Einleitung:
Das Zeitalter der Fitness
Wir leben im Zeitalter der Fitness. Zehntausende starten bei Marathonläufen und Jedermann-Radrennen, Millionen joggen abends noch eine Runde im Park oder trainieren in Fitnessstudios, arbeiten dort mit Gewichten und Geräten oder machen Yoga, und Aktivurlaube aller Art sind so populär wie noch nie. 1970 war das so noch kaum denkbar. Wanderurlaube waren etwas für Rentner und das Windsurfen gerade erst erfunden, der Berlin-Marathon existierte noch gar nicht. Die wenigsten Erwachsenen besaßen ein Fahrrad, die Zahl der Fitnessstudios in Deutschland und selbst in den USA konnte man an einer Hand abzählen. Doch seitdem boomt Fitness. Führen wir uns nur die Dimensionen des Fitnessmarktes vor Augen. Allein in Deutschland haben Aktive (und solche, die aktiv erscheinen wollen oder sich zumindest vornehmen, aktiv zu sein) im Jahr 2015 über 50 Milliarden Euro für Fitnessartikel ausgegeben: für Laufschuhe und Funktionskleidung, Hanteln und Karbonfahrräder, Energiedrinks und Diätnahrung. Ebenso hoch im Kurs stehen Fitnesskurse und Aktivreisen, Trainingsmagazine und Bücher, Apps und Gadgets. Fitnessstars wie Kyla Itsines – um hier nur eine von vielen zu nennen – haben Millionen Follower auf Instagram; Bilder von austrainierten Körpern sind in den sozialen Medien ein Hit.[1]
All den »fittenden« Menschen ist gemein, dass sie aktiv sind, sich aber nur selten in Vereinen oder Clubs organisieren. Sie spielen nicht in einer bestimmten Klasse oder Liga, und es geht ihnen fast nie ums Gewinnen, und trotzdem wollen sie sich alle irgendwie verbessern. Sie betreiben keinen Sport im Sinne eines organisierten Wettbewerbssports, wie er sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von England aus in modernen Gesellschaften verbreitet hat.[2] Wer Fitnesstraining betreibt, will keine Medaille gewinnen. Fitnesstraining zielt vielmehr auf einen fitten Körper. Der wiederum steht für verschiedene, sich teilweise überlagernde Kräfte, Fähigkeiten und Ideale, die weit über das Sporttreiben hinausweisen. Da sind Gesundheit und Leistungsfähigkeit in Alltag und Job zu nennen, Produktivität und Kampfbereitschaft, Potenz, Schlankheit und normschönes Aussehen. Es geht außerdem darum, »das Richtige« und sich »etwas Gutes« zu tun, »das Beste« aus sich rauszuholen und dafür Anerkennung zu erhalten. Manchmal geht es auch um die Freude an Bewegung und Aktivität, wobei die verschiedenen Antriebskräfte einander nicht ausschließen.
Das Streben nach Fitness[3] ist Teil einer Kultur und Gesellschaft, in der zugleich über zunehmend dicke Körper geklagt wird. Im 21. Jahrhundert wird Dicksein sogar als epidemisch bezeichnet, und Gesundheitsprobleme wie Diabetes Typ 2 oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind ein Dauerthema. Vor allem in westlichen Gesellschaften, aber mittlerweile auch weltweit habe der Bewegungsmangel »erschreckende Ausmaße«[4] angenommen, ist ständig zu vernehmen. Der sogenannte sitzende Lebensstil sowie ungesunde, kalorisch dichte Ernährung gelten als Hauptursachen zunehmenden Dickseins. Es gibt also einerseits eine Kultur der Fitness, andererseits den sorgenvollen Blick auf Bewegungsmangel und um sich greifende Fatness. Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinschauen als Teil einer einzigen gesellschaftlichen Formation. In deren Zentrum steht das selbstverantwortliche, leistungsbereite und leistungsfähige Individuum. Beide Seiten dieser Medaille (die Kultur der Fitness wie die Furcht vor dem Fett) kreisen um das erfolgreiche Selbst, das sich in der Ermächtigung über den eigenen Körper als erfolgreich zeigt (oder eben nicht). Mangelnde Fitness ist das Menetekel (post)moderner Gesellschaften.
Um unser Zeitalter der Fitness genau zu verstehen, wird in diesem Buch auf die Geschichte geschaut. Die Frage nach dem Heute historisch zu stellen heißt, die Geschichte als Raum zu begreifen, »in dem die Gegenwart geformt wurde«.[5] Wir müssen die Geschichte bemühen, um die eigene Gegenwart greifen, ihre Probleme und Paradigmen identifizieren und kritisch an ihren Kontroversen teilhaben zu können.
