Sabbatical – endlich fremdbestimmt!
Friederike
Als wir auf Kuba, der ersten Station unserer Reise, ankommen, sehr spät abends, und die halbe Nacht an diesem unglaublichen Strand mit dem noch viel unglaublicheren Sternenhimmel über uns sitzen, finden wir am allerunglaublichsten, dass wir jetzt tatsächlich: FREI sind. Dass neun Monate vor uns liegen, in denen wir tun und lassen können, was wir wollen. Keine Zwänge mehr, niemand, der vorgibt, was gemacht werden muss. Dass wir uns von jetzt an wirklich nur noch treiben lassen können.
Was wir, frisch aus dem deutschen Alltag ins Reiseabenteuer gepurzelt, allerdings noch nicht ahnen: Mit dieser Freiheit auf Reisen, das ist so eine Sache. Schon bald wird Fremdbestimmung – viel mehr als zu Hause, oder sagen wir besser, auf eine ganz andere Art und Weise – zu unserem Alltag gehören. Gerade Kuba hat dieses System perfektioniert; wenn man wollte, könnte man sich hier einfach wochenlang durchreichen lassen, von einem Bekannten zum nächsten Freund. Manchmal ist es etwas anstrengend, sich dagegen zu wehren – und wir beide beschließen meistens schnell, nicht allzu viel Energie darauf zu verwenden.
Für unsere Auszeit gilt: Der Eintrittspreis zur großen Freiheit sind die vielen kleinen. Täglich müssen etliche Entscheidungen getroffen werden, wichtige und unwichtige – da ist es manchmal auch ganz nett, wenn sie einem abgenommen werden.
Was man dabei gewinnt, ist ein völlig neues Gefühl für Urvertrauen. Wirf dein Herz voraus – und du wirst Dinge erleben, die dir sonst nicht passiert wären, du wirst interessante Begegnungen haben, du wirst geheime Plätze entdecken und, und das ist das Wichtigste, einen Riesenbatzen Herzenswärme zurückbekommen.
Kuba, diese bunte sozialistische Insel, die »DDR unter Palmen«, ist unsere beste Lektion in Sachen Fremdbestimmung.
Nach ein paar Tagen in Varadero wollen wir nach Trinidad an der Südküste – einmal quer über die Insel. Reisen geht hier so: Man geht zum großen Busterminal, um für den nächsten Tag ein Busticket zu kaufen. Bevor man es jedoch überhaupt bis zum Schalter schafft, wird man von einer Armada von Taxifahrern abgefangen, die einem Fahrten »a mismo prezio«, zum selben Preis wie die Busfahrt, aufdrängen. Tritt man aus dem Terminal wieder heraus, hat man einen Fahrer engagiert – oder umgekehrt –, der einem sagt, um wie viel Uhr man fertig zu sein habe.
Am nächsten Morgen sitzen wir also brav mit gepackten Rucksäcken vor unserem Hotel und – warten erst mal, claro, sind ja in der Karibik hier. Als wir gerade überlegen, ob wir einen neuen Fahrer anheuern sollen, kommt das Taxi doch noch um die Ecke. Wir quetschen uns zu zwei italienischen Jungs auf die Rückbank. Nachdem der Motor repariert/kurzgeschlossen/ gekühlt ist, kann es auch schon losgehen.
Coco, unser Fahrer, ist ein bisschen wahnsinnig. Er brettert mit uns in einem Irrsinnstempo quer durch Kuba, und dazu läuft in ohrenbetäubender Lautstärke Salsa und Merengue. Nach zwei Stunden habe ich vage Halluzinationen von Musikfolter in Gefängnissen, nach drei Stunden ist das Hirn weichgedudelt.
Die Straßen, schlaglochübersäte bessere Feldwege, führen mitten durch kleine Dörfer hindurch, wo wir ohne erkennbaren Grund mal links, mal rechts abbiegen, mitten durch Wohnviertel – und das vier Stunden lang. Ich sehe in der gesamten Zeit fünf Straßenschilder; mit einem Mietwagen wären wir wohl tagelang im Kreis gefahren. Immer wieder stehen große Menschentrauben an Kreuzungen oder Tankstellen und warten darauf, mitgenommen zu werden. Ein Auto können sich nur wenige Kubaner leisten, öffentliche Verkehrsmittel funktionieren kaum. Am Wegesrand grasen abgemagerte Pferde, überhaupt sind Pferde das allgegenwärtige Haupttransportmittel – überall fahren kleine Kutschen herum, auch in den Städten. Wie die Leute ihre Pferde wiederfinden, wenn sie da so im Nirgendwo an der Straße stehen (nur selten ist mal eins angebunden, und um sie herum ist nur kilometerweite Weite), ist mir ein Rätsel. Ich denke eine Weile darüber nach und beschließe irgendwann: Diese Pferde gehören gar niemandem, man besitzt hier kein spezielles Pferd, sondern man nimmt einfach immer das nächstbeste, wenn man gerade eins braucht. Wir leben schließlich im Kommunismus.
Nachdem er uns für eine halbe Stunde an einer Tankstelle vergessen hatte, nimmt Coco wieder seine halsbrecherische Fahrt auf, eine Hand ständig an der Hupe. Das hat nichts mit fröhlich-exotischer Karibik zu tun, wie wir Deutschen es so gern mögen – dieser Mann ist eindeutig hupneurotisch. Im Lauf der Zeit versuche ich herauszufinden, wann genau Coco hupt. Hier meine Ergebnisse: a) Wenn er überholen will, b) wenn ein Fahrzeug es wagen könnte, möglicherweise vor uns auf unsere Straße einzubiegen, c) wenn er sich von hinten Radfahrern, Kutschen und Fußgängern nähert, d) wenn er sich ebenjenen von vorne nähert, e) zum Gruß bei ungefähr allen vorbeifahrenden Transportmitteln, f) zum Gruß bei ungefähr allen Einwohnern der Dörfer, durch die wir fahren, g) wenn wir an gottverlassenen Haciendas vorbeifahren, h): Ich gebe auf.
