II. ALLGEMEINE AUFBAUPRINZIPIEN DER HERKÖMMLICHEN PSYCHOLOGIE
Dass die Psychologie mit der Erforschung des Menschen begann, ist nicht wunderbar. Damit war der Forschung eine bestimmte Richtung gegeben: hier waren alle drei Arten von Beobachtung möglich, und die eine von ihnen, die Erlebniswahrnehmung, war dieser Betrachtungsweise spezifisch. Das Hauptgewicht fiel daher naturgemäß auf die Tatsachen des Bewusstseins. Freilich bestand keinerlei Einigkeit darüber, was Erlebniswahrnehmung und was ihr Gegenstand sei: zumal über die Objekte der äußeren Wahrnehmung, die Farben, Töne usw. finden wir auch heute noch die verschiedensten Meinungen vertreten.
Wie sollte man die Bewusstseinstatsachen wissenschaftlich bewältigen? Man ging wie überall den Weg der Einteilung und kam zur Unterscheidung zunächst recht grober Klassen, wie sie in den drei Worten: Fühlen, Wollen, Denken angedeutet sind, oder etwas ausführlicher in der Doppelteilung: Sinnlichkeit und Intellekt — Affekte und Wollen. Diese Leistungen der Seele wurden besonderen Seelenvermögen zu geschrieben, sodass man die Denkrichtung, die in der Geschichte unserer Wissenschaft eine große Rolle gespielt hat, als Vermögens-Psychologie bezeichnet.
1. Das Zerlegungs-Prinzip und die Konstanz-Annahme
a) Die Empfindungen
Der weitere Fortschritt beruhte nun auf einem neuen Gedanken: Wir müssen das Bewusstsein als Ganzes zergliedern, es in seine letzten Bestandstücke, seine einfachsten Teile auflösen. Alle Erlebnis-Beobachtung wurde in den Dienst dieser „Analyse“ des Bewusstseins gestellt. Man sieht, dass dies Verfahren stark vom naturwissenschaftlichen Vorbild beeinflusst war; dem entspricht auch, dass man darauf ausging, eine möglichst geringe Zahl wesentlich verschiedener Elemente des Seelenlebens aufzufinden. Dadurch schien es möglich, die Vielzahl der Gebiete zu reduzieren und ein erstaunlich einfaches Bild vom seelischen Geschehen zu entwerfen. Die Wahrnehmungswelt, alles, was uns unsere Sinne von der Welt zeigen, wurde aufgelöst in die Empfindungen, deren Zahl zwar an sich recht groß angenommen werden musste, aber doch mit einiger Bestimmtheit abgeschätzt werden konnte. Vor allem aber war jede Empfindung als Empfindung von der gleichen Art wie jede andere. Diese Empfindungen treten rein summativ zu den Komplexen unserer Wahrnehmung zusammen.
Die Wahrnehmung einer Straße etwa besteht aus den Wahrnehmungen der Pflastersteine, Häuserwände, Dächer, Fenster, Bäume usw. Wir haben es also durchweg mit einem Mosaik oder, wenn man an die den verschiedenen Dingen entsprechenden Gruppen denkt, mit ,,Bündeln“ von Empfindungen zu tun, eine Auffassung, die an Hume erinnert. Wertheimer hat sie denn auch als Bündel-These bezeichnet.
Dieser Begriff der Empfindungen als der einfachsten durch die Sinne vermittelten unzerlegbaren Inhalte, über den eine volle Einigung nie hat erzielt werden können, reicht aber noch viel weiter: Nicht nur unsere ganze Wahrnehmungswelt ist aus Empfindungen zusammengesetzt, auch unsere intellektuellen Operationen, unser Denken, Fantasieren, Erinnern lassen sich auf Kommen und Gehen einer besonderen Art von Empfindungen zurückführen, die man Vorstellungsbilder oder kurz Vorstellungen nennt. Denken heißt nichts als Aufeinanderfolgen von Vorstellungen. Wir müssen, um das zu verstehen, zweierlei im Auge behalten: 1. Jede eigentliche Empfindung lässt nach dieser Lehre, infolge, unseres Gedächtnisses, eine Spur zurück, der zufolge sie auch dann immer wieder in schwächerer Form, d.i. eben als Vorstellung, auftreten kann, wenn der äußere Reiz, der sie hervorrief, nicht wirksam ist. Nach der strengen, auf Hume zurückgehenden Lehre sind Vorstellungen nichts als abgeschwächte Empfindungen. Daher der alte Satz des Sensualismus: nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu. Man spricht auch heute noch vielfach von zentral erregten Empfindungen statt von Vorstellungen. 2. umfassen diese Vorstellungen nicht nur Gesicht, Gehör, Geschmack usw., sondern vor allem auch die Eindrücke, die wir von unsern Bewegungen empfangen haben, die kinästhetischen Empfindungen. Das innere Sprechen, das beim Denken zu beobachten ist, wird demgemäß als Auftreten von kinästhetischen und akustischen Wortvorstellungen beschrieben.
b) Die Assoziation
Sinnlichkeit und Intellekt sind so aufs Engste zusammengerückt. In beiden handelt es sich um die gleichen Bestandteile, die gleichen Inhalte, nur ist das Gesetz ihrer Aufeinanderfolge in beiden verschieden. Die Abfolge der sinnlichen Inhalte, der Empfindungen, wird durch die Reize, d. h. die auf unsere Sinnesorgane wirkenden Vorgänge der Welt, geregelt; die Abfolge der Vorstellungen dagegen durch das altberühmte Assoziationsgesetz, das den Psychologen einst vom gleichen Rang erschien wie das Gravitationsgesetz. Es besagt, dass, ...
