Schenken Sie sich selbst Aufmerksamkeit und Respekt
Immer unter Strom
Vor einigen Jahren kam eine berufstätige Mutter zu mir. Sie war Anwältin und hatte neben ihrem anstrengenden Job auch noch zwei kleine Kinder und einen Haushalt zu meistern. Sie und ihr Mann hatten ihren Alltag gut organisiert – eigentlich brachten sie alles unter einen Hut, wären da nicht ihre seltsamen Kopfschmerzen gewesen. Seit Monaten wurde sie von einem immer stärker werdenden Druck im Kopf bedrängt, der ihren täglichen Fahrplan komplett über den Haufen warf. Der dumpfe Schmerz ließ sie unkonzentriert und fahrig werden. Er zwang sie dazu, Ruhe zu geben, sich hinzulegen und jegliche Außenreize auszublenden.
Wir begannen ihren »Lebens-TÜV« mit einer ersten Bestandsaufnahme. Ich ließ sie am Boden mithilfe von Seilen und Symbolen ihre gesamte Lebenskonstellation auslegen. Wir betrachteten vielfältigste Themenfelder gleichzeitig: die Beziehung zu ihrem Mann und ihren Kindern, zu ihren Eltern und Freunden, die Erfahrungen, die sie in ihrem Beruf machte, ihre Hobbys, ihre Wohnsituation, ihren Gesundheitszustand, ihr Sinn- und Werteverständnis – und zusammenfassend ihre Beziehung zu sich selbst. Nachdem sie das dreidimensionale Schaubild komplettiert hatte, ließ ich sie zur Seite treten und sie ließ die Gesamtschau einen Moment auf sich einwirken. Dann befragte ich nacheinander ihren Verstand, ihr Herz und ihren Körper, was sie empfinden und assoziieren würde, wenn sie auf das Bild ihres Lebens blickte.
Auf der Verstandesebene wiederholte sie die Aussagen, die sie zu Anfang unseres Gesprächs getroffen hatte: »Mein Leben ist wunderbar. Es ist reich angefüllt mit Menschen und Tätigkeiten, die mir wichtig sind. Ich liebe mein Leben genau so, wie es ist.« Daraufhin befragte ich ihr Herz, ihre Gefühle. Ihre Antwort kam nun nicht mehr so sicher und schnell. Sie stellte fest, dass sie neben der eben geschilderten Freude auch eine eigentümliche Traurigkeit in sich verspürte. Sie konnte sich das Gefühl kaum erklären. Ich bat sie nun, auch in ihren Körper hineinzulauschen: »Was für Körperempfindungen tauchen in Ihnen auf, wenn Sie auf die Darstellung schauen? Fühlen Sie sich wohl und entspannt oder taucht in einem der Körperteile ein Spannungsgefühl oder Sonstiges auf?« Kaum sprach ich die Sätze aus, setzten die Schmerzen in ihrem Kopf ein. Sie fühlte einen zunehmenden dumpfen Druck und ein unangenehmes Ziehen.
Wir ließen uns Zeit, diesem körperlichen Symptom sehr genau zuzuhören. Ich lud sie ein, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, dass sie wie ein kleines Wesen in ihren Kopf hineinklettern und von dort ihren Schmerz von innen betrachten könne. Nach einiger Zeit gelang es ihr, den Kopfschmerz bildhaft vor sich zu sehen. Er erschien ihr als ein träger Strom aus Blei – grau, kalt, schwer, behäbig und abweisend. Nach und nach konnte sie mit diesem inneren Bild in Kontakt treten und es befragen, warum es da war. Der Strom aus Blei lieferte ihr unglaublich präzise Antworten. Dass er sich auch nicht wohlfühle, existent zu sein, aber dass er ein Gegengewicht zu ihrer ständigen Unruhe bilden würde. Sie würde ja schon immer durch ihr Leben rennen und dem Kopf keine Pause schenken. Nur durch seine Anwesenheit und sein zähes Fließen würde ihr Denken verlangsamt werden. Nach und nach löste sie sich von dem inneren Bild – in dem Moment, als sie die Augen öffnete, brachen Tränen aus ihr hervor: »Ja, der Kopfschmerz hat recht. Schon seit meiner Schulzeit strenge ich mich wahnsinnig an, gut zu sein und alles richtig zu machen. Ich setzte stets alles dran, immer super Noten zu erreichen und all meine Prüfungen möglichst schnell zu absolvieren. Ich habe gelernt, gut zu funktionieren – das kann ich perfekt. Mein Kopfschmerz schafft das, was bisher noch kein Mensch und kein Ereignis bewirkt haben. Er zwingt mich dazu, abzuschalten und nichts zu tun.«
