Einleitung
Ist Kant nur eine geschichtliche Figur der Philosophie, oder verdient er auch heute noch unser systematisches Interesse? Kant zählt zu den größten Denkern des Abendlandes und hat wie kaum ein anderer die Philosophie der Neuzeit geprägt. Aber auch Galilei und Newton gelten in ihrem Fach als weit herausragende Wissenschaftler. Trotzdem stehen sie heute für eine vergangene Gestalt der Physik, die durch die Relativitäts- und die Quantentheorie eindeutig überholt worden ist. Trifft dies auch für Philosophen zu? Repräsentiert Kant eine hervorragende, gleichwohl überholte Gestalt menschlichen Denkens?
Geistesgeschichtlich gehört Kant in die Epoche der europäischen Aufklärung. Deren tragende Einstellung ist in vielem brüchig geworden: die Vorstellung, alle Dinge seien beherrschbar, der Glaube an den beständigen Fortschritt der Menschheit, überhaupt der Vernunftoptimismus. Als historische Bewegung ist die Aufklärung vergangen. Doch sind deshalb all ihre Leitideen wertlos geworden? Oder bezeichnen Vernunft und Freiheit, Kritik und Mündigkeit eher menschliche Grundhaltungen und Aufgaben, die, recht verstanden, über das 17. und 18. Jahrhundert hinaus gültig sind?
Kant hat ein Verständnis der Aufklärungsideen entwickelt, das von einer naiven Aufklärung ebensoweit entfernt ist wie von einer gegenaufklärerischen Attitüde, nach der alles Bestehende gut und schön ist. Die Philosophie Immanuel Kants stellt nicht nur den intellektuellen Höhepunkt, sondern auch eine Umgestaltung der europäischen Aufklärung dar. «Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» – dieser Wahlspruch der Epoche wird von Kant aufgenommen (Was ist Aufklärung? VIII 35) und ins Prinzipielle gewendet. Die Aufklärung als Prozeß: die durch den Entschluß zum Selbstdenken in Gang kommende Aufhebung von Irrtümern und Vorurteilen, die allmähliche Loslösung von Einzelinteressen und die schrittweise Freisetzung der «allgemeinen Menschenvernunft» – dies ist ein gemeinsamer Grundgedanke der Zeit. Bei Kant führt er zur Kritik aller dogmatischen Philosophie und zur Entdeckung des letzten Grundes der Vernunft. Ihr Prinzip liegt in der Autonomie, der Freiheit als Selbstgesetzgebung. Zugleich nimmt Kant einen ungetrübten Optimismus, der schon durch Rousseaus Ersten Diskurs (1750), aber auch durch das «sinnlose» Erdbeben von Lissabon (1755) erschüttert worden ist, aus Grundsätzen zurück. Im Ausgang von innerphilosophischen Problemen stößt Kant nicht nur zu den Ursprüngen, sondern auch zu den Schranken reiner Vernunft vor, der theoretischen ebenso wie der praktischen.
Kant ist vom neuzeitlichen Fortschritt der Naturwissenschaften (Galilei, Newton) sowie der noch älteren Entwicklung der Logik und Mathematik tief beeindruckt. Um so unerträglicher erscheint es ihm, daß in der Ersten Philosophie, die traditionell Metaphysik heißt, ein nicht abzusehender Streit um die Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit tobt. Diesen Grundlagenstreit hält Kant für einen Skandal, den die Philosophie beseitigen muß, sofern sie ernsthaft ihren Platz unter den Wissenschaften behaupten will.
Um die Metaphysik in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu versetzen, stellt Kant die Untersuchung von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zuerst einmal zurück. Er setzt eine Stufe tiefer an und fragt, ob es die Erste Philosophie, die Metaphysik, überhaupt als Wissenschaft geben kann. Vor der Aufgabe, unsere natürliche und soziale Welt aus ihren Prinzipien zu erforschen, erhält die Philosophie den Auftrag, ihre eigene Möglichkeit zu untersuchen. Die Philosophie fängt nicht länger als Metaphysik an; sie beginnt als Theorie der Philosophie, als Theorie einer wissenschaftlichen Metaphysik.
Die Frage nach der Metaphysik als Wissenschaft bringt eine bislang unbekannte Radikalität in die philosophische Diskussion. Die verschärfte Radikalität wird nur durch eine neue, gründlichere Denkweise möglich. Kant entdeckt sie in der transzendentalen Vernunftkritik. Mit ihrer Hilfe erörtert er die Leistungsfähigkeit der Vernunft und begründet ein autonomes wissenschaftliches Philosophieren, aber auch dessen prinzipielle Grenze. Wer in Kant nur den Ursprung einer neuen Metaphysik sieht, hat daher ebenso ein einseitiges Verständnis wie derjenige, der ihn im Anschluß an Mendelssohn bloß als ‹Alleszermalmer der Metaphysik› betrachtet.
Abb. 1: Kant. Zeichnung von Puttrich um 1798.
