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E-Book

Innerlich frei

Was wir gewinnen, wenn wir unsere ungeliebten Seiten annehmen

AutorUlrike Scheuermann
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783426438725
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die bekannte Psychologin Ulrike Scheuermann geht der Frage nach, warum wir das Schlechte verdrängen, das Unschöne ablehnen und dafür das Makellose anstreben. Und dabei gründlich irren. Auf Basis neuester wissenschaftlicher Studien weist sie hier den Weg, wie wir innerlich frei werden, indem wir unsere unvollkommenen Seiten annehmen. Ein Anwenderbuch mit Tiefgang, Fallbeispielen und lebensverändernder Kraft.

Die bekannte Diplom-Psychologin und Bestsellerautorin Ulrike Scheuermann hilft Menschen, ihr Leben sozial verbundener und damit gesünder zu gestalten. Mit ihren Büchern, Vorträgen und Medienauftritten vermittelt sie aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und wie jede und jeder sie für sich umsetzen kann. Nach ihrem Medizin- und Psychologiestudium hat Scheuermann den Berliner Krisendienst mit aufgebaut und dort 10 Jahre gearbeitet. Ihre Seminare und Coachings finden in ihrer esencia-Akademie in Berlin und online statt. Die Psychologin - Hilft. www.ulrike-scheuermann.de  

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Leseprobe

Warum wir »unperfekt« stärker sind


Die Salbe roch wie frischer Bitumenbelag beim Straßenbau. »Halt still!«, rief meine Mutter morgens, noch zu Hause, und lachte, weil ich ihr voller Vorfreude auf den Wandertag ständig davonhopste. Ich mochte das Toben mit den Kindern aus meiner Klasse in den Berliner Wäldern, an Seen und Flussläufen entlang. Millimeterdick trug meine Mutter jetzt die entzündungshemmende schwarze Ichthyolsalbe auf die kaputte Haut meiner Beine auf und umwickelte sie mit Mullbinden.

Später rannte ich mit ein paar Jungs querfeldein, und da rutschte nach und nach der dicke Verband unter meiner Jeans tiefer, bis er sich über den Schuhen stapelte. David, den ich ziemlich nett fand, lief neben mir und sagte: »Es riecht hier nach Teer, was ist das bloß?« – »Ja«, sagte ich und runzelte die Stirn. »Wirklich komisch, ich rieche es auch.« Ich war so gut im Verbergen, dass ich mir fast selbst glaubte.

Dass mein Leben, dass mein Körper nicht so ist, wie ich ihn gern hätte, habe ich gründlich in den ersten 25 Jahren meines Lebens erfahren müssen. Heute, zwanzig Jahre später, kann ich erkennen, wie ich von dieser Lernerfahrung profitiert habe: Ich bin von klein auf vertraut mit dem unausweichlichen Wechsel zwischen Positivem und Negativem, in diesem Fall zwischen Gesund- und Kranksein. Eine immer noch rätselhafte chronische Hautkrankheit hat nämlich mein Kinderleben bestimmt: Neurodermitis. Die Symptome brechen oft ohne erkennbaren Grund aus und klingen wieder ab, bis zur nächsten Runde. Ich war ein »schwerer Fall«, wurde mit Antibiotika, Antiallergika und reichlich Cortison von oben bis unten behandelt. Und ich selbst suchte immer neue, kreative Lösungen für ein Problem, das in meiner Kindheit nicht lösbar war.

Ich bastelte mir zum Beispiel Gipsröhren, die ich vor dem Schlafengehen über meine Arme streifte. Über die Hände und die unteren Röhrenenden zog ich Frotteesocken, so dass das Ganze hielt. Ich legte mich auf den Rücken, biss die Zähne zusammen und hoffte, die Nacht über Ruhe vor mir selbst zu haben. Wenn ich Pech hatte, riss ich mir im Schlaf alles ab. Aber selbst bei glücklich überstandener Nacht holte ich morgens nach, was ich zuvor verhindert hatte. Der Juckreiz war stärker. Ich konnte den Kampf gegen die Krankheit nicht gewinnen.

