Es gibt Menschen, die lieben die laute, pralle Welt. Und es gibt Menschen, denen eben diese laute und pralle Welt zu schaffen macht. Sie bevorzugen das Leise und die feinen Nuancen. Einige von ihnen sind hochsensibel. Und demzufolge schnell „overloaded“.
Für manche Menschen sind äußere Reize wie ein Bach. Sie nehmen sein leichtes Dahinplätschern wahr, empfinden es nicht als störend. Für Hochsensible wird so ein Plätschern nach einer Weile schnell laut und nervig. Der Bach mutiert zu einem Fluss, schwillt zu einem reißenden Strom an. Ist Selbstfürsorge oder ein Rückzug in dem Moment nicht möglich, beginnt es richtig unangenehm zu werden. Der reißende Strom wird zu einem Wasserfall, das Hintergrundrauschen gleicht einem tosenden Sturm.
In solchen Momenten ist die Musik im Radio nur noch Krach, das Fiepen des Hundes eine Sirene, das Brummen der Laptop-Lüftung ein Dröhnen. Selbst ein Streicheln wird auf einmal unangenehm. Die Berührungen, die vorher nur leicht unangenehm waren (z. B. aufgrund rauer Hände), sind plötzlich nicht mehr zu ertragen.
Von Reizen überflutet werden. Ständig auf Empfang sein. Leicht überstimuliert sein. Das sind nur einige Dinge, mit denen es Hochsensible zu tun haben. Nahezu jeder Sinnesreiz wird von ihnen stärker wahrgenommen und gespeichert. Sogar emotionale Stimmungen fallen bei ihnen stärker aus, sowohl die angenehmen als auch die unangenehmen.
So unterschiedlich kann die Wahrnehmung sein.
Ein echtes „Diagnoseverfahren“ gibt es noch nicht, dafür jedoch viele Forschungsprojekte. Im Internet gibt es mittlerweile zahlreiche Anlaufstellen, die Testfragen mit Auswertung anbieten, auch wenn bisher keiner dieser Tests wissenschaftlich fundiert ist. Diese Tests stellen in der Regel ca. 30 Fragen. Fast immer finden sich im Ergebnis oder in der Hochsensiblen-Literatur die folgenden Parameter, nicht nur einzelne, sondern meist viele davon:
•Hochsensible sind leicht übererregbar und schreckhaft.
•Hochsensible durchdenken vieles besonders gründlich.
•Hochsensible erleben Emotionen oft stärker und intensiver als Nicht-Hochsensible.
•Hochsensible haben nach einem anstrengenden Tag das Bedürfnis, sich zurückzuziehen.
•Hochsensible sind nicht besonders gut darin, selbstfürsorglich zu sein.
•Hochsensible nehmen sich Kritik oft sehr selbstkritisch zu Herzen.
•Hochsensible messen sich nicht gerne mit anderen.
•Hochsensible lassen sich durch Stimmungen anderer leicht beeinflussen.
•Hochsensible träumen oft intensiv und lebhaft.
•Hochsensible nehmen Feinheiten in ihrer Umgebung sehr gut wahr.
•Hochsensible sind sehr geräuschempfindlich.
Alle diese Merkmale sollen besonders häufig bei Hochsensiblen vorkommen, was aber nicht gleichzusetzen ist mit „alle Hochsensiblen sind so“ oder „Normalsensible sind das genaue Gegenteil“.
Schließlich hat jeder Mensch – egal ob hochsensibel oder nicht – eine andere „Zusammensetzung“: Eine bestimmte genetische Ausstattung, ein ihm ganz eigenes Temperament, ein bestimmtes Kontingent an Intro- und Extroversion, ihm eigene Talente und Neigungen, eine individuelle Sozialisation durch Eltern, Schule und andere Bezugspersonen, einen persönlichen Biorhythmus – und in manchen Fällen auch das eine oder andere Trauma. Es gibt eben viele Faktoren, die uns und unsere Persönlichkeit ausmachen. Und besonders unser angeborenes Temperament zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben.
Bei gut 15–20 % der Menschen kommt dann eben noch eine Dosis Hochsensibilität hinzu. Und diese Dosierung kann ebenfalls variieren. Der Rat, den der IFHS (Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität e.V.) gibt, gefällt mir gut:
Wir empfehlen, eine Weile den Gedanken, eine HSP* zu sein, quasi versuchsweise „mit sich herumzutragen“ und nach einiger Zeit zu prüfen, ob sich die Lebensqualität gebessert hat oder man nach anderen Erklärungen für das besondere Lebensgefühl suchen muss.
Auf jeden Fall kann man sich für Hochsensibilität „nichts kaufen“, weshalb eine belastbare „Diagnose“ auch keine unmittelbaren Konsequenzen hätte. Der Terminus kann allerdings helfen, dass einE BetroffeneR das eigene Leben etwas mehr der Veranlagung entsprechend gestaltet und auch von ihren positiven Seiten profitiert.
