„Die Geschichte des Lebens ist eine Abfolge von stabilen Zuständen, die in seltenen Intervallen durch wesentliche Ereignisse unterbrochen wird.“
MANUEL CASTELLS
Eines dieser vom spanischen Soziologen Manuel Castells beschriebenen Ereignisse haben wir vor nicht allzu langer Zeit durchstoßen. Es ist die digitale Revolution, die unsere Art zu leben, zu lieben und einzukaufen innerhalb kürzester Zeit komplett verändert hat und auch zukünftig erheblich umformen wird. Noch nie haben Daten eine so große Rolle gespielt, noch nie bargen sie derartige Gefahren. Manuel Castells verfasste Ende der neunziger Jahre eine umfassende Trilogie über das Informationszeitalter und die Netzwerkgesellschaft, die er dabei im Kontext des rasanten Aufstiegs des Internets als gesamtgesellschaftliches Phänomen betrachtete.1 Viele der folgenden Ausführungen beruhen auf seinen Erkenntnissen.
Lieber Leser: Um den Gesamtkontext zu verstehen, werden wir ein komplexes Thema betrachten. Machen Sie sich nichts daraus. Lesen Sie es im Zweifelsfall sogar doppelt. Das ist die Grundlage, um alles Spätere verstehen zu können. Doch keine Sorge: Ich werde es Ihnen so angenehm wie möglich gestalten.
Wir müssen Big Data als Teil dieser Informationsrevolution verstehen. Denn alle technisch relevanten Ereignisse seit den frühen Beginnen der Industrialisierung bis zur digitalen Revolution münden in die Schritte, die unsere Gesellschaft und Wirtschaft nun gehen. Denken wir an die industrielle Revolution, verknüpfen wir diese vor allem mit der Erfindung der Dampfmaschine.
Einige anerkannte Wirtschaftswissenschaftler vertreten heutzutage jedoch die Meinung, dass die Industrialisierung als fortlaufender Gesellschaftswandel noch nicht abgeschlossen ist. Das ist so unklug nicht, weswegen ich dieser These auch hier folgen möchte. Nach ihr kennen wir heute vier industrielle Revolutionen, die ich im Folgenden kurz anreißen möchte:
1. industrielle Revolution
Sie setzte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein und war vor allem gekennzeichnet durch die Erfindung der Dampfmaschine, das Puddelverfahren im Hüttenwesen und die allgemein fortschreitende Ersetzung von Handwerkzeugen durch Maschinen. Die Gesellschaft hatte begonnen, sich vom Agrar- zum Industriezeitalter zu transformieren.
2. industrielle Revolution
Die zweite große Phase der Industrialisierung fand in etwa hundert Jahre später statt. Sie war vor allem geprägt von der Entwicklung der Elektrizität, der Innovation des Verbrennungsmotors und der anfänglichen Verbreitung der Kommunikationstechnologie. Ein wichtiges Merkmal dieses Abschnitts war die beginnende Massenfertigung an Fließbändern.
3. industrielle Revolution
Die dritte industrielle Revolution ist uns auch bekannt als Phase der Digitalisierung. Ihr Beginn ist zeitlich in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts einzuordnen. Durch die fortschreitende Automatisierung wurden immer mehr Arbeitsschritte von Maschinen übernommen. Grundlage dafür war der Einsatz von Elektronik und IT.
4. industrielle Revolution
Auch besser bekannt als Industrie 4.0. Diese Revolution hat in den letzten Jahren eingesetzt und befindet sich deshalb noch im Frühstadium. Ihre Kennzeichen sind die intelligente Fabrik und das Internet der Dinge.
Zeitlich stehen wir jetzt gerade also noch zwischen der dritten und vierten industriellen Revolution. Ressourcen wie Öl und weitere fossile Brennstoffe, welche die markanten Charakteristika der ersten Revolutionen darstellten, erschöpfen sich zusehends.2 Es braucht eine neue Substanz und das sind Informationen!
Wie kam es ergo dazu, dass Daten als das neue Gold angesehen werden? Manuel Castells nennt diesen Vorgang die „Transformation unserer materiellen Kultur in eine Informationstechnologie“3. Zahlreiche Experten nutzen heute den Begriff digitale Transformation! Vereinfacht ausgedrückt: Wir haben uns von der Industrie- zur Informationsgesellschaft weiterentwickelt. Ursprung der ersten Revolutionen waren jeweils neue Energiequellen. Dampfmaschine, Elektrizität oder Kernenergie machen unser Leben aber nicht mehr produktiver. Information und Wissen sind heutzutage die wichtigsten Rohstoffe. Sie sind zentrale Kennzeichen des Informationszeitalters, aber nicht die entscheidende Abgrenzung zur Industriegesellschaft. Die liegt nämlich vielmehr in der Tatsache, dass wir Wissen nutzen, um neues Wissen und neue Informationen herzustellen. Das mag nun schwammig klingen, ist allerdings relativ einfach.
