Bestimmung
Ist das schon das Elysium, das Paradies? Es ist ein Tunnel aus Licht, in den ich aus einem dunklen Tal unaufhaltsam eingesogen und emporgehoben werde, während mich gleichzeitig ein seltsamer Schmerz durchzieht, der mich zu halten sucht und in das Dunkle, das Bewusstlose zurückziehen möchte. Es riecht nach schwerer Erde, Fäulnis und Moos, ein kalter Luftzug aus der Tiefe, und dann die Geräusche, mehr und mehr. Seltsames dumpfes Tönen und Stampfen dringt jetzt zu mir, wird lauter und lauter. Und dann dieses Licht, dieses gleißende, alles überblendende Licht, das mir die Augen tränen lässt, die ich jetzt verwundert reibe. Ich liege, geblendet von einer plötzlich hinter den Wolken hervorscheinenden Sonne, auf einer Decke an einem Waldrand mit Blick auf ein sanft geschwungenes Tal. Für einen Moment ist alles neu: Wie bist du hergekommen an diesen Ort? Wenn du so aus tiefem Schlaf gerissen wirst, im Aufwachen nicht mehr weißt, wer du bist, wie du heißt, wo du bist und wie du hierhergekommen bist – so in etwa stelle ich mir Auferstehung vor. Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes, und so ist es immer, wenn wir erwachen, aufs Neue eine Wiederauferstehung. Jeden Morgen. Und auch jetzt. Ich versuche mich zu erinnern. Ich blicke mich um.
Was rumpelt, ist eine der gigantischen Landmaschinen, auf der ein Bauer wenige Meter entfernt seine Runden über den Acker pflügt, und das nervend schrille Geräusch ist mein Handywecker, der mich anblafft, dass ich endlich aufwachen soll. Dann endlich bin ich es – wach. Auferstanden von den Toten. Kein Elysium – und so langsam kommt jetzt die Erinnerung: die Lesung! Am Nachmittag war ich aufgebrochen in München, bin drei Stunden früher aus der Stadt raus, um nicht im Stau zu stehen und mit meinem 20 Jahre alten, von Fahrverboten bedrohten Diesel Golf noch mehr Feinstaub aufzuwirbeln, den VW-Affen in den KZ-Laboren noch mehr Stickoxide zu geben und das Ozonloch zu vergrößern: »Wir AFFEN das!«
München ist mit 51 Stunden Stau pro Jahr Rekordhalter in Deutschland, noch vor der Feinstaubmetropole Stuttgart. Wir meinen es nicht gut mit der Schöpfung. Nicht mit uns. Als ich meinen Diesel kaufte, galt er noch als fahrendes Reinluftgebiet. Jetzt ist er plötzlich eine Dreckschleuder. Bald werde ich mich trennen müssen von meinem alten Weggefährten. Was für ein Wandel!
Auch für mich. Zwei Jahre sind vergangen, seit ich mit meinem Hund Phili und einer Leberkässemmel am Faschingsdienstag vor dem Bodystreetladen in meinem bisherigen Missionsgebiet stand und meine Wandlung zum Wanderprediger beschlossen habe. Sehr viel leichter bin ich zwar nicht geworden, trotz Fasten und weniger Leberkässemmeln, ich bin eher ein Jojo, wenn es ums Abnehmen geht, dazu genieße ich zu gerne – aber so eine Art Wanderprediger bin ich tatsächlich geworden. Die zurückliegenden zwei Jahre haben mein Leben tiefgreifend verändert. Ich mache mich seither auf den Weg zu den Menschen. Nicht nur in meinem Viertel. In ganz Deutschland. Ich bin unterwegs. So unterwegs, wie ich es vorher nie war.
Auf meiner Pilgerreise habe ich Hunderte von Lesungen absolviert, habe Fernsehstudios und Talkshows besucht und unzählige Gespräche geführt und wirklich sehr schöne Begegnungen und Gespräche erlebt. So auch an diesem Tag, wo ich plötzlich am Rand dieses Ackers aufgewacht bin. Ich wollte ohne Hast anreisen und vor allem wollte ich pünktlich sein. Deutsche Grundtugenden, ja, mag sein, etwas aus der Mode gekommen, aber das ist Ergebnis der konsequenten Erziehung meiner gottesfürchtigen Mama und bleibt drin in mir. Die Vorteile sind bestechend. Es ist halt blöd, wenn ich gehetzt und genervt ankomme, wie ich es in der ersten Zeit meiner Reisen oft erlebt habe. Ich müsste mich erst sammeln, doch schon strömen Menschen auf mich zu, ziehen mich mit, gleich rein in den vollen Saal, auf die Bühne, die Menschen warten schon, die Erwartungen an mich sind groß – ohne Reifenanwärmen gleich ins Rennen? Gutes Handwerk ist das nicht. Also fahre ich früher los. Bin da. Präsent. Aus Erfahrung gut.
Aus München kam ich prima raus, noch vor der Rückreisewelle der Pendler, sodass ich diesmal sogar zwei Stunden zu früh am Ziel gewesen wäre. Aber zu früh da sein ist fast so schlecht wie zu spät. Wenn du zu früh zu einer Lesung kommst, noch müde von einem vollen Arbeitstag, der bereits hinter dir liegt, und von der Fahrt – kommen die Fragen, um Verlegenheitsgespräche zu eröffnen, Smalltalk, um Zeit zu überbrücken, ausgerechnet mit einem bayerischen Grantler wie mir: »Haben Sie gut hergefunden?« »Ja, scho.« »Sind Sie gut durchgekommen?« »Ja auch.« »Sind Sie nicht im Stau gestanden??« »Nein.« »Da war doch sicher viel Verkehr.« Ich denke, Loriot lässt grüßen, und sage etwas unwirsch, um weitere Füllfragen abzuwürgen: »I bin da!« Ich bin eher menschenscheu, wo es mir zu dicht wird, muss ich aufpassen, dass ich nicht abweisend werde, wenn ich mich angespannt oder überfordert fühle und am liebsten sagen würde – lasst mir noch für einen Augenblick meine Ruh, liebe Leute, auch meine Seele muss erst ankommen!
