilisation zu setzen, werden meine Reflexionen sie als ein komplexes Problem behandeln, das der historisierenden Annäherung bedarf.
Um die Verzweigungen dieses Begriffs zu erkunden, rücke ich vier zentrale Dimensionen besonders in den Fokus. Erstens diskutiere ich die verschiedenen Bedeutungen des Adjektivs »modern« als Bezugnahmen auf eine historische Periode und auf eine stetig sich wandelnde Gegenwart. Zweitens analysiert dieses Buch den Terminus »Modernisierung« als Beschreibung des Vorgangs des Modernwerdens; schließlich wurde er oft als Etikett für politische Bemühungen benutzt, eine »rückständige Gesellschaft« transformativ nach vorn zu bringen. Man denke an die damaligen Versuche, ›aus Bauern Franzosen zu machen‹. Drittens studiere ich das Phänomen der »Modernität« im Kulturbereich. Immer wieder behaupten rivalisierende künstlerische Bewegungen, besonders Innovatives zu leisten; dabei haben sie nichts miteinander gemein außer dem Verwerfen der Tradition, denn die avantgardistischen Konzepte, die sie ihr entgegenhalten, fallen höchst unterschiedlich aus. Viertens analysiere ich den allgemeinen Begriff »Moderne« als ausdrückliche Zukunftsvision; »Moderne« war damit eine Projektionsfläche für – wiederum höchst verschiedene – Bilder eines besseren Lebens. Die vielfältigen Konnotationen dieser sprachlich so eng verwandten Konstrukte bieten wertvollen Aufschluss hinsichtlich der Frage, wie das uralte Streben nach Fortschritt im 20. Jahrhundert ausgesehen hat.
Mit den rapiden Innovationen der Moderne konfrontiert, erlebten die Europäer die Dynamik dieser Transformationen als Aufeinanderfolge so beglückender wie verstörender Beschleunigungen in ihrem immer schneller werdenden Alltag. Manche wissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Durchbrüche, etwa das Automobil oder das Flugzeug, lösten erregte, ja stolze Begeisterung aus, denn sie eröffneten unvermutete Zugänge zu Geschwindigkeit und Kraft. Damit schwanden Barrieren, die jahrhundertelang die Mobilität des Menschen eingeschränkt hatten. Andere Errungenschaften wie die Fließbandarbeit oder das Flächenbombardement flößten den Leuten Furcht ein, denn sie ermöglichten in erschreckendem Maße wirtschaftliche Ausbeutung hier und Massentötungen im Krieg dort. Immer wieder produzierte dieses unaufhaltsame Streben nach Fortschritt Umbrüche mit ungewissem Ausgang, und immer wieder...