Weil er zu faul zum Rechnen war, erfand Konrad Zuse 1941 den Z3, die erste vollautomatische Rechenmaschine der Welt. Das Prinzip des Aufbaus seines Computers zu heutigen ist unverändert. Lediglich die Rechnergeschwindigkeit ist um ein paar Billionen µ schneller. Zuses Grundsatz und auch der vieler weiterer Pioniere auf diesem Gebiet hätte also lauten können:
LERNEN durch ANWENDEN
Die Weiterentwicklung allerdings erfolgte nach anderen Prinzipien. Man nutzte die wissenschaftlichen Vorkenntnisse und baute auf diesen auf:
LERNEN durch VERWENDEN
Und genauso verhält es sich mit den neuen Informationstechnologien. Die Benutzung von Werkzeugen tritt in den Hintergrund. Die Basics sind vorhanden, weswegen man sich auf Prozesse konzentriert, die weiterentwickelt werden. Wir verwenden demnach Wissen, um neues Wissen zu kreieren.
Ein weiteres Merkmal, das die digitale Revolution so besonders macht, liegt in ihrer außerordentlich schnellen Durchführung. Bis sich die industrielle Revolution weltweit durchgesetzt hatte, dauerte es nahezu zwei Jahrhunderte. Während beispielsweise in vielen Teilen Großbritanniens Mitte des 19. Jahrhunderts bereits ein infrastrukturelles Netz aufgebaut war, scheiterten die deutschen Territorialstaaten noch an ihrer mittelalterlichen Zollpolitik. Die Informationstechnologien erlebten allerdings innerhalb von nur zwei Jahrzehnten einen Boom, der sich auf dem ganzen Globus durchsetzen konnte.
Obwohl wir die dritte industrielle Revolution offiziell ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts beordern, gab es schon in den Jahrzehnten zuvor einige wegweisende Innovationen, ohne die das Ganze so nicht stattgefunden hätte. Dazu gehören sicherlich die Erfindung des Telefons 1876 oder die des Radios 1898. Die großen technologischen Durchbrüche ereigneten sich allerdings während des 2. Weltkriegs und vor allem in der Nachkriegszeit. Der britische Mathematiker Alan Turing schuf durch seine Entschlüsselung des deutschen Fernmeldewesens richtungsweisende Voraussetzungen für die moderne Informationstechnologie. Konrad Zuse entwickelte den ersten Computer und 1957 gelang mit der Erfindung des integrierten Schaltkreises ein technologischer Durchbruch, der die Produktion auf das Zwanzigfache steigen ließ.
Die Mutter der Datenverarbeitung
Als Mutter der Datenverarbeitung betrachtet man heute allerdings eine rechteckige Pappe mit Löchern: die Lochkarte! Ihre Geschichte reicht noch viel weiter zurück. Bereits 1805 wurde der sogenannte Jacquard-Webstuhl mit gelochten Karten aus Karton gesteuert. So war gewährleistet, dass der Webstuhl die immer gleichen Stoffmuster auswarf. Wie das funktionierte, lässt sich am besten mit der Funktionsweise einer Drehorgel vergleichen. Egal wie oft man dreht, sie spielt die immer gleiche nervtötende Melodie. Die erste kommerzielle Verwendung der Lochkarte lässt sich auf die US-amerikanische Volkszählung 1890 datieren. Herman Hollerith, der spätere Gründer von IBM, entwickelte diese Lochkarte und die dazugehörigen Maschinen zur Auswertung. Aber wie ließen sich auf einem Stück Pappe Daten speichern?
In ihrem später verbreiteten Layout befanden sich auf einer Karte zwölf Zeilen mit jeweils 80 Spalten. Die Zeilen entsprachen den Ziffern 0–9 sowie einem Plus- und einem Minus-Vorzeichen. Betrachten wir das Ganze im Kontext unternehmerischer Bestrebungen, konnten beispielsweise die ersten fünf Spalten für eine fünfstellige Kundennummer und die nächsten vier für eine vierstellige Produktnummer verwendet werden. Die anschließenden drei sagten aus, wie oft der Kunde X das Produkt Y gekauft hatte. Am Abend gingen schließlich alle Lochkarten in das dazugehörige Lesegerät, das in vergleichsweise kurzer Zeit den Umsatz des gesamten Tages auswertete.
Dieses nützliche und einfache Verfahren verbreitete sich anschließend mehr und mehr in der Mechanik und Elektromechanik. Ab Mitte der 1960er-Jahre war die Lochkarte jedoch zunehmend auf dem absteigenden Ast, weil sich in den Rechenzentren Magnetbänder als Speichermedium durchgesetzt hatten. Heutzutage ist die Lochkarte eigentlich komplett verschwunden. Eine Ausnahme stellt allerdings das amerikanische Wahlsystem dar. Da die Stimmabgabe in den einzelnen Staaten der USA extrem variiert, gab es auch im Jahr 2012 noch Bezirke, in denen per Lochkarte abgestimmt werden konnte.
Alles wird smart
Ohne die Lochkarte und Konrad Zuses laute Rappelmaschine würde es die meisten Innovationen, die heute unseren Alltag prägen und morgen noch weiterhin bestimmen werden, definitiv...