Im hinteren Teil des Buches finden Sie einen Fragebogen, mit dessen Hilfe Sie ein erstes Gespür dafür erlangen können, ob Hochsensibilität ein Thema für Sie oder jemand aus Ihrem Umfeld ist.
Bisher gehen alle Forschungen davon aus, dass wir mit dieser Ausprägung auf die Welt kommen, dass sie also genetisch bedingt ist. Das hieße, dass aller Wahrscheinlichkeit nach ein oder mehrere Vorfahren hochsensibel waren und ihre Gene an die folgenden Generationen weitergegeben haben. Die Übererregbarkeit scheint das Kernkriterium der Hochsensibilität zu sein und alle anderen Parameter die Folgen wenig hilfreicher Bewältigungsversuche oder Ergebnisse ungünstiger Sozialisation.
Die US-amerikanische Psychologin Elaine N. Aron hat dazu maßgeblich geforscht und geschrieben. Ihr Buch „Hochsensibilität in der Psychotherapie“ (eigentlich für Therapeuten geschrieben) finde ich zu diesem Thema besonders erhellend. Spannend sind unter anderem ihre Ergebnisse in Bezug auf die weitere Prägung und Sozialisation. Nachfolgend sind sie beispielhaft in zwei Extremen dargestellt:
Beispiel 1:
Stellen wir uns vor, ein hochsensibles Baby wird geboren und landet in einer harmonischen Wohlfühlfamilie. Es ist willkommen, wächst unter guten und wohlmeinenden Bedingungen auf. Die Eltern finden eine gute Balance zwischen Ermutigung und Fürsorge, es gibt keine nennenswerten traumatischen Erlebnisse, der hochsensible Elternteil ist in guter Balance mit seiner Hochsensibilität (ob er davon weiß, ist für dieses Beispiel zunächst nicht entscheidend), das Kind wächst quasi relativ unbelastet heran. Der hochsensible Elternteil lebt ihm in Bezug auf die Hochsensibilität hilfreiche Denkstile und Bewältigungsstrategien vor, die das Kind erlernen und internalisieren (verinnerlichen) kann. Dann stehen die Chancen gut, dass sich die Hochsensibilität positiv auf den Lebensweg auswirken wird bzw. die negativen Auswirkungen von Hochsensibilität durch hilfreiches Bewältigungsverhalten gut kompensiert werden können.
Das Kind wird damit wahrscheinlich weniger Selbstwertprobleme entwickeln, weniger kritisch mit sich umgehen und weniger Perfektionismus im Leistungsbereich entwickeln, um den Erwartungen anderer zu entsprechen und um sich über diesen Weg Anerkennung zu sichern.
Beispiel 2:
Und nun stellen wir uns vor, dass das hochsensible Baby unter weniger harmonischen Bedingungen aufwächst. Der hochsensible Elternteil ist mit dem Baby vielleicht überfordert, zugleich sehr gewissenhaft und will alles richtig machen, setzt sich dabei selbst massiv unter Druck und stößt infolgedessen an seine eigenen Grenzen.
Die Eltern streiten sich regelmäßig und laut, die Stimmung ist meistens angespannt, das Kind wächst unter einer Vielzahl negativ prägender Ereignisse auf. Womöglich kommt es sogar zu richtig traumatischen Erlebnissen, weil die Eltern sich scheiden lassen. Kurzum: Dieser hochsensible Mensch wächst also zu einem großen Teil in einem Klima von Angst, Bedrückung und Unsicherheit auf.
Wir erinnern uns: Hochsensible erleben jegliche Art von Emotion, ganz gleich ob positiver oder negativer Art, sehr viel intensiver als normal Sensible.
Wachsen hochsensible Kinder also mit einem Zuviel an negativen Emotionen und einem Mangel an hilfreichen Stressbewältigungsstrategien heran, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sie dauerhaft mehr inneren Stress erleben und die negativen Seiten der Hochsensibilität spüren werden. So kann es zu dazu kommen, dass ihre hochsensiblen Anteile stärker in negativer Form zum Tragen kommen:
Sie sind z. B. schneller von bestimmten Reiz-Mengen überwältigt, die ein Normalsensibler noch gut ertragen kann. Sie erleben negative Gefühle sehr viel intensiver, besonders Ängste. Gleichzeitig fehlen hilfreiche Bewältigungsstrategien. Als Folge dessen wird ihr Selbstwert und ihre Selbstfürsorge eher niedrig, ihre Tendenz zum Perfektionismus und Harmoniestreben jedoch hoch sein, was wiederum ein dauerhaftes Überforderungsverhalten begünstigt.
Hochsensibilität wird mit einer neurologischen Besonderheit in Zusammenhang gebracht.
Das Gehirn hochsensibler Menschen soll...