Ich bin ohne die Illusion aufgewachsen, es gäbe gute ohne schlechte Zeiten. Alle paar Wochen oder Monate neu fand ich notgedrungen nach einigen Tagen Hadern immer wieder zu der Gewissheit: »Es ist, wie es ist.« Rückblickend betrachtet war diese Krankheit aber nicht nur das Leid meiner Kindheit, sondern auch das Lerngeschenk, das mir bis heute hilft, in anderen Lebensbereichen ebenfalls bereitwilliger alle Seiten anzunehmen.

Und noch etwas aus dieser Zeit ist wertvoll für mein heutiges Leben und meine Arbeit mit anderen Menschen: Ich kann bei ihnen sehr gut nachempfinden, wie es ist, aus Scham und aus Angst vor Ablehnung einen Teil seiner selbst zu verstecken. Gegenüber David tat ich damals so, als käme der Salbengeruch nicht von mir. Für den Schwimmunterricht fand ich immer kühnere Ausreden. Und in der Klasse klappte ich meinen Kragen über die zerfurchte Nackenhaut hoch als Sichtschutz gegen die Blicke der Mitschüler. Ich tat als Kind alles, um das vermeintlich Abstoßende an mir zu verstecken. Ich weiß also, wie das geht, wie man sich dabei fühlt – und wie massiv es schwächt, wenn man sich versteckt. Und ich weiß mittlerweile, wie sehr es stärkt, wenn man sich mit seinen ungeliebten Seiten annimmt.

Mein Entschluss, dieses Buch zu schreiben, entstand aus meiner Arbeit mit Klienten. Eine Frau Mitte fünfzig saß mir gegenüber und schaute stur auf das zerknüllte Taschentuch zwischen ihren Fingern. »Mein Mann ist seit anderthalb Jahren tot, und ich jammere hier immer noch rum. Ich schäme mich dafür. Die anderen können es auch schon nicht mehr hören.« Und dann fragte sie mich allen Ernstes, ob ich überhaupt noch mit ihr arbeiten wolle bei so viel »Klagerei«.

Immer wieder verurteilen sich Menschen selbst, weil sie nicht wirklich glücklich seien, weil sie immer noch Zeiten erlebten, in denen sie traurig oder wütend seien und an sich selbst zweifelten. Weil sie immer noch keine Traumbeziehung führten wie das Paar von nebenan, keine so coole Familie hätten wie etwa Brad Pitt und Angelina Jolie, nicht so lässig und selbstsicher Karriere machten wie diese Superkollegin – oder weil sie einfach nicht an diesen tollen Til Schweiger im Fernsehen herankämen …

Ein solches Streben nach Großartigkeit ist unrealistisch. Wir werden dadurch nicht größer, sondern machen uns klein, weil wir einen wesentlichen Teil von uns ablehnen – ebenso wie wir bei den vermeintlichen Vorbildern ja auch einen wesentlichen Teil von deren Realität erst gar nicht wahrnehmen. Aber den meisten ist nicht klar, wie sie sich anders ausrichten können. Nur vordergründig zu sagen: »Ich sch … auf den hohen Anspruch«, oder: »Ich bleib, wie ich bin«, bremst uns in unserer Entwicklung und hält außerdem nur höchstens bis zum nächsten Mal, wenn wir wieder Neid empfinden oder an unserem Selbstwert zweifeln. Gehen wir stattdessen tiefer: bis hin zu unseren eigenen Abgründen und ins Unbewusste, wo wir die Wurzeln unserer Ängste, Blockierungen und Unfreiheiten finden und dann im Idealfall auflösen können.

Und blicken wir auch über uns hinaus: Nicht alle Ansprüche unserer Gesellschaft und Kultur sind Werte an sich. Vor allem die teilweise unrealistischen Vorstellungen, die uns das einseitige Dauerglück versprechen, sind in der Regel interessengesteuert. Perfekt sollte das eigene Leben sein? In der Realität ist es das nie. Manche Menschen zerbrechen fast an dieser Diskrepanz.

