Mein Jakobsweg
Wohlauf in Gottes schöne Welt, lebe wohl, ade. Wo ist denn bloß mein Jakobsweg? Mehr als nur ein Weg? Wer mal mit etwas Abstand auf das Leben schauen möchte, der gehe den Jakobsweg. Es ist fast nie zu spät dafür. Mal eben aussteigen. Wie jeder besondere Weg, so beginnt auch der Jakobsweg im Kopf. Am Anfang ist da so eine Idee, aber dieser Anfang liegt schon weit zurück. Aber jetzt: Jetzt will ich diese Idee verwirklichen. Der Rucksack ist gepackt.
Erkenne, wo du stehst, wohin du willst. Mach einen Plan. Und dann – geh! Und - sei offen für jede Überraschung. Erkenntnisse und Erleuchtung in Aussicht. Ein fröhliches Lied auf den Lippen ist doch immer recht hilfreich.
Also: Vom Seeweg rauf auf den Jakobsweg; so sagt ein Seemann. Mal sehen, ob der Weg wirklich das Ziel ist. Der Weg das Ziel? Und geht es mal so recht nicht weiter, dann hilft ja wohl die Jakobsleiter. Jeder Seemann weiß, dass es sich dabei um eine Strickleiter handelt. Die Jakobsleiter dient dem Zweck, Höhen und Tiefen zu überwinden. Zum Beispiel, um an einer Bordwand hoch und runter zu krabbeln. Der hl. Jakob weiß das sicherlich. Und nun wissen es auch die Pilger. Die Jakobsleiter wird aber auch als eine Art Verbindung zwischen Himmel und Erde beschrieben. Ich bleibe zunächst mal hier auf Erden.
Liegt das Glück des Menschen nicht auch in der Zielsetzung begründet? Ich will das herausfinden. Also steige ich in Hamburg am 06.10.11 um 05:00 Uhr in den Bus und los geht die Fahrt nach Bayonne in Frankreich. Zielsetzung: Behausung → ZOB → Bayonne → Saint Jean-Pied-de Port → Catedral Santiago de Compostela kurz vor den Altar. Ja, und die vielen kleinen Orte mit den Herbergen und Cafe Bars gehören doch auch dazu. Davon gehe ich jetzt aus. Aber das ist dann immer pure Gegenwart, eingeschlossen in Vergangenheit und Zukunft zum jeweiligen Zeitpunkt. Ich habe schon so eine gewisse Vorahnung und die ist ganz real.
Vieles ist noch nicht bewiesen, aber sinnvoll erahnt.
Das Gestern und das Morgen liegen doch im Jetzt verborgen.
»Vor der Schöpfung gab es weder Zeit noch Dauer.« (Spinoza)
Am 07.10.11 um 04:00 Uhr in der Früh stehe ich an einem Kreisel in Bayonne, dunkel, feucht und kalt. Jetzt muss ich nur noch den Hauptbahnhof finden. Der Busfahrer darf aus organisatorischen Gründen nicht am Hauptbahnhof halten. Ich habe im Bus keinen Stern gesichtet und mit Blick zum Himmel auch nichts Leuchtendes. Aber ich bin schon mal in Bayonne in Frankreich und es läuft mir ein seltsamer, freudiger Schauer über den Rücken. Wer geht, findet seinen Weg.
