1. Die Suche nach dem Ursprung im Karolingerreich: Die Älteren Welfen in Burgund und in Schwaben (9.–11. Jh.)
819 begegnet die Familie der Welfen erstmals in der Überlieferung. In zweiter Ehe heiratet Kaiser Ludwig der Fromme (814–840), Sohn Karls des Großen, Judith, die Tochter eines Grafen oder Herzogs Welf aus Bayern und seiner Frau Heilwig, einer gebürtigen Sächsin. Von großer Schönheit sei Judith gewesen, berichtet ein Zeitgenosse. Vor allem aber gehörte sie besten Kreisen an. Genaueres ist darüber nicht auszumachen, aber die Wahl des verwitweten Kaisers war auf die Angehörige einer Familie gefallen, die am Hofe bekannt, im ausgedehnten Reich der Karolinger begütert war und deswegen wohl auch politisch einflussreich gewesen sein dürfte. Die Familie der Welfen gehörte der Reichsaristokratie an, die die Herrschaft der Kaiserfamilie stützte, den Karolingern gegenüber aber auch politische Mitwirkungsrechte geltend machte: den Konsens zur herrscherlichen Politik oder eben dessen Verweigerung.
Wie sehr die Familie der Judith im Zentrum des karolingischen Adels stand, wird an einer zweiten, nicht weniger spektakulären Hochzeit deutlich. Judiths jüngere Schwester Hemma heiratete etwa 825/827 Ludwigs des Frommen Sohn, den späteren König Ludwig II. «den Deutschen» (833/840–876). Bemerkenswert daran ist nicht nur, dass ihre ältere Schwester gleichzeitig zur Stief-Schwiegermutter Hemmas wurde, sondern wichtiger ist, dass in kaum zehn Jahren eine zweite Heirat der Welfen in die Familie der Karolinger zustande kam. Die Welfen, eben aus dem Nichts der frühmittelalterlichen Quellenüberlieferung aufgetaucht, muss man sich als eine der führenden Familien vorstellen, aus denen Ehepartner zu gewinnen für die Angehörigen des Kaiserhauses ebenso attraktiv wie naheliegend gewesen sein muss.
Nahezu zwölf Jahrhunderte später hat eine geschichtswissenschaftlich avancierte Forschung die Voreingenommenheit früherer Vermutungen über die Herkunft der Welfen beiseite geräumt. Man hat gelernt, sehr verschiedene und scheinbar unvereinbare Detailinformationen zu einem plausiblen Bild der Herkunft dieser Familie zu verdichten. Immer noch bleibt manches spekulativ, aber es hat sich ein Konsens herausgebildet, wonach zwei verhältnismäßig gut belegte Grafen namens Ruthard und Warin aus der Mitte des 8. Jahrhunderts zu den Vorfahren Welfs und seiner Töchter Judith und Hemma zu zählen sind. Sie amtierten in Alemannien und mögen dort auch zu Hause gewesen sein, jedenfalls waren sie dort ebenso begütert wie in Franken und Thüringen. Und nimmt man noch die Tatsache hinzu, dass sich welfischer Besitz und Einfluss im 9. Jahrhundert konzentriert um das mittelfranzösische Auxerre an der Yonne findet, dann dürften die Welfen ihren Anfang im jungen Karolingerreich als Hochadelsfamilie von europäischem Rang genommen haben. Eine dynastische Geschichte, gekennzeichnet vom ständigen Auf und Ab in den politischen Parteiungen und Verwicklungen des 9. und 10. Jahrhunderts, beginnt sich zu entwickeln, jedoch keineswegs bruchlos in der familiären Kontinuität.
Es ist eine der Eigentümlichkeiten von Verwandtschaftsverbänden jener Zeit, dass sie eben nicht im Sinne späterer Jahrhunderte als Familien, als Dynastien erkennbar werden und dass die Folge ihrer Angehörigen in der Abfolge von Vätern auf Söhne nicht immer eindeutig zu rekonstruieren ist. Auch die Welfen machen dabei keine Ausnahme. So gut die beiden Generationen um die Mitte des 9. Jahrhunderts greifbar sind, so wenig wird deutlich, in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen die Angehörigen späterer Generationen zu ihnen standen.
Vieles spricht dafür, dass sich die Welfen in zwei Zweige aufteilten. Beide gehen auf den jüngeren Bruder der beiden genannten Ehefrauen karolingischer Herrscher zurück, auf einen Grafen namens Konrad (I.) der Ältere (†nach 862), der im schwäbischen Schussengau amtierte. Drei Söhne hatte dieser Graf: Konrad (II.)den Jüngeren, dessen Sohn als Rudolf I. König von Hochburgund (888–912) werden sollte, Hugo «den Abt» (Abbas) (†886), der gegen Ende seines Lebens faktisch der Herrscher des Westfrankenreiches war, und Welf I. (†nach 858), der als Graf in Alemannien zum Stammvater der schwäbischen Welfen wurde. Drei Brüder mit bedeutenden Positionen in den fränkischen Teilreichen der ausgehenden Karolingerzeit: Die Welfen waren eine wahrhaft reichsumspannende Familie.