Die Frage nach einer autonomen wissenschaftlichen Philosophie kann nicht abstrakt, sondern nur im Durchgang durch eine Untersuchung zentraler Sachprobleme beantwortet werden. Denn eine autonome Philosophie, die Philosophie als Vernunftwissenschaft, setzt voraus, daß es im menschlichen Erkennen und Handeln, in Recht, Geschichte und Religion, in ästhetischen und teleologischen Urteilen Elemente gibt, die unabhängig von aller Empirie gültig sind; denn nur dann können sie nicht erfahrungswissenschaftlich, sondern müssen philosophisch erkannt werden. Kants Grundfrage nach einer autonomen wissenschaftlichen Philosophie ist daher keine Vor-Frage; sie führt mitten in die Erörterung substantieller Probleme hinein. In Untersuchungen von beispielgebender Originalität und begrifflicher Schärfe sucht Kant nachzuweisen, wie die verschiedenen Sachbereiche tatsächlich durch erfahrungsunabhängige Elemente konstituiert werden. Damit erklärt er, wie trotz der Endlichkeit (Rezeptivität und Sinnlichkeit) des Menschen die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit des wahren Wissens, des sittlichen Handelns usw. möglich werden.
Eine wissenschaftliche Philosophie wiederum kann es nur dort geben, wo sich die erfahrungsunabhängigen Elemente methodisch finden und systematisch darstellen lassen. Für Kant geschieht dies in der transzendentalen Vernunftkritik. Die Entdeckung der erfahrungsunabhängigen Elemente und der sie freilegenden Vernunftkritik hat wahrhaft Epoche gemacht. Sie hat die bisherige Art des Denkens revolutioniert und die Philosophie, so glaubt Kant, endlich auf ein wirklich sicheres Fundament gestellt. Auch wer gegen den Grundlegungsanspruch skeptisch bleibt, kann nicht bestreiten, daß Kant die philosophische Szene: die Erkenntnis- und Gegenstandstheorie, die Ethik, die Geschichts- und Religionsphilosophie, auch die Philosophie der Kunst, grundlegend verändert hat. Ob wir an Erkenntnisse a priori und a posteriori, an synthetische und analytische Urteile, an transzendentale Argumente, an regulative und konstitutive Ideen, an den kategorischen Imperativ oder die Autonomie des Willens denken – die Zahl der Begriffe und Probleme, die auf Kant zurückgehen, ist ungewöhnlich groß. Höchst unterschiedliche Richtungen haben Kant als Bezugspunkt gewählt, an dem sie bald kritisch, bald affirmativ das eigene Denken orientieren.
Die Schlüsselbegriffe der Kantischen Philosophie: Kritik, Vernunft und Freiheit, sind die entscheidenden Stichworte des «Zeitalters der Französischen Revolution» (etwa 1770 bis 1815). So ist Kant nicht bloß einer der herausragenden Klassiker der Philosophie und ein wichtiger Gesprächspartner der Gegenwart. Er ist zugleich einer der bedeutendsten Vertreter jener Epoche, die Jaspers’ Titel «Achsenzeit» verdient und die bis heute unser Denken und unsere gesellschaftlich-politische Lebenswelt wesentlich mitbestimmt. Zusätzlich entfaltet Kant einen Kosmopolitismus, der unserem Zeitalter der Globalisierung hochwillkommen ist. Er reicht sogar weit über das hinaus, was die Schrift Zum ewigen Frieden als Weltbürgerrecht entwickelt. Nach Kant ist der Mensch zu einem vielfachen, sogar siebendimensionalen Weltbürgertum berufen. Denn er soll Bürger in der Weltgemeinschaft des Wissens und der der Moral sein, in der Weltgemeinschaft der Erziehung und der der Geschichte, der einen Naturordnung, die den Menschen als Moralwesen zum Endzweck hat, ferner in der ästhetischen Welt und nicht zuletzt in einer globalen Rechts- und Friedensordnung.
Trotzdem können wir Kant nicht als Wegbereiter der Gegenwart feiern. Denn zum einen ist die Kritik vieler Gegenwartsphilosophen an Kant nicht gering. Zum anderen ist Kant weder ein Ahnherr der modernen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften noch einer der Begründer der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie. Auch taugt Kant nicht als Kronzeuge für die Entwicklung der rechtsstaatlichen Demokratien zu Sozialstaaten. Der logische Positivismus und die analytische Philosophie bestreiten streng erfahrungsfreie Elemente und fordern ebenso wie der Strukturalismus einen Verzicht auf jede Letztbegründung. In der Ethik wird Kant durch den Utilitarismus, dann durch die Diskursethik, in seiner Philosophie der Freiheit durch den Determinismus und Behaviorismus, in der Rechtsphilosophie durch den Positivismus herausgefordert. Kurz: zu wichtigen Tendenzen in Philosophie, Wissenschaft und Politik steht Kant im Widerspruch.
Soweit Kant mit dem Bewußtsein unserer Epoche nicht übereinstimmt, stößt die Lektüre seiner Schriften leicht auf einen inneren Widerstand. Die folgende Einführung in den Lebensweg, die philosophische Entwicklung und das Wirken, vor allem aber in das Werk, sucht den Widerstand gegen Kant abzuschwächen, den Leser für Kants...