Einleitung:
Ein Traumabuch für jene an vorderster Front
Ich verbrachte meine Kindheit in einem traumatisierten Zustand, obwohl ich mich erst im Alter von fast 40 Jahren überhaupt an traumatisierende Ereignisse oder meine wahren Gefühle zu erinnern begann, und heilen konnte ich diese Wunden erst mit Mitte 50. Im Laufe der Suche nach etwas, das mir dabei helfen würde, las ich etliche Bücher über Traumen. Einige davon enthielten hie und da ein paar Bröckchen an nützlichen Informationen, die meisten jedoch ließen mich unbefriedigt zurück. Sie mögen von meinen Symptomen gesprochen haben, aber sie sprachen mich nicht an.
Als Schriftstellerin, die das Gefühl hatte, dass Traumaüberlebende Informationen benötigen, die gezielt auf das zugeschnitten sind, was sie brauchen, beschloss ich, selbst ein Buch zu schreiben. Ich wollte die Berge von Informationen sichten und mehr oder weniger das Wissenswerteste in einer Kurzfassung zusammentragen. Auch wenn ich zugelassene Psychotherapeutin bin, schreibe ich ebenso viel von der anderen Seite des Schreibtischs, aus einer Position, aus der heraus ich mich persönlicher äußern kann. Ich weiß, wie es ist, verletzlich zu sein. Ich weiß, wie es ist, Hilfe zu brauchen. Ich weiß etwas über diese Reise – nicht aus der sicher(er)en Distanz der Therapeutenrolle, sondern aus der Perspektive, mittendrin zu sein.
Das große Trauma-Selbsthilfebuch wurde in erster Linie für Menschen geschrieben, die bedeutende Lebenstraumen durchgemacht haben und Hilfe in Anspruch nehmen möchten, um Traumen besser zu verstehen und zu erfahren, was sie zur Förderung ihrer eigenen Heilung tun können. Natürlich werden auch PartnerInnen der Betroffenen sowie TherapeutInnen verschiedener Art von diesem Buch profitieren. Ich bitte Sie um Verständnis, dass ich mitunter aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männliche Form von Begriffen wie Therapeut, Partner und so weiter verwende – selbstverständlich sind damit stets auch Therapeutinnen, Partnerinnen und so fort gemeint.
Der ganzheitlich orientierte Führer, den Sie hier in der Hand halten, kann Ihnen helfen, mit auftretenden störenden Auswirkungen eines Traumas umzugehen und einen umfassenderen Plan für eine vollständige Heilung aufzustellen. Dieses Buch wird
- Sie besser verstehen lassen, was es mit Traumen auf sich hat und warum sie derartige Auswirkungen haben;
- Sie mit praxisbezogenen Selbsthilfe-Tools ausstatten;
- die Aufgaben der Heilung klarstellen und so einen Verständniskontext schaffen, der zeigt, warum zahlreiche Therapien, persönliche Ressourcen und Selbsthilfe-Tools benötigt werden;
- Sie bei einer Therapie begleiten oder vielleicht in die Therapie führen, indem es Ihnen hilft, verschiedene Optionen einzuschätzen und die beste verfügbare Hilfe zu finden;
- Hoffnung auf Heilung spenden und einige Wegweiser dazu bereitstellen, wie diese aussieht;
- verschiedene spirituelle Themen in Verbindung mit Traumen erörtern – etwa, wie Spiritualität uns hilft, wie sie missbraucht werden kann und welche spirituellen Herausforderungen und Chancen mit Traumen verbunden sind sowie
- eine breite Palette an Sichtweisen und Tools zur Verfügung stellen, so dass Sie das Beste von unterschiedlichen Ansätzen mitnehmen können, die in der Regel nur allein angeboten werden. Sie erhalten eine abgespeckte Version somatischer (auf dem Körper basierender) und kognitiver Ansätze sowie ein Verständnis davon, wie unerfüllte Entwicklungsbedürfnisse infolge einer Störung durch frühe Traumen angegangen werden müssen und können.
Den Mechanismus von Traumen zu verstehen, ist eine hilfreiche Sache. Es hilft, das zu normalisieren, was Überlebende durchmachen und sich einiges von dem zu erklären, was derart verwirrende und destabilisierende Gefühle auslöst. Ich weiß von Traumaüberlebenden, die die Erinnerung an den Hergang des Traumas noch nicht wiedererlangt haben, und doch zieht sich der Fußabdruck des Traumas durch ihr ganzes Leben. Diese Fußabdrücke zu verstehen und mehr über den Heilungsprozess in Erfahrung zu bringen, kann selbst dann helfen, wenn die Betreffenden nichts Konkretes über die von ihnen erlebten traumatischen Ereignisse wissen.
Sich Traumen anderer anzuhören ist besonders schwierig, wenn man selbst viel Traumatisierendes erlebt hat. Ihr Nervensystem als Betroffene(r) ist kein unbeschriebenes Blatt, und Sie haben vielleicht nicht die Robustheit von Menschen, an denen es scheinbar komplett abperlt, wenn sie von solchen Vorfällen hören. Vor diesem Hintergrund habe ich im Hinblick auf den Inhalt dieses Buches zwei Entscheidungen getroffen.