So tuten und dudeln wir uns jedenfalls durch die Gegend, bis wir ziemlich ermattet in Trinidad ankommen. Philipp und ich hatten uns im Reiseführer ein nett klingendes Casa Particular, ein Gästezimmer bei einer Familie, ausgesucht, da soll Coco uns hinfahren. Das war so unsere Idee von Taxifahren. Coco sieht das anders: Seine Cousine vermietet auch ein Zimmer, das ist garantiert besser, er fährt uns jetzt erst mal dahin und wir gucken das zuerst an. Es fühlt sich nicht so an, als hätten wir eine Wahl. Aber ja, das Zimmer bei Marina gefällt uns, es gibt Frühstück auf der Dachterrasse; wir bleiben.
Im Gästebuch des Casa hat jemand hinterlassen: »Trinidad is a tourist trap. But a nice one.« Besser kann man es nicht ausdrücken. Es ist eine sehr touristische Stadt, und man hat immer ein bisschen das Gefühl, durch ein eigens hergerichtetes Katalog-Kuba zu wandeln, ein Disneyland des Kolonialstils, aber das ändert ja nichts daran, dass es wunderschön ist. Außerdem auch extrem entspannt. Die Uhren ticken hier, wie generell auf Kuba, tatsächlich irgendwie langsamer. Wir genießen diese lockere, angenehme Atmosphäre und lassen uns mit Mojito para llevar durch die Gassen treiben.
Am zweiten Tag fahren wir per Cocotaxi – nicht zu verwechseln mit Cocos Hup-Salsa-Taxi; das sind kleine gelbe Halbkugeln auf Rädern, in denen man wie in einem Sechzigerjahre-James-Bond-Sessel Platz nimmt – zum zwölf Kilometer entfernten Strand. Meer, Himmel, Sonne, Ruhe, herrlich. Bis Philipp an der Strandbar steht und ein »Eeeh, amigo!« hinter sich hört. Da steht tatsächlich, strahlend: Coco, der wahnsinnige Taxifahrer. Oh, äh, hallo. Schön, dich wiederzusehen … Dass wir später mit ihm zurück in die Stadt fahren, versteht sich von selbst; nichts, worüber man unnötige Worte verlieren müsste. Ganz so wie eine Katze sich ihren Besitzer selbst aussucht, scheint es sich hier mit Taxifahrern und ihren Fahrgästen zu verhalten.
Als Coco uns bei Marina absetzt, haben wir irgendwie für den nächsten Tag einen Ganztagesausflug mit ihm verabredet, keine Ahnung, wie das passieren konnte. Aber er möchte eben, dass wir möglichst viel von Kuba kennenlernen – dass das Honorar für so einen ganzen Tag bei Weitem den Monatslohn der meisten Kubaner übersteigt, ist für ihn natürlich völlig nebensächlich. Generell ist den Kubanern sehr daran gelegen, ihren Besuchern die schönsten Seiten ihrer Insel zu zeigen. Ob man selbst genau diese Seiten sehen wollte oder vielleicht andere Pläne hatte, ist für sie eher zweitrangig.
Sozialismus ist Turbokapitalismus hinter vorgehaltener Hand. Die Hand liegt auf Castros Augen. Und er schaut durch einen Fingerspalt hindurch und denkt: »Na, läuft doch.« (P.)[1]
Coco jedenfalls entlässt uns an diesem Abend mit der Ansage, wann wir morgen früh fertig zu sein haben. Na gut, warum nicht mal ein bisschen Umgebung und Natur kennenlernen. Und so verbringen wir schon den dritten Tag mit unserem neuen Freund und seinem ohrenbetäubenden Salsa-Gedudel. Wir sehen einen Mann mit einer Tarantel in einer Schachtel, mit der man für einen CUC Fotos machen kann. Wir wandern drei Stunden lang durch den Dschungel – es sind nur 2,5 Kilometer, aber es geht so dermaßen über Stock und Stein und bergauf, bergab, dass wir am Ende (dieses Klima!) völlig abgekämpft am Höhepunkt der Wanderung, einem Wasserfall, ankommen. Zum Glück wartet Coco in dieser Zeit im Taxi; ich will mir gar nicht ausmalen, wie wir unter seiner Führung durch den Dschungel gehetzt wären.
Und wir lernen ein Paar kennen, von dem die eine Hälfte (Alberto, Kubaner) warmherzig und relaxt ist und die andere Hälfte (Doris, Schwäbin) gemein und hektisch. Wir laden sie ein, mit uns zurück nach Trinidad zu fahren. Für uns ganz logisch: Super, wir sind zu viert, lasst mal die Taxikosten teilen! Am Morgen hatten wir mit Coco einen Fixbetrag für den ganzen Tag ausgehandelt – wobei, was heißt ausgehandelt. Coco nannte eine Zahl, und wir sagten: »Sí, vale.« Als wir jetzt zu viert aus dem Dschungel zurückkehren, ist Coco überhaupt gar nicht begeistert. Seine Logik lautet: Je voller das Taxi, desto mehr Spritverbrauch, ergo höherer Fahrtpreis. Doris – wir erinnern uns, sie ist aus Schwaben – akzeptiert das mit dem höheren Preis...