Juni
„SAGEN SIE MAL, können Sie uns nicht für heute Abend diesen hübschen Tisch direkt vor dem Brunnen reservieren?“ „Wie bitte?“ Ich lege das Shampoo zurück ins Regal und schaue hoch. Ein Mann und eine Frau lächeln mich freundlich an. „Der Platz in dem kleinen Innenhof. Ist der noch frei?“ Warten Sie, denke ich mir im Stillen. Ich schaue nur mal schnell im großen Buch der Tischreservierungen nach. Das habe ich ja zum Einkaufen immer dabei, vor allem, wenn ich nach Locarno fahre. „So ab halb acht wäre gut, oder Irmi?“ Der Mann schaut seine Frau an. Die nickt. „Okay“, sage ich. „Sehr nett. Bis nachher!“ Beide winken zum Abschied. Um noch weiter nach einem Duschshampoo zu suchen, das über das überschaubare Sortiment des kleinen Minimarkts in Cannero hinausgeht, ist es nun zu spät. Ich bin mit Urs verabredet, der mir heute, am letzten Tag unseres Italienischkurses, Locarno zeigen will. Unter den Arkaden der Piazza Grande, wo ich bis eben die Geschäfte angeschaut und vorher eine Pizza gegessen habe, laufe ich zur Hauptpost, dem Treffpunkt.
„Urs kommt nicht“, sagt plötzlich jemand neben mir. Ich schaue mich verdutzt um. Daniel aus dem Parallelsprachkurs und Freund von Urs steht dort. Er war fast immer beim Kaffeetrinken mit dabei. Direkt gesprochen habe ich mit ihm aber noch nie. Daniel ist schön. Fast etwas zu schön mit seinen in die Stirn wehenden blonden Haaren, der schwarzen Lederjacke und der Designerjeans. Und vor allem ist er cool. So cool, dass er, während er mit mir spricht, mich nicht anschaut, sondern auf sein Handy starrt. „Wieso?“, frage ich. „Was ist mit ihm?“ „Er sitzt schon im Zug nach Hause. Er rief mich eben an und meinte, es sei niemand am Treffpunkt gewesen. Um fünf vor zwei sei er dann gegangen.“ „Ach so?“, erwidere ich überrascht. „Aber ich war erst um 14 Uhr hier mit ihm verabredet.“ „Ja, ja, ich weiß, ich auch. Aber Urs ist der Überzeugung, dass jeder mindestens fünf Minuten vor der verabredeten Zeit auftaucht – und ansonsten gar nicht kommt.“ „Ist aber schon etwas eigen, oder?“, frage ich. „Ist das irgendwie typisch Schweizer Pünktlichkeit?“ Daniel schaut mich zum ersten Mal direkt an, kurz und ausdruckslos. „Nein“, sagt er. „Solche Pauschalisierungen kann man nicht machen.“ „Okay, nein, ich wollte auch nicht …“ „Urs ist halt ein richtiger Berner Sturkopf !“, seufzt er dann. „Ich zeige dir jetzt die Altstadt, damit du nicht vergeblich gewartet hast.“