Die erste lautet, dass ich keine Traumageschichten erzählen werde. Viele Bücher über Traumen sind voll von solchen Charakterskizzen – wer so etwas sucht, dem bietet sich eine breite Auswahl. Ich glaube, allein schon etwas über die Mechanismen bei Traumen zu lesen, ist eine solche Herausforderung, dass ich Sie nicht auch noch mit persönlichen Geschichten überfluten muss. Der Haupttext enthält durchaus gewisse Episoden und ein paar ausführlichere Heilungsprofile, ohne Sie jedoch in traumatische Ereignisse hineinzuführen. In einem Kapitel beziehe ich auch meine eigene Geschichte mit ein, die Sie selbstverständlich überblättern können, ohne dass es dem grundlegenden aufklärerischen Ansatz dieses Buches etwas nehmen würde. Mein Bericht konzentriert sich primär auf meinen Heilungsweg, und nicht auf eine nochmalige detaillierte drastische Schilderung traumatischer Ereignisse, die ich unnötig aufwühlend finde.
Selbst bei einer derart »abgespeckten« Herangehensweise werden Sie eventuell merken, wie Sie etwas aufwühlt oder wie Sie dichtmachen, woraufhin es vielleicht Ihr Lesetempo entsprechend abzustimmen gilt. Das können Sie erreichen, indem Sie für eine Weile bewusst an etwas anderes denken und etwas Beruhigendes tun oder indem Sie durch Gespräche und Tagebuchschreiben verarbeiten, was bislang bei Ihnen angekommen ist.
Meine zweite Entscheidung war die, mich möglichst kurz zu fassen. Wenn Sie gerade dabei sind, sich von einem Trauma zu erholen, haben Sie nun wahrlich schon genug zu tun und wahrscheinlich weder die Zeit noch die persönlichen Kapazitäten, um einen dicken Theoriewälzer auf etwas zu durchforsten, was Sie praktisch anwenden können. Meine Intention ist die, immer dafür zu sorgen, dass das Buch praxisbezogen bleibt. Ich bemühe mich, die zu diesem Thema greifbaren Informationen so zu verschlanken, dass ein sozusagen mundgerechtes Stück zurückbleibt, mit dem sich die Heilung unterstützen lässt. Dies ist ein Buch für diejenigen von uns, die selbst im Schützengraben liegen, nicht für das Publikum, das man an Universitäten oder in Fachkonferenzen findet. Dieser Idee folgend habe ich den entsprechenden Fachjargon so weit wie möglich vermieden. Ein Glossar hinten im Buch liefert Definitionen einiger der Begriffe, die Sie vielleicht erklärt haben oder schnell nachschlagen möchten. Alle Begriffe, die in das Glossar aufgenommen wurden, tauchen bei der ersten Erwähnung im Text (nach dieser Einleitung) in Kursivschrift auf. Außerdem wurden Textpassagen von mir mit Endnoten versehen, die Sie vielleicht überfliegen möchten.
In den ersten vier Kapiteln wird das Terrain von Traumen dargelegt, bevor wir uns mit den Aufgaben der Traumaheilung befassen. Kapitel 1 beginnt mit einigen grundlegenden Fakten darüber, was Trauma bedeutet und warum Traumen sich so sehr auf uns auswirken. Kapitel 2 skizziert die physiologische Grundlage von Traumen. Diese physiologische Komponente zu verstehen, hilft uns, die Symptome oder »Fußabdrücke« von Traumen zu erfassen, die in Kapitel 3 beschrieben werden. Das letzte Kapitel dieses Teils gibt uns einen Überblick über Störungen, die oft mit Traumen einhergehen und umreißt kurz die kollektiven Kosten von Traumen.
Kapitel 5 beschreibt den Weg zur Heilung, welche Aufgaben er beinhaltet und welche Ressourcen hierzu erforderlich sind. Kapitel 6 hilft Ihnen, die bestmöglichen Personen auszusuchen, die Sie auf Ihrem Weg unterstützen sollen, und Kapitel 7 enthält Kurzbeschreibungen bestimmter Interventionen. Ob Sie mit einem Psychotherapeuten arbeiten oder allein – Sie werden Hilfsmittel brauchen, um mit Traumasymptomen umzugehen, vor allem mit Zuständen der Aktivierung und Dissoziation. Genau das bietet Kapitel 8. Kapitel 9 ist mit »Tools für den Alltag« überschrieben und zeichnet ein umfassenderes Bild von Strategien, sich ein Leben aufzubauen, dass Ihnen bei der Stabilisierung hilft, als Gegengewicht zu den Auswirkungen des Traumas und damit es Sie möglichst wenig im Griff hat.
Für Traumaüberlebende kann Spiritualität sowohl eine unvergleichlich wertvolle Ressource darstellen als auch nicht ganz unproblematisch sein – manchmal auch beides. Kapitel 10 befasst sich mit genau diesen beiden Facetten und entwirft Ansätze einer integrierten Spiritualität, die Teil unseres Unterstützungssystems ist, ohne gleichzeitig zu einem Element unseres Abwehrsystems zu werden.
Kapitel 11 wirft einen Blick auf das Leben nach der Heilung des Traumas und legt dar, was es bedeutet, Traumen zu meistern. Danach kommt meine eigene Geschichte (Kapitel 12), gefolgt von einigen nützlichen Hinweisen, einer Aufstellung weiterer Ressourcen und einem Anhang mit einer Kurzdarstellung von diversen Ansätzen therapeutischer Körperarbeit.
Es gibt eine Reihe von Übungen in diesem Buch, bei denen es Ihnen überlassen ist, ob Sie sie durchführen oder nicht. Zudem gibt es immer wieder Stellen im Text, die dazu einladen, erst einmal innezuhalten, das Gelesene sacken zu...