Da war ich wieder
Es war im Juni 2010, als ich gutgelaunt und erwartungsvoll die Stufen des Gyuto-Klosters hinaufstieg. Riesige rote Hibiskusblüten und Rosen in allen Farben säumten den Weg. Zwischen den Säulen von frischgrünen Wacholdern reckten sie ihre Köpfe der Morgensonne entgegen. Es war ein erhebendes Gefühl, den leicht ansteigenden, langgestreckten Klosterhof zu durchqueren, vorbei an den gelb getünchten Unterkünften für die Mönche geradewegs auf den Tempel zu. Wie ein riesiger Altar thronte er unter der Kuppel des weißblauen Himmels, und die schneebefleckten Berge des Himalaya schmiegten sich wie eine gewaltige Kulisse um ihn herum. Obenauf glänzten die weißen Gipfel wie die Spitzen einer Krone. Dahinter liegt das Hochland von Tibet, das Dach der Welt. Die Grenze ist kaum 50 Kilometer Luftlinie von hier entfernt.
Um Punkt zehn Uhr füllte sich der Klosterhof plötzlich mit Leben. Eine quirlige Menge in Dunkelrot strömte aus dem Tempel und die breiten Tempeltreppen hinunter. Unzählige Kindermönche rannten an mir vorbei und verschwanden durch die Türen der Klosterflügel. Die Größeren von ihnen und die Erwachsenen spazierten eher besonnen und in kleinen Gruppen die Stufen hinab. Die gebogenen dottergelben Lama-Hüte balancierten sie zusammengefaltet auf ihren rasierten Häuptern, um die Kopfhaut vor der Sonne zu schützen.
Auf dem umlaufenden Laubengang im obersten Geschoss des Tempelgebäudes entdeckte ich jemanden im roten Gewand, der sich auf die Brüstung stützte und über das Kloster hinweg ins weite Tal schaute. In der Sonne blitzten Brillengläser. Ich überlegte kurz. Dort oben trug nur einer eine Brille, und das war Seine Heiligkeit der 17. Karmapa. Er stand vor der Tür seiner provisorischen Residenz im Exil. Ich winkte kurz in seine Richtung, da drehte er sich um und verschwand. Wenige Augenblicke später tauchte ein Kopf zwischen den goldglänzenden Dachornamenten auf. Da war er wieder, der Karmapa.
Die Sicherheitskontrolle im großen, leeren Foyer gestaltete sich wie gewohnt nüchtern und umständlich. Ich kannte das Prozedere, denn seit 2008 hatte ich den Karmapa bereits einige Male besucht. An einem Tisch saßen drei Männer von drei verschiedenen Polizeien. Jeder von ihnen blätterte mehrfach meinen Reisepass durch und notierte etwas in einem von drei Büchern. Dann händigten sie mir wortlos einen dunkelblauen Ausweis aus, der an einem blauen Band hing. Der Aufdruck »Visitor« berechtigte mich, den Sicherheitsbereich um den Karmapa herum zu betreten.
Zwei junge Mönche kamen auf mich zu und begleiteten mich in den Warteraum, der hinter der schlichten Empfangshalle lag. Bei Milchtee und Plätzchen sollte ich auf einem der weiß verhüllten Sofas warten.
Heute war nur eine Handvoll Audienzgäste versammelt. Außer einem Ehepaar aus dem Westen sah ich nur asiatische Gesichter. Alle wollten sie den Karmapa persönlich treffen. Sie hantierten aufgeregt mit aufwändig verpackten Geschenken und versuchten sich immer wieder daran, den Khatag, einen langen Segensschal aus weißer, schimmernder Seide dem üblichen Brauch nach zunächst achtmal zu falten und dann bis zum fransigen Ende aufzurollen.