Eine Weile laufen wir schweigend über das Kopfsteinpflaster der Piazza Grande. „Und, was machst du so?“, frage ich dann, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. „Warum hast du den Kurs hier gemacht?“ „Für die Arbeit. Ich bin Journalist!“ „Ach, echt? Toll. Was genau machst du denn?“ „Na ja, man könnte sagen, ich bin Tessin-Korrespondent.“ Ich bin schwer beeindruckt. „Ach, Korrespondent? Fürs Ausland?“ „Nein, für die Deutschschweiz. Damit die erfahren, was so im Tessin passiert.“ „Für Zeitungen?“ „Meistens ja, je nach Auftrag. Obwohl natürlich auch Radio und Fernsehen an Meldungen aus dem Tessin interessiert sind.“ „Das ist ja toll. Klingt echt spannend. Mich interessiert das sehr, weil ich ja im Prinzip auch Journalistin bin. Ich habe schon mehrere Praktika gemacht in Deutschland.“ „So“, sagt er erstaunt und schaut mich zum ersten Mal direkt an. „Wo, sagtest du noch, arbeitest du jetzt?“ „Im Restaurant Gatto Rosso in Cannero, aber …“ „Verstehe!“
Eine halbe Stunde später ist unsere Besichtigungsrunde durch die Altstadt bereits beendet. „Wie, das war’s schon?“, frage ich etwas irritiert. Daniel nickt. „Wir haben alles gesehen! Ich gehe jetzt zum Bahnhof.“ Damit verabschiedet er sich. Vor dem Castello Visconteo am großen Autokreisel bleibe ich zurück und blicke mich um. Was mache ich jetzt? Bis zur Abfahrt meines Busses nach Italien ist noch viel Zeit. Wir sind oberhalb der Piazza Grande eine lange hübsche Gasse mit kleinen Boutiquen entlanggelaufen. Zwei Kirchen lagen auf dem Weg, die wir besichtigt haben: die Santa Maria Assunta, die in die historische Häuserfassade integriert ist, und die San Francesco, die zur deutschsprachigen Pfarrei gehört. Dann schauten wir uns die alte Burgruine an.
Kurze Zeit später sitze ich allein in einer Art Museums-Straßenbahn, die steil den Berg hinauffährt. Ich fühle mich wie auf einer Zeitreise: Der Schaffner läuft vor Abfahrt durch den kleinen Waggon und sammelt das Geld von den Fahrgästen ein. Dann tuckert die Standseilbahn mit ihrer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa zehn Stundenkilometern los, idyllisch vorbei an Gärten und Felsen. Mir fiel ein, dass Urs empfahl, auf den Berg hinter Locarno zu fahren. Um den Gipfel zu erreichen, müsste ich in Orselina in eine Luftseilbahn umsteigen. Darauf verzichte ich. Stattdessen laufe ich eine lange Treppe hinab bis zu dem mächtigen Kloster Madonna del Sasso, das auf einem Fels über Locarno thront. Am Kirchenvorplatz angekommen setze ich mich auf eine Mauer und schaue über den See. Auf dem Delta unter mir liegen Locarno und Ascona. Nach links ziehen sich am See die weiteren Gemeinden Muralto und Minusio. Eigentlich sieht es aus wie ein einziger großer Ort. Nach Osten blicke ich über die Magadinoebene bis Bellinzona, in die andere Richtung bis nach Cannobio in Italien. Die Sicht ist dank Nordföhn ganz klar. Der Wind rauscht durch die Baumwipfel unter mir. Ich schaue auf die Altstadt von Locarno – und habe plötzlich das Gefühl, dass das ein Ort sein könnte, an dem es sich gut leben ließe. Nicht groß, aber auch nicht zu klein. Dafür eingebettet in ein landschaftliches Paradies. Ich seufze – und mache mich auf den Weg zurück in meinen italienischen Mikrokosmos zwanzig Kilometer weiter unten am See.