Was zudem nicht sein darf, dass ich vor der Lesung aus meiner Konzentration gerissen werde. Herumgereicht werde. Mich im Smalltalk leere. Energielos werde. Wie beim Zappen. Genauso wenig wie es sein darf, dass ich einen Gottesdienst ohne innere Sammlung beginne. Glauben braucht Konzentration. Als Pfarrer und als Wanderprediger möchte ich Menschen erreichen und berühren, die noch glauben – und oft nicht mehr wissen, woran und warum sie glauben sollen. Als Wanderprediger habe ich nur eine Chance, es muss besonders gut sitzen, wenn ich Spuren hinterlassen und Mut machen will – denn danach ziehe ich weiter. Meine Mission, auf der ich mich nun seit dem Aschermittwoch 2016 nach Erscheinen meines ersten Buches befinde, ist, all jenen zu helfen, selbst Antworten zu finden auf alles, was sie in ihrem Glauben zweifeln lässt. Ich möchte, dass sie wieder Wege entdecken, auf denen sich ohne Mühe und Not wandeln lässt, weil wieder ein Sinn erkennbar wird in all dem, was sie belastet. Und ich wünsche mir, dass sie dabei entdecken, dass sie keineswegs so alleine sind, wie sie meinen. Dass es viele gibt, die sich von unserer Kirche alleingelassen fühlen. Und noch mehr, die sich nach einer Gemeinschaft sehnen, in der sie wieder aufgehen können. Ich möchte den Menschen wieder Zuversicht geben, dass ihnen trotz aller Zweifel die Kirche wieder zu einer Heimat werden kann, weil hier der Ort ist, wo die Gemeinschaft entsteht, nach der sie suchen. Ich möchte den Menschen den Impuls geben, selbst dafür zu sorgen, dass Kirche wieder zu einem Ort der Geborgenheit und nicht der Einsamkeit wird, dass die Menschen wieder Mut fassen, sich einzubringen, weil es diese Heimat wert ist, verteidigt zu werden, und die Zuversicht, dass es gelingt, wenn sich möglichst viele finden, die zusammenstehen – weil unser Glaube eint, weil Nächstenliebe sein Credo ist. Ich möchte den Menschen wieder Glaubensgewissheit geben, dass sie auf dem langen Weg der Pilgerschaft durch ihr Leben, auf diesem mit Irrtümern, Enttäuschungen, Schmerz, Verlusten und Trauer gepflasterten Pfad, keine Angst haben brauchen, sondern ihren Blick besser auf all das Schöne, Sinnstiftende, ein mit Freude erfülltes Leben konzentrieren, weil sie die Frohe Botschaft verstanden haben, dass ihnen nichts geschehen kann, denn sie lautet: »Fürchtet euch nicht!!« Das ist die Frohe Botschaft – die beste der Welt, durch alle Kulturen, für alle Gläubigen, gleich welcher Religion – weil sie so menschlich ist und Mut macht. Und das ist meine Botschaft. Ihre Verkündung ist meine Aufgabe, der ich mich verschrieben habe. So gehe ich auf Wanderschaft: Ich bin Missionar mitten in Deutschland, in einer Gesellschaft, die den Glauben an die Kirche in weiten Teilen verloren hat, ihr fernbleibt, obwohl genau der Ort, von dem sie fliehen, die Rettung für sie sein könnte, gerade in dieser unruhigen Zeit.
Mein Leben als Wanderprediger hat sich als meine Bestimmung erwiesen. Ich kremple die Ärmel auf und fahre los, lasse mich von all den Begegnungen leiten und inspirieren, die sich auf meinen Lesereisen auftun. Meine Theorie, dass die Menschen nicht weniger glauben und deshalb die Kirche verlassen, sondern vor einer Kirche fliehen, von der sie sich verlassen fühlen, hat sich zumindest auf jedem meiner Leseabende quer durch Deutschland und Österreich voll bestätigt. Ich sehe das sogar als Vorteil an, denn wenn die Menschen nicht von ihrem Glauben abgefallen sind, sondern sich nur alleingelassen fühlen, dann müssen wir als Kirche nur wieder besser werden, damit wir wieder der richtige Ort sind, wo sie Gemeinschaft suchen und auch finden. Es gilt, auch dieses klarzumachen: Es liegt nicht an der Kirche allein, sondern an jedem Gläubigen, bei dieser Wandlung mitzuwirken. Denn die Kirche – das sind wir. Wir müssen auftreten, statt austreten. Mein zweites Credo, das ich seither jeden Abend gebetsmühlenhaft wiederhole. Und an den Reaktionen merke ich doch, wie wichtig es ist, den Gläubigen mehr Bedeutung zu geben und sie in die Verantwortung zu ziehen.
Ich muss nicht länger in den Busch nach Afrika oder in die Dschungel Borneos zu den Menschenfressern reisen, um zu missionieren. Inzwischen sind wir wieder so weit, dass wir damit direkt vor unserer Haustür anfangen können. Unsere Metropolen, die dicht besiedelten Ballungsräume hier in Deutschland, in Europa müssen heute das erste Missionsziel sein. Gehe ich durch mein Stadtviertel, sehe ich mehr Andersgläubige, Ungläubige, Abergläubige, Abtrünnige, Atheisten, Polytheisten, Tantriker, Esoteriker und Nicht-Getaufte auf...