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E-Book

Ich und andere Irrtümer

Die Psychologie der Selbsterkenntnis

AutorSteve Ayan
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl303 Seiten
ISBN9783608115550
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
»Erkenne dich selbst!« Dieses Motto des antiken Orakels von Delphi lebt bis heute in den Köpfen vieler Menschen fort. Doch unser Ich ist viel facettenreicher und wandlungsfähiger, als es uns subjektiv erscheint. Anhand vieler Studien und praktischer Beispiele illustriert der Wissenschaftsjournalist Steve Ayan, wie unser Selbstbild entsteht und warum es verzerrt, ja oft sogar falsch ist. Sie wollen ihr wahres Ich verstehen, um im Einklang damit glücklich zu werden. Doch was, wenn es gar kein wahres Ich gibt? Wie wir uns selbst wahrnehmen, hat weitreichende Folgen für unser Denken, Fühlen und Handeln. Statt ein vermeintlich genaues Profil unseres Ichs zu zeichnen, sollten wir uns die nötige Offenheit bewahren, um die zu werden, die wir sein können. Steve Ayan bietet uns auf Basis der neuesten psychologischen Forschung einen faszinierenden Einblick in die Wissenschaft der Persönlichkeit und Selbsterkenntnis.

Steve Ayan, geboren 1971, ist Psychologe und Wissenschaftsautor/-journalist. Der langjährige Redakteur der Zeitschrift »Gehirn & Geist« in Heidelberg gilt als ein genauer Kenner der Neuropsychologie und Bewusstseinsforschung.

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Leseprobe

Einleitung


Gnothi seauton, »Erkenne dich selbst!«, ist einer der berühmtesten Sätze der Philosophiegeschichte. Er zierte neben anderen Ratschlägen wie »Nichts im Übermaß« und »Bürgschaft bringt Unheil« die Vorhalle des Apollon-Tempels von Delphi am Berg Parnass. Hier befand sich etwa ab dem 7. Jahrhundert vor Christus eine Orakelstätte, in der die Hohepriesterin Phytia Besuchern die Zukunft weissagte. Laut antiken Quellen galt der Appell »Erkenne dich selbst!« ursprünglich allerdings nicht dem Ausloten persönlicher Eigenarten. Vielmehr sollte der Ratsuchende beim Betreten des Heiligtums die eigene Sterblichkeit und die Hinfälligkeit des Menschen bedenken. Sich in diesem Sinn als schwach und begrenzt zu erkennen, dieser Akt der Demut galt als Gegengift zur verbreiteten Hybris, dem Hochmut. »Erkenne dich selbst!« war somit dem Ursprung nach die Antithese zu jener egozentrischen Selbstbespiegelung, für die diese Maxime heute oft steht.

Die Idee, man müsse seine individuellen Eigenarten und Talente möglichst gut ergründen und ausschöpfen, war den alten Griechen eher fremd. Ihr Ideal des »dem eigenen Wesen gemäßen« Lebens, die Eudaimonie, zielte noch nicht auf Selbstverwirklichung und die Optimierung der eigenen Potentiale, sondern auf einen Zustand der Seelenruhe, eine Art glückseligen Stillstand, den wir uns heute, in einer Zeit der permanenten Veränderung, kaum noch vorstellen können. Gleichwohl stand der Appell zur Selbstvergewisserung, zum Nachdenken darüber, was den Menschen ausmache, am Beginn der abendländischen Kultur. Und dieses Erbe wirkt bis heute fort.

Zu wissen, wer man ist, so glauben wir, sei die beste Gewähr, das für einen selbst Richtige zu tun. Viele Weichenstellungen der persönlichen Lebensgestaltung, etwa bei der Berufs- oder Partnerwahl, machen wir von den Eigenschaften, Fähigkeiten und Bedürfnissen abhängig, die wir an uns und anderen entdecken. Schließlich klappt es mit dem Job oder mit der Beziehung wohl nur dann, wenn das Matching stimmt, wenn Profil und Anforderung, Wunsch und Wirklichkeit zusammenpassen. Selbsterkenntnis soll uns hierbei als Kompass dienen. Mit ihrer Hilfe wollen wir sicher durch die stürmischen Gewässer des Lebens navigieren. Wer sich selbst genau kenne und sich von äußerlichen Zwängen und Täuschungen freimache, wer also selbstbestimmt und authentisch handele, der werde quasi unvermeidlich glücklich. Für manche besteht darin gar der tiefere Sinn des Lebens.

Doch wie macht man das – sich selbst erkennen? Eine sichere Methode dafür gibt es nicht. Zwar mangelt es kaum an Leuten, die uns Antworten auf die große Frage »Wie bin ich?« versprechen. Zu allen Zeiten wurden Theorien darüber ersonnen, wie sich unser Charakter erfassen und beschreiben lasse. Doch die meisten davon halten einer näheren Prüfung kaum stand. So zum Beispiel die vom Schweizer Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung (1875–1961) entworfene Typenlehre, die zwischen in sich gekehrten, introvertierten sowie geselligen, extrovertierten Denk-, Fühl-, Empfindens- und Intuitionsmenschen unterscheidet. Demnach gibt es etwa den »extrovertierten Empfindenstyp«, der vor Lebenskraft strotzt und nach Genuss strebt, oder den »intuitiven Denktyp«, der den Kopf in den Wolken hat und wenig praktisches Geschick besitzt. Jungs Panoptikum der Klischees ließ Katherine Briggs (1875–1968), eine US-amerikanische Hausfrau mit einem Collegeabschluss in Agrarwirtschaft, zusammen mit ihrer Tochter Isabel Myers (1897–1980) in das Modell des Myers-Briggs-Typenindikators (MBTI) einfließen. Es kombiniert vier von Jung inspirierte Begriffspaare wie »Fühlen versus Denken« oder »Urteilen versus Wahrnehmen« derart miteinander, dass unter dem Strich 24 = 16 Charaktertypen herauskommen. Allerdings scheiterten sämtliche seriösen Versuche von Persönlichkeitsforschern, dieses Schema als trennscharfe, reproduzierbare Beschreibung echter Menschen zu verwenden.1 Es ist, kurz gesagt, reine Psychofolklore.