Nach dieser schmerzhaften Erkenntnis widmeten wir uns ihren innersten Gefühlen und Wahrnehmungen, ihren Wünschen und Sehnsüchten. Ich erkundigte mich, was sie mit all ihren Leistungen und Erfolgen erreichen wollte. Natürlich ging es bei ihr (wie bei mir und allen Wesen dieser Erde auch) um Wertschätzung, Liebe und Respekt. Irgendwann hatte sie Leistung mit Anerkennung gekoppelt – und diese Prägung hatte sie nun fest im Griff. Ohne dass ich näher nachzuforschen brauchte, öffnete sich eine tiefere Ebene in ihr, und neben den starken Gefühlen offenbarte sich eine feine Empfindungsebene – die Seele meldete sich zu Wort. In ihr ist unser Sinn- und Werteverständnis beheimatet, die Kenntnis über unser ureigenes Potenzial, unsere Talente, unsere Kraft und individuelle Berufung. Die Seele sprach ganz ruhig aus ihr. Dass sie bisher ein sehr gutes, begünstigtes Leben führen konnte und ihr vieles geschenkt wurde. Ein stabiles Elternhaus, gute Ausbildungen, ein spannender Beruf, ein liebevoller Partner und gesunde Kinder. Aber dass sie trotz dieser erfüllten Situation an etwas ganz Wesentlichem vorbeirannte: an der Beziehung zu sich selbst. An der Beachtung ihrer authentischen Bedürfnisse. Sie schenkte sich selbst und ihren eigenen Beobachtungen keinen Respekt, negierte ihre ureigene, innere Wahrheit. Den Ansichten und Vorstellungen der anderen gewährte sie oftmals den Vortritt. Und sie war zu sich selbst streng, sehr streng. Sie hatte maßlose Vorstellungen davon, wie perfekt sie zu sein hätte, um liebenswert zu wirken.
Wumm – die Botschaft saß! Wir machten erst einmal eine Pause. Danach übten wir intensiv innezuhalten, mit sich selbst verbunden zu sein, sich selbst zuzuhören und Beachtung zu schenken – nicht nur dem Verstand, sondern auch den Botschaften von Körper, Herz und Seele zu lauschen – Freundschaft mit sich selbst zu schließen.
Achtsamkeit – die stärkste Kraft, die wir besitzen
Innehalten – einen Moment die Aufmerksamkeit von den äußeren Erlebnissen abwenden und sie nach innen zu richten, ist die elementarste Grundübung, um mit sich selbst in Kontakt zu sein. Um unsere Gedanken, Gefühle und Empfindungen differenziert wahrnehmen zu können, müssen wir lernen, immer wieder das Tempo herauszunehmen. Inmitten unseres Alltagstrubels sollten wir uns angewöhnen, Pausen der Reflexion und des Nachspürens einzulegen, um unsere eigenen, feinen Wahrnehmungen nicht zu übergehen. Auf Neudeutsch: Es geht um Entschleunigung, und zwar nicht erst abends an der Bar oder in der Yogagruppe, sondern mittendrin im täglichen Sturm.
Leicht gesagt und schwer getan. Denn bei vielen Menschen schlägt täglich die Macht der Gewohnheit durch. Schon seit vielen Jahren, oft Jahrzehnten, eilen sie durch ihren Tag und spulen viele ihrer Tätigkeiten ab, ohne sie zu hinterfragen. Angetrieben werden sie dabei auf der einen Seite von alltäglichen Abläufen, Aufgaben und Herausforderungen, die keinen Aufschub zulassen. Auf der anderen Seite schubst sie ihr eigenes Selbstgespräch in Form des inneren Richters durch den Tag – von diesem Kameraden können Sie später noch ausführlicher lesen. Dieses Sich-durch-den-Tag-Treiben hat zur Folge, dass die eigenen Gefühle und Empfindungen keine Beachtung finden.
Viele Menschen haben schon früh geübt, ihre authentischen Regungen zu unterdrücken und auszublenden. Gerade Männer haben von Kindesbeinen an gelernt, die Zähne zusammenzubeißen und sich keine Gefühle anmerken zu lassen. Aber Frauen beherrschen die Kunst der Verdrängung ebenfalls recht gut. In vielen Situationen ist diese Fähigkeit, Gefühlsstimmungen nur selektiv an sich heranzulassen, durchaus hilfreich. Denn es gibt Lebenssituationen, in denen wir scheinbar keine Wahl haben. Wir müssen uns zusammenreißen und durchhalten, um Schwierigkeiten zu meistern. Bei dieser Verhaltensweise gilt es aber, sehr genau zu differenzieren: zwischen unveränderbaren Einflüssen und Konstellationen, auf die wir persönlich nicht einwirken können, und veränderbaren Situationen, auf die wir sehr wohl Einfluss nehmen können. Bei Ersteren sollten wir keine Kraft verschwenden und uns gegen Dinge stemmen, die wir nicht lenken können. Bei der zweiten Variante, die uns bei genauer Prüfung viel öfter im Leben begegnet, gibt es auf Dauer keinen Grund, uns Umstände zuzumuten, die uns im Grunde unseren Herzens überlasten oder gegen den Strich gehen. Der Verstand berät uns eher dazu, uns anzupassen und eigene...