Abends im Gatto. Fabio schiebt einen Teller mit Fisch über die silberglänzende Anrichte. „Bitte Tisch Terrazza 6, einmal scoreggia!“, weist er mich ungewohnt höflich an. Die Küchenhilfen hinter ihm brechen in schallendes Gelächter aus. Mino mit schwitzender Stirn am dampfenden Geschirrspül-Großautomaten dreht sich breit grinsend um. Okay, ich bin ja nicht ganz blöd. Was da auf dem Teller liegt, ist „coregone“, Felchen aus dem See mit Zitrone und Petersilie. Inzwischen bin ich mit dem Studieren unserer Menükarte schon deutlich vorangekommen. „Was ist scoreggia?“, frage ich leise den mit Abräum-Geschirr vorbeilaufenden Francesco, einen weiteren italienischen Kellnerkollegen. Der schaut mich irritiert und belustigt an. „Das willst du gar nicht so genau wissen“, lautet seine ausweichende Antwort. Das war ja klar. Ich nehme den Teller mit dem Fisch und sage zu Fabio: „Okay, einmal scoreggia für die Mutter vom Chef auf der Terrasse!“ Und düse aus der Küche. Hinter mir höre ich noch ein lautes „Stopp, aspetta – warte!“, was ich aber ignoriere. Auf dem Rückweg von der Terrasse, wo ich der deutschen Wandertouristin „Felchen“ überreicht habe, fängt Piedro mich ab. „Weißt du etwas von einer Tischreservierung für Cortile 3?“ Hinter ihm winkt mir das Ehepaar aus dem Einkaufsladen in Locarno zu. „Oh. Hm. Steht da nicht ein Eintrag in dem Buch?“, frage ich zum Ablenken. „Wo?“ Während Piedro sucht, flüchte ich in die Küche. Dort stoße ich fast mit Christa zusammen. Die drückt mir einen Zettel in die Hand. „Lauf doch bitte mal hoch in das Hotel Bellavista und frag, ob sie dir unser Wochenmenü ein paar Mal ausdrucken können. Unser Drucker ist kaputt. Schick es per Email rüber. Das habe ich schon öfters gemacht. Die sind sehr freundlich.“ Ein Glück. Damit bin ich erst einmal aus der Schusslinie.
Als ich wenig später in das elegante Hotel eintrete, fühle ich mich wie in einer anderen Welt. Welche Wohltat. Beschwingte Klaviermusik klimpert im Hintergrund, die kühle Luft der Klimaanlage bildet einen angenehmen Kontrast zum warmen Dunst in der Restaurantküche. Teuer gekleidete Menschen schreiten an mir vorbei. Ein Mann um die vierzig Jahre mit hellen, kurzen Haaren, Brille und sehr weichen Gesichtszügen schaut mir von der Rezeption aus freundlich entgegen. „Du bist Christas neue Kellnerin aus Deutschland, oder?“, begrüßt er mich. „Ich habe dir das Menü schon ausgedruckt“, fügt er hinzu und hält mir einen Stapel Blätter entgegen. „Reicht zwanzig Mal?“ Ich nicke. „Ich heiße übrigens Matteo“, sagt er noch und reicht mir lächelnd die Hand. „Ich bin der Sohn hier. Meiner Mutter gehört das Hotel.“ Ich will mich gerade bedanken und verabschieden, da fragt er: „Ich bräuchte jemanden, der mir die deutsche Version unseres neuen Prospekts Korrektur liest, wenn die Vorlage fertig ist. Hättest du dazu vielleicht Lust?“ „Ja klar“, antworte ich. Eine willkommene Ablenkung.
Nach Feierabend will ich noch eine Runde durch das Dorf drehen, um mein Trinkgeld auf angemessene Weise loszuwerden. Ich statte der Bar Laghetto um die Ecke einen Besuch ab. Genau genommen schaue ich unauffällig durch das Fenster der Bar, um zu sehen, wer von der Dorfjugend sich dort niedergelassen hat. Ich sehe den Indianer, der eigentlich Sandro heißt, im Gespräch mit Renzo, einem etwas stämmigen, sehr freundlichen Maurer. Mit dabei sitzt Antonio, ein weiterer Stammgast vom Gatto, der meist in Businesskleidung erscheint. Er soll in der Finanzbranche arbeiten und fällt durch sein betont weltmännisches Auftreten auf. Größer könnten die Unterschiede zwischen den drei Männern, die dort wie Jungs im Freizeitheim zusammenhocken, wohl nicht sein. Ich trete ein. Aus den Lautsprechern schallt mir wieder der Folklore-Pop entgegen, den ich schon am ersten Abend hörte. „Buon Di“, grüßt Sandro im Dialekt vom...