Dies bedeutet, das Thema Fitness mit dem Projekt des freien, selbstverantwortlichen Individuums und seiner Geschichte zu verknüpfen. Denn Fitness, das zeigt sich in diesem Buch, steht für gelebte Selbstverantwortung und trägt dazu bei, diese als Ideal zu festigen. Eine Geschichte der Fitness zu schreiben bedeutet auch, den historischen Konjunkturen von Wettbewerb und Leistung nachzugehen und nach ihrer Bedeutung für moderne Gesellschaften, für deren Organisation und für die Teilhabe verschiedener Menschen zu fragen. Dabei sind Körperform und Gesundheit sowie deren Verhältnis zueinander wichtige Parameter. Vor allem aber ist eine Geschichte der Fitness eine Geschichte des Körpers als Gesellschaftsgeschichte: eine Geschichte der Werte und Normen, der Wissens- und Diskursordnungen, der Repräsentationen und Figurationen, der Technologien und Praktiken des Körpers. Eine solche Körpergeschichte zeigt, wie Menschen über ihre Körper zur Gesellschaft ins Verhältnis gesetzt werden und wie sie dies auch selber tun.[6]
Meine Beobachtungen konzentrieren sich auf die jüngste Geschichte seit den 1970er Jahren. Das letzte halbe Jahrhundert kann als das Zeitalter der Fitness gelten, das keineswegs zufällig mit dem Zeitalter des Neoliberalismus zusammenfällt. Neoliberalismus dient hier nicht als pauschalisierender Kampfbegriff, sondern vielmehr als Bezeichnung einer Epoche, die sich vor allem am Modell des Marktes ausrichtet, jede Lebenslage als Wettbewerbssituation deutet und Menschen dazu auffordert, ihre Freiheit erfolgreich zu nutzen. Damit beschreibt Neoliberalismus eine bestimmte Weise, Gesellschaft und Subjekte zu denken, deren Verhalten zu verstehen und als angemessen oder unangemessen einzuordnen. Das Individuum soll an sich arbeiten, das Leben im Griff haben, sich fit machen, für die eigene Leistungsfähigkeit Sorge tragen und diese im wahrsten Sinne des Wortes verkörpern. Diese Anforderung hat im Neoliberalismus eine nie gekannte Wucht entfaltet.[7] Fitness ist überall. Fitness, so ließe sich mit dem Philosophen Michel Foucault formulieren, ist ein Dispositiv – und damit genau jene Kraft, die Diskurse und Praktiken, Institutionen und Dinge, Gebäude und Infrastrukturen, administrative Maßnahmen, politische Programme und vieles mehr zusammenbindet, so dass sie eine epochenprägende Kraft entfalten.[8]
Ich greife aber auch weiter in der Geschichte zurück, um das Zeitalter der Fitness verstehen zu können. Bisweilen führen die Spuren bis in das 18. Jahrhundert, wenn es etwa um die Idee von Freiheit und Selbstbestimmung geht oder um die Disziplinierung des soldatischen Körpers. Doch nicht nur der Soldat, auch der neue Bürger sollte diszipliniert und aufrecht sein, nicht übersättigt, degeneriert und körperlich träge wie der Adel oder geschunden und gebückt wie der dritte Stand.[9] Auch die Mitte des 19. Jahrhunderts fordert in einer Geschichte der Fitness bisweilen besondere Aufmerksamkeit. Dies ist die Zeit, als der Darwinismus, das survival of the fittest und die Vorstellung naturnotwendigen Wettbewerbs die Bühne betraten. Und in den Jahrzehnten um 1900 erlebten moderne Gesellschaften erstmals einen Fitnesshype. Zugleich waren sie von einem Krisenszenario geplagt, das auch als Krise des Körpers erfahren wurde. Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert ist dabei für eine Gegenwartsgeschichte der Fitness in vielerlei Hinsicht wegweisender als der Körper- und Leistungskult von Faschismus und Nationalsozialismus. Oft rücken auch die 1950er und 1960er Jahre ins Zentrum der Betrachtung. Nach Jahren von Krise und Krieg gab man sich auf beiden Seiten des Atlantiks wieder den Freuden des Konsums hin. Damit aber kamen sogleich Sorgen um dessen schädliche Folgen für Körper, Gesundheit und Leistungsfähigkeit auf.
Die Geschichte der Fitness, die in diesem Buch erzählt wird, ist eine kritische Geschichte. Dies bedeutet, dass hier die Ambivalenzen von Fitness in den Blick genommen werden. Es wird aufgezeigt, wie über Fitness – verstanden als die Freiheit, am Körper und am erfolgreichen Selbst zu arbeiten – »regiert« wird. Dies heißt, Freiheit nicht nur als menschliches Grundrecht und Chance zu preisen. Vielmehr ist Freiheit mit der an uns alle gerichteten Anforderung verknüpft, ebendiese produktiv und bestmöglich zu nutzen. Über den Erfolg oder Misserfolg, den Menschen dabei erfahren, werden Differenzen etabliert, Ausschlüsse vorgenommen und Privilegien legitimiert.[10] Das Mit- und gleichzeitige Gegeneinander von Fitness und Fatness, ihrer Bedeutungen und Assoziationen zeigt die vielfältigen Spannungen, die das Regieren über Freiheit mit sich bringt. Fitness und Fatness haben wesentlichen Einfluss darauf, ob ein Mensch als Mitglied der Gesellschaft Anerkennung erfährt; darauf, wer als Subjekt gelten kann und wer nicht.[11]
Ich werde Fitness in diesem Buch immer wieder in »der Moderne« verorten, als deren Kennzeichen und regulierendes Ideal beschreiben. Moderne Gesellschaften haben ständige Optimierung und Erneuerung zu einer ihrer Maximen und Leistungen erklärt, und Fitness postuliert die...