Ich möchte Ihnen mit diesem Buch Impulse geben. Damit Sie nicht mehr glauben, immer weiterrennen zu müssen, damit Sie nichts mehr verstecken – weder vor sich selbst noch vor anderen – und so mehr »Ganzheit« im Sinne von »Vollständigkeit« entwickeln. Ich möchte Ihnen zeigen, dass Sie Ihr Wesentliches mit alldem leben können, was Sie ausmacht, ganz und gar statt nur mit dem makellosen, leicht vorzeigbaren Teil Ihrer selbst. Sie müssen nicht all Ihre Unzulänglichkeiten aus der Welt geschafft oder überwunden haben, um wertvoll und wichtig zu sein oder um sich weiterzuentwickeln. Im Gegenteil. Nur gemeinsam mit Ihren bisher ungeliebten Seiten geht Ihre Entwicklung wirklich weiter, Sie werden vollständiger und verstehen mehr. Sie nehmen Ihr Selbst liebevoller an. Und das gilt ebenso für uns als Gesellschaft und als Teil einer zusammengerückten Welt.

Wie wäre es also, wenn wir das vermeintlich Negative nicht mehr verdrängten, sondern es in unser Leben einließen? Wie wäre es, nicht kategorisch zu bewerten, bis Perfekt und Unperfekt, Gut und Schlecht, Hell und Dunkel – jedes an seinem Platz und im angemessenen Rahmen beachtet – »gleichwertig« nebeneinander bestehen könnten? Bei uns selbst, unseren Mitmenschen und in der ganzen Welt? Wie wäre es, beides zugleich zu sehen, zu leben und zu sein? Und dann auch andere und die Welt so sehen zu können? (Der Grafiker M. C. Escher hat seine Kunst dieser Sichtweise gewidmet. Blättern Sie mal ein Buch mit seinen Bildern durch:[1] Sie finden eine sichtbar gemachte Einheit unserer dualen Welt.)

So weit sind die meisten Menschen noch nicht. Stattdessen beherrscht vielfach das Ideal von ungetrübtem Glück und Perfektion ihre Vorstellung vom Leben. Wer die Formel für Glück, Erfolg, Liebe oder Reichtum kenne und genug an sich arbeite, könne dort ankommen – dieser Irrtum vom Glück ohne Unglück wird uns wie gesagt vielfach vorgegaukelt. Obwohl wir täglich sehen, dass es immer weiter Ungerechtigkeit, Armut, Gewalt und Leid in der Welt gibt. Und dieses Leid der Welt wird wohl weiterbestehen. Wir jedoch meinen, alles sogenannte Negative im Leben hindere uns nur am Glück, und bekämpfen es, anstatt das Leben mit diesem Negativen anzunehmen und es als sinnhaften Lernanlass für unsere Entwicklung zu erkennen.

Deshalb möchte ich Ihnen im ersten Teil dieses Buches – »Gefangen« – zeigen, welchem Irrtum wir mit einem einseitigen Glücksverständnis aufsitzen und wie es uns gefangen und im inneren Stillstand hält. Sie durchschauen die Mechanismen. Im zweiten Teil – »Frei« – erzähle ich, wie ein Weg zur inneren Freiheit aussehen kann. Wenn Sie innehalten, können Sie sich entspannen, auch im Miteinander. Und wenn das Vermeiden von Schmerzen kein alleiniges Kriterium für Ihre Lebensentscheidungen mehr ist, müssen Sie auch vor nichts mehr weglaufen. Im dritten Teil – »Erfüllt« – beschreibe ich, wie ein Leben sein kann, das Sie mit allen Seiten annehmen, in dem Sie andere Menschen in Liebe sein lassen und in dem Sie sinnerfüllt leben. Erst jenseits eines einseitigen Strebens nach Glück finden Sie zu Ihrem wahren Selbst und leben Ihr »Wozu« – zur zweiten Art von Glück.

Ein paar Sätze noch zu meinem Buchkonzept: Ich möchte Ihnen in erster Linie Denkanstöße für Ihre Haltung sich selbst und dem Leben gegenüber geben. Wenn wir uns intensiv mit etwas beschäftigen, verändern neue Gedanken und Ideen etwas in uns, sie wirken bis ins Unbewusste. Zugleich sind die Wege, um sich weiterzuentwickeln, sehr verschieden, auch beim Lesen.

Manche wünschen sich konkrete Anregungen für die Umsetzung im Alltag. Dafür finden Sie Impulse am Ende jedes Kapitels unter der Überschrift »Für den Alltag«. Meist sind es Fragen zum Bewusstmachen und zur Reflexion über sich selbst, auch mal ein Spiel oder eine Übung zu Veränderungen im Alltag. Ich gebe jedoch keine...

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