… wenn zwei Empfindungen einmal zusammen, d. h. gleichzeitig oder in unmittelbarer Aufeinanderfolge im Bewusstsein gewesen sind, jede von ihnen, wenn sie wieder als Empfindung oder als bloße Vorstellung auftritt, die Tendenz hat, auch die andere ins Bewusstsein zurückzurufen.
Als Ursache dieser Tendenz nahm man eine Art Band, ein Zwischenglied, an, eben die Assoziation.
Wir müssen bei diesem Assoziationsbegriff noch etwas verweilen. Wie man zu seiner Bildung gekommen ist, ist leicht zu ersehen. Ich habe gestern auf einem Platz einen bestimmten Vorgang beobachtet, ich gehe heute über den Platz, der Vorgang fällt mir wieder ein. Oder: Ich kann nicht an den Blitz „denken“, ohne auch an den Donner zu denken. Solche Beobachtungen, die man nach Belieben häufen könnte, liegen der Begriffsbildung zugrunde. Der Begriff der Assoziation zielt also auf einen unbestreitbaren, auf einen ganz allgemeinen Tatbestand. Ist der Begriff aber ein adäquates Bild dieses Tatbestandes? Diese Frage, die jahrhundertelang nicht gestellt worden ist, muss schon hier aufgeworfen werden. Wir suchen darum, das wesentliche Merkmal des Assoziationsprinzips zu bestimmen. Ich sehe den Blitz, und ich höre gleich darauf den Donner. Das Prinzip der Assoziation drückt das so aus: In meinem Bewusstsein ist zuerst die Gesichtsempfindung Blitz, darauf die Gehörempfindung Donner, jede ist für sich da, Blitz und Donner sind zwei Empfindungen, noch genauer: Eine Empfindung plus einer anderen Empfindung, die unmittelbar darauf folgte. Wenn mir jetzt beim Sehen eines Blitzes oder beim bloßen Darandenken die Vorstellung des Donners kommt, so wird als notwendiger, aber auch hinreichender Grund hierfür die bloße Existenzial-Verbindung der Aufeinanderfolge (in anderen Fällen der Gleichzeitigkeit) angesehen.
Bedenkt man, dass die Psychologie von den Bewusstseinstatsachen, den Erlebnissen, ausgehen will, so muss diese Ansicht zunächst seltsam erscheinen, denn im Erlebnis sind Blitz und Donner nicht eins plus eins, sondern zwei zusammengehörige Ereignisse, gerade so, wie in meinem Erlebnis eine Billardkugel wirklich die andere stößt und nicht nur das Laufen und Stehenbleiben der ersten und das Stehen und Sich-in-Bewegung-Setzen der zweiten gesehen wird. Mit dieser Schwierigkeit wird die Assoziationslehre aber dadurch fertig, dass sie diese Ansicht des naiven Bewusstseins für Schein erklärt, für Schein, der eben durch die Wirksamkeit des Assoziationsgesetzes zustande kommt. Weil sooft Donner auf Blitz folgte, darum ruft jetzt schon der Blitz die Vorstellung des Donners hervor, sodass der wirkliche Donner jetzt durch diese dem Blitz zwangsmäßig folgende Donner-Vorstellung vorausgenommen wird. Dieser Vorgang der zwangsmäßigen Vorausnahme ist in Wirklichkeit das, was uns als Zusammengehörigkeit erscheint.
Die Assoziationslehre bringt also eine Übereinstimmung zwischen ihrem Grundprinzip und den Bewusstseinstatsachen zustande, aber sie muss dabei eine Hypothese machen: Die Hypothese nämlich, dass ursprünglich das Bewusstsein anders war, dass da, wo wir jetzt Einheitlichkeit erleben, ursprünglich wirklich nur zwei lediglich existenzial (durch bloßes Zusammendasein) zusammenhängende „und -verbundene“ Erlebnisse Vorlagen, die dann erst durch Assoziationsbildung ihre Einheitlichkeit erlangt haben. Diese Hypothese ist der Wissenschaft lange Zeit hindurch nicht als solche bewusst geworden, diese Annahme erschien ihr schlechthin selbstverständlich. Und das liegt an dem ersten Grundprinzip dieser ganzen Wissenschaft: der von ihr geforderten Bewusstseins-Analyse, die wir oben besprochen haben. Man zerlegt ja alles Wahrgenommene in lauter einzelne Empfindungen, diese, die Elemente, sind primär, alle Zusammensetzungen sind Entwicklungsprodukte. Es waltet also ein enger Zusammenhang zwischen dem Prinzip der Zerlegung in Elemente und der Verknüpfung durch Assoziation. Lässt sich das Zerlegungsprinzip nicht aufrechterhalten, so ist auch das Assoziationsprinzip hinfällig.
Wir werden daher guttun, auch das Zerlegungsprinzip noch genauer zu betrachten. Alle Wahrnehmung lässt sich in Empfindungen analysieren, die aufgrund von äußeren Reizen auftreten. Es ist eine unvermeidbare Annahme dieser Lehre, eine Annahme, die wieder lange Zeit selbstverständlich erschien, deren hypothetischen Charakter man nicht erkannt hat, dass die Empfindung fest...