La, la, la, la, la, 3 Teenager (2 Mädchen, 1 Junge) steuern singend auf mich zu und fragen nach einer Zigarette. »No fumare«, und das wird auch freundlich akzeptiert. Sie haben in einer naheliegenden Disco ein wenig gefeiert. Nett, fröhlich und weiterziehend. Ich lese einmal »Gare« auf einem Schild und dann nur noch andere Richtungshinweise. Nach einer halben Stunde Fußmarsch kommt mir wieder eine kleine Gruppe Jugendlicher entgegen, fröhlich und nett, eben gut drauf. Das tut richtig gut. Es ist wachrüttelnder als eine Tasse Kaffee. Obwohl – die hätte ich jetzt auch sehr gerne. Ich frage auf Englisch nach dem Weg zum Bahnhof und werde prompt von einem Mädchen untergehakt und schon geht die Reise los. »Wir bringen dich dorthin«: meinte die süße Kleine oder die kleine Süße auf Englisch. Das Leben macht doch so richtig Spaß. Es entwickelt sich eine heitere Konversation; englisch, spanisch, französisch, deutsch, von allem ein bisschen und vor allem, lustig. Ich erfahre, dass die Mädchen und Jungen nach 3 Stunden Schlaf auch noch in die Schule müssen. Na, das wird wohl ein sehr anstrengender Tag. Für mich sicherlich auch. Am Bahnhof angelangt – alles geschlossen. Es folgt ein herzlicher Abschied von den Mädchen mit Wangenluftküsschen hier und Wangenluftküsschen da und by, by. Wie gesagt, die haben ja noch einen anstrengenden Tag vor sich.
Ich schlendere so hin und her und entdecke eine Gestalt am Boden kauernd, neben sich einen Rucksack. »Nun sag bloß du willst auch den Jakobsweg gehen?« Ja – da kauert Claudia aus Berlin. Wir haben uns sofort eine Menge zu erzählen; Ernährung, gesunde Lebensweise, Sinn des Pilgerns und des Lebens überhaupt. Dann wird es immer ruhiger. Die Müdigkeit breitet sich aus. Verständlich – nach 24 Stunden Busfahrt und den Vorbereitungen. Vor der Abfahrt ist man ja auch schon etwas länger in Aktion gewesen. Wir sind uns einig – eine so lange Busfahrt ist sehr, sehr anstrengend. Es trudeln noch ein paar Pilger aus Deutschland ein. Ja – und alle haben den Jakobsweg im Sinn. Ich bin offensichtlich unter Gleichgesinnten, auch ein erhebendes Gefühl. Die Uhrzeiger rücken auf 06:00 Uhr zu. Endlich – die Türen öffnen sich und der Weg zum Kaffeeautomaten ist frei. Wir gönnen uns ein belebendes Getränk. Die Fahrkarte ziehe ich mir für ca. 10 Euro aus dem Automaten. Um 08:18 Uhr beginnt die Fahrt von Bayonne nach St. Jean-Piet de Port, das sind so schlappe 55 km. Aus welchen Gründen auch immer wird für diesen Tag der Bus eingesetzt. Es ist wie ein kleiner Ausflug durch eine schöne, bergige Landschaft. Herrlich – diese Eindrücke. Die Müdigkeit macht diesen herrlichen Eindrücken Platz. Augen und Ohren sind weit auf Empfang gestellt. Gedanken tauchen auf, werden durch andere abgelöst, werden verknüpft, geordnet und immer weiter so. Die Seele findet ihre Nahrung.
Ein Gedanke ist die Reproduktion einer Sinneswahrnehmung.
Daraus ergeben sich Vorstellungsbilder.
Denken ist dann das Ordnen von Vorstellungsbildern.
Durch fortwährende Rückkopplungen vermehren sich Erkenntnisse.
Und ich stelle mir vor, dass ich diese Höhenunterschiede sehr bald mit Rucksack auf dem Rücken, mit eigener Muskelkraft bezwingen muss, weil ich das so will. Und immer wieder: Gedanken – Vorstellungsbilder – Denken. Dieser Vorgang lässt sich so einfach gar nicht anhalten. Das gelingt nur in einer tiefen Meditation. Aber darauf möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. Das Thema »Meditation« braucht ein ganz eigenes Kapitel.