Dennoch fand der MBTI Eingang etwa in die Personalauswahl und in die Lebenshilfe und wird von Coaches und Therapeuten bis heute immer wieder aufgebrüht.2 Schließlich kommen griffige Labels bei deren Kunden meist besser an als sperrige wissenschaftliche Fakten. In diesem Buch lasse ich derlei Küchenpsychologie bewusst beiseite. Es geht hier vielmehr um jenen Fundus an empirisch gesicherten Hypothesen und Effekten, die die Erforschung der Persönlichkeit und Selbsterkenntnis zutage förderte. Mit den blumigen Erklärungen der Ratgeber hat das eher wenig zu tun. Denn anders als diese liefert die Forschung zahlreiche Hinweise darauf, wie schwierig, ja geradezu unmöglich es ist, sich selbst unvoreingenommen zu betrachten. Unser Bild vom eigenen Ich ist lückenhaft und systematisch verzerrt. Doch das ist tatsächlich auch gut so!

Wir haben ein sonderbar gespaltenes Verhältnis zur Selbsterkenntnis. Wir schätzen sie so hoch wie kaum etwas anderes, und gleichzeitig meiden wir sie wie der Teufel das Weihwasser. Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als uns selbst zu durchschauen, und haben doch einen Heidenrespekt davor. Wer weiß, was für unangenehme Wahrheiten dabei herauskämen? Beschlich Sie auch schon einmal der Verdacht, Sie sollten mancher Annahme über sich selbst besser nicht zu sehr auf den Zahn fühlen? Zum Beispiel der, Sie seien ein guter Freund oder ein verständnisvoller Partner? Eine gute Mutter oder ein guter Vater? Sind Sie wirklich so hilfsbereit, ehrlich oder großzügig, wie Sie meinen? Ich schätze, es geht Ihnen damit ähnlich wie mir. Wenn man mich fragt, sage ich: »Klar bin ich das, was sonst!« Und sicher fallen mir auch ein paar passende Beispiele ein: Wie ich einem Kumpel einmal aus der Patsche half oder die gefundene Geldbörse an den Eigentümer zurücksandte. Davon abgesehen drücke ich mich aber vor genauerem Nachbohren. Ein Quantum Ignoranz sich selbst gegenüber ist nicht umsonst so oft vorzufinden – es erweist sich als überaus nützlich.

Eine zentrale Erkenntnis der Psychologie besagt, dass wir stets bewusste und unbewusste Anteile in uns vereinten. Dieser doppelte Boden ist der Grund dafür, dass rationale Überlegung und Vorurteil, bewusster Wunsch und Täuschung zugleich in uns am Werk sind. Ein zweiter verblüffender Befund lautet: Sich Illusionen über das eigene Ich zu machen, ist kein Defekt, sondern unvermeidlich – und gesund. Denn die Fähigkeit, andere wie auch sich selbst hinters Licht zu führen, hat eine Menge für sich. In vielen Lebensbereichen sind wir nur dann erfolgreich, wenn wir Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit ausstrahlen. Das wiederum gelingt deutlich besser, wenn man sich selbst für kompetent und vertrauenswürdig hält und über anders lautende Hinweise hinwegsieht. Warum sonst, meinen Sie, gibt es so viele Egomanen und Schönredner auf der Welt? Weil ihre Masche zieht! Und dieselben Tricks, mit denen wir unsere Nächsten bezirzen, wenden wir auch auf uns selbst an. Wir täuschen uns und unsere Mitmenschen laufend, wir können gar nicht anders, denn der schöne Schein, die gefühlte Sicherheit helfen uns, jene Ziele zu erreichen, die wir uns vornehmen. So wird die Täuschung zur unentbehrlichen Zutat für ein gelingendes Leben.

Zugegeben, das ist starker Tobak für all jene, die von einem authentischen Leben träumen. Für sie liegt der Weg zum Glück darin, unter allen Umständen wahrhaftig zu sein. Sie wollen sich vom Unechten befreien, von den Maskeraden, den auferlegten Pflichten und Ansprüchen. Die allgegenwärtige Verstellung hindere sie nur daran, ihrer wahren Bestimmung zu folgen. Doch womöglich gehen sie dabei von einer falschen Prämisse aus. Vielleicht gibt es jenen festen Wesenskern, das wahre Ich, dem sie treu sein wollen, gar nicht.

Natürlich sind Selbstbeobachtung und -reflexion nicht grundsätzlich zwecklos. Man kann sich mit ihrer Hilfe sehr wohl ein Stück besser kennenlernen. Selbstkritik ist dabei ebenso dienlich wie eine distanzierte Sicht auf das eigene Denken, die man etwa bei der Achtsamkeitsmeditation einübt, oder der Blick in den Spiegel, den uns enge Freunde bisweilen vorhalten. Allerdings: Negative oder unangenehme Seiten gestehen wir uns nur ungern ein. Ausgerechnet diese auszublenden, kann jedoch kaum Zweck der Übung sein. So führt intensive Ich-Beschau häufig zu Frustration und Unbehagen.

Die meisten Menschen wollen das nicht. Folglich richten sie ihr Selbsturteil danach, was sich gut anfühlt und ihren vorgefassten Meinungen entspricht. So kommt es, dass sie oft nur das bemerken und sich nur an...

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