Die Könige von Hochburgund, die man nach dem ersten in der Reihe dieser Herrscher die Rudolfinger nennt – womit man gleichzeitig ihre eindeutige Zugehörigkeit zu den Welfen unterschlägt –, amtierten in diesem Reich bis 1032. In einer geographisch ungünstigen Lage zwischen dem West- und dem Ostfrankenreich, zudem in einer verkehrstechnisch schlecht erschlossenen Vorgebirgslandschaft entwickelte sich das Königreich Hochburgund weitaus weniger erfolgreich als die benachbarten Königreiche im Westen und Osten. Zudem waren die welfischen Rudolfinger im Wesentlichen darauf bedacht, durch eine geschickte Heiratspolitik den Bestand ihrer Königsherrschaft gegen äußere Eingriffe abzusichern. Auf diese Weise kamen sie anfangs des 10. Jahrhunderts auch in den Besitz von Niederburgund, im Wesentlichen also der Provence. Zunehmend lehnten sich die Könige an das Ostfränkische Reich an, vor allem seit Konrad (III.) (937–993), der seine Herrschaft nur dank der Unterstützung des ostfränkischen Königs Otto I. (936–973, Kaiser 962) hatte erhalten können. Als König Rudolf III. von Burgund (993–1032) die Nachfolge in seinem Reich regelte, tat er dies im Interesse des Kaisers Heinrich II. (1002–1024) aus der Familie der Ottonen, während als tatsächlicher Erbe des Königreichs erst dessen Amtsnachfolger, der Salier Konrad II. (1024–1039), zum Zuge kommen sollte. Die welfischen Könige von Burgund waren während der Karolingerzeit das einzige Geschlecht, dem die Bildung einer Königsdynastie auf dem Boden des karolingischen Großreiches gelang. Seltsam genug, dass die Erinnerung an diesen königlichen Zweig in der weiteren Geschichte der Welfen kaum mehr gepflegt wurde.
Statt dessen beriefen sich die Geschichtsschreiber späterer Jahrhunderte viel häufiger auf die weniger gut bezeugte und in ihrer Bedeutung hinter den welfischen Rudolfingern zurückstehende gräfliche Linie der Welfen, die man gemeinhin als die «Älteren Welfen» bezeichnet und die man durch diese Bezeichnung von den «Jüngeren Welfen» nach dem genealogischen Bruch des Jahres 1055 unterscheidet. Diese «Älteren Welfen» stellen die Forschung bis heute vor erhebliche genealogische Probleme, denn ihre Stammfolge ist nicht wirklich gesichert. Die heutige Anschauung von diesem Zweig der Welfen basiert zu erheblichen Teilen auf gelehrten Rekonstruktionen, deren Grundlage die keineswegs widerspruchsfreien oder gar lückenlosen Nachrichten von Geschichtsschreibern darstellen, die ihre Werke aus der späteren Rückschau verfassten. Weder in der Angabe von Namen und Verwandtschaftsbezeichnungen ließen sie viel Mühe walten, noch unternahmen sie vor dem frühen 12. Jahrhundert erkennbar den Versuch, das Gesamte einer Familiengeschichte deutlich vor Augen treten zu lassen. Unter diesen Vorbehalt muss man stellen, was man über diesen Zweig der Familie zwischen der Mitte des 9. und dem Beginn des 11. Jahrhunderts zu wissen glaubt. Das Wissen ergibt einen in sich schlüssig erscheinenden Ablauf, der in einzelnen Mitgliedern der Familie geradezu idealtypische Formen adligen Lebens und Wirkens ihrer Zeit spiegelt.
Das beginnt mit Welfs I. Sohn Eticho (†um 910), dem Generationsgenossen des ersten hochburgundischen Königs Rudolf I.: Dass er an dieser Stelle der Stammtafel unterzubringen ist, wird damit begründet, dass seine Großmutter aus der Adelsfamilie der Etichonen stammte und den Namen in der Familie der Welfen weitergegeben haben dürfte, weswegen möglicherweise auch zwei Generationen später dieser Name bei den Welfen noch einmal wieder erscheint. Diese Form der genealogischen Zuordnung aufgrund sogenannter Leitnamen, die oftmals von Großeltern auf Enkel übertragen wurden, basiert auf Forschungserkenntnissen und gilt als plausibel; sicher im Sinne eines Beweises ist sie nicht.
Dass auf Eticho dann wirklich ein Graf namens Heinrich gefolgt ist, den die welfische Geschichtsschreibung als «Heinrich mit dem goldenen Pflug/Wagen» bezeichnete, ist ebenso plausibel und ebenso wenig sicher. Seinen Namen verdankt er einer Anekdote, die verdeutlichen soll, wie nahe seine Familie politisch dem Herrscher stand. Von einem Kaiser Ludwig habe er so viel Land zugesagt bekommen, wie er mit einem Pflug in einer bestimmten Zeit habe markieren können. Heinrich habe sich daraufhin einen Wagen mit einem goldenen Pflug und Reitpferden besorgt, die er in Windeseile immer wieder gewechselt habe, und habe trotz des Widerstrebens des überlisteten Herrschers den offensichtlich riesigen Landbesitz überwiesen bekommen. Über den Wahrheitsgehalt solcher Anekdoten zu streiten, ist müßig. Wichtig ist die dahinter stehende Botschaft. Ein einfallsreicher, dem König wohlbekannter Adliger greift im Interesse seiner Familie zu einer List und...