Nach ca. 1 Std. Fahrtzeit ist es dann soweit. Aktion – alle aussteigen. In Saint-Jean-Pied-de Port wandere ich durch die alten, schmalen Gassen und stehe plötzlich neugierig vor einem kleinen Pilgerbüro. Hier herrscht bereits reges Treiben. Die einen strömen hinein, die anderen strömen hinaus. Alle lustig, alle fröhlich – herrlich. Ja, so macht das Leben Spaß! Ich gönne mir einen großen, tiefen Atemzug, spüre dem nach und trete ein.
Was hält die Menschen davon ab, immer fröhlich, immer lustig zu sein? Diese Frage muss sich zunächst einmal jeder selbst beantworten, durch eine intensive Innenschau. Mir fällt bestimmt noch etwas dazu ein – später.
Und dann wohl das Übliche: Anmeldung, Pilgerausweis, Unterkunftsliste und Tipps und Tricks. Im Office spricht man Französisch, Spanisch, Englisch, ja sogar ein bisschen Deutsch. Ich finde eine kleine Herberge für 15 € pro Nacht inkl. Frühstück. Frühstück? Glück gehabt: Ich bewohne einen 5-Betten-Raum ganz alleine. Also – keine anderen Schnarcher um mich herum. Das hat mir Stefanie aus der Schweiz verschafft. Stefanie ist hier hängen geblieben. Der Besitzer dieser Herberge hat sie irgendwie eingefangen und sie hat sich offensichtlich gerne einfangen lassen. Ja, auch das hat etwas mit dem Jakobsweg zu tun. Nun hilft sie bereits seit 3 Wochen bei allen anfallenden Arbeiten. Viel Glück auf dem Weg durch das Leben. Auf mich wartet der Jakobsweg. Die einen sind Gebliebene, die anderen sind Getriebene. Ja, so treibt mich der Wind des Lebens. Der Mensch sucht irgendwie das Glück, ohne genau zu wissen was das überhaupt ist. Aber dazu später. Mir fällt bestimmt noch etwas dazu ein.
Ich halte ein ausgedehntes Mittagsschläfchen, tief und fest. So nach ca. 3 Stunden ist die Lebensenergie in den Zellen soweit aufgebaut, dass es mich nach Taten drängt. Und los gehts auf Besichtigungstour. Hier ein Häppchen und ein Bierchen und so schlängelt man sich durch den kleinen Ort, der voller Pilger ist, begleitet von einer permanenten, unterschwelligen Aufbruchstimmung. Ich habe den Wunsch, an diesem Ort noch ein wenig zu verweilen. Bloß keine Hetze. Abends bin ich dann in lustiger Gesellschaft. Da steht Stephen aus Schottland an der Bar und erzählt aus seinem Leben. Er lebt mit seiner Familie bereits seit 5 Jahren in St-Jean-Pied-de-Port und baut gerade ein Haus. Stephen ist EDV-Fachmann, schwärmt von dieser Gegend und will auch nicht mehr von hier fort. Den Jakobsweg will er irgendwann einmal gehen.
Die Zeit schreitet fort und so gegen 22:00 Uhr kommt eine Gruppe Basken ins Lokal, laut, lustig und so richtig in Feierlaune. Na klar! Ein hübsches Baskenmädchen wird sehr bald 26 Jahre alt. Ich bin mitten im Geschehen und lasse es geschehen und singe dem Geburtstagskind ein deutsches Geburtstagslied. Es wird auf einmal sehr ruhig und dann durch den tosenden Beifall wieder sehr laut. Der deutsche Gesang kommt gut an. Mein Sektglas wird immer wieder aufgefüllt, dafür sorgt das Geburtstagskind. So und jetzt nochmal von allen Gästen das »Happy Birthday to you« - und so weiter und so schön. Es ist 02:00 Uhr und die Party ist zu Ende. Na ja – das reicht ja auch. Schließlich habe ich eine anstrengende Wanderung vor mir. Die Lokale schließen, es wird immer ruhiger und ruhiger im Ort.
Der Mensch ist gut, der Mensch ist schlecht,
ist oft im Fischteich wie ein Hecht.
Und kann er nicht im Fischteich sein,
fällt...