Plötzlich stand Chemed, der Audienzsekretär, neben mir. Mein Blick blieb an den goldenen Knöpfen seines dunkelblauen Sakkos hängen. Er war einer der wenigen Laienmitarbeiter des Karmapa und zuständig für die Planung und Durchführung der Privataudienzen. Wer von ihm einen der begehrten Termine erhalten hatte, durfte Seine Heiligkeit für ein paar Augenblicke sehen, gerade lang genug für eine Begrüßung und einen Segen. Ich wollte aber mehr als nur den Segen, ich wollte ein Buch schreiben. Chemed war daher vom Karmapa gebeten worden, in der folgenden Zeit einige Gesprächstermine für mich zu arrangieren, damit wir ausführlich über sein Leben von der Kindheit bis heute, über die Rolle und die Geschichte der Karmapas, über seine eigene aktuelle Situation und über die Zukunft sprechen konnten. Ich brauchte Zeit mit ihm, und zwar möglichst viel, aber gerade das war ein Problem. Denn nach Vorgabe sowohl der indischen Regierung als auch der tibetischen Administration des Dalai Lama im Exil war es dem Karmapa nur erlaubt, innerhalb der eineinhalbstündigen Audienzzeit am Vormittag Besucher zu empfangen.
Chemed flüsterte, es sei alles vorbereitet. Dann ging es schon los. Unter den strengen Augen zweier indischer Polizisten mit Maschinengewehren kontrollierten sechs Sicherheitsleute der tibetischen Administration alle Taschen und Kleidungsstücke der Besucher. Ich bemerkte ein neues Metalldetektor-Gerät, wie man es von Flughäfen kennt. Es piepte unaufhörlich, entsprechend umfangreich fiel daher auch die Leibesvisitation aus. Vorsorglich hatte ich alle elektronischen Geräte und alle metallischen Gegenstände in meiner Unterkunft gelassen. Aber nun sollte ich auch noch den Kugelschreiber abgeben, der in meiner Sakkotasche steckte. Vorschrift hin oder her, den brauchte ich zum Schreiben. Alle Proteste und Erklärungen halfen jedoch nichts.
Oben im vierten Stock stand ich dann in Strümpfen auf dem grünen Kunstrasen, der geradewegs zur Tür des Audienzzimmers führte. Meiner Schuhe hatte ich mich schon eine Etage tiefer entledigen müssen. Ich erinnerte mich an Audienzen beim Heiligen Vater und an das Klacken der Absätze auf den spiegelnden Marmorböden des Papstpalastes im Vatikan. Dort hatte es immer nach frischem Bohnerwachs und Rasierwasser gerochen. Hier duftete es nach Wiese und Weihrauch.
Chemed hatte mich auf die letzte Position gesetzt. Am Ende der Warteschlange zu stehen, war bisher immer am unterhaltsamsten gewesen, denn nach hinten begrenzten nur ein bewaffneter Polizist und vor ihm zwei junge Mönche den Bereich. Ich kannte sie schon von vorhergehenden Audienzen, und wie damals unterhielten wir uns auch jetzt über Ballack und Lehmann, über Bayern München und Chelsea.
Es ging recht schnell voran. Nur noch das westliche Paar in weiten Leinenkleidern und wilden Locken, dann war ich dran. Zwei asiatische Nonnen in langen hellgrauen Gewändern verließen den Audienzraum verbeugt und im Rückwärtsgang, schon schoben die Leibwächter die Westler hinein.
Endlich war ich an der Reihe. Mitten im Raum stand Seine Heiligkeit lächelnd auf dem grünen Teppich. Ich ging langsam auf ihn zu und kämpfte mit dem Segensschal. Er wollte sich einfach nicht entrollen lassen.
»Guten Morgen Stephan«, begrüßte er mich auf Englisch, und griff sich die Rolle. »Oh je, was hast du denn da gemacht?«, rief er.
Die langen Fransen hatten sich verknotet. Es dauerte einen Augenblick, bis er das Knäuel entwirrt hatte und mir die nun knittrige Khatag um den Hals legen konnte. Dann streckte er die Arme aus, als wollte er sich entspannen und ließ mich auf einem Plexiglas-Sofa Platz nehmen, das im rechten Winkel zu seinem stand. Diese Sofas hatten einen kuriosen Effekt: Wenn man die Augen leicht zusammenkniff, sah es so aus, als würde der Karmapa auf dem grünbuntkarierten Sitzpolster über dem Boden schweben. Er saß noch nicht ganz, da fragte er schmunzelnd: »Und, wie weit bist du mit dem Buch?«
»Fast fertig!«, gab ich zurück. »Ich brauche nur noch ein paar Antworten, dann ist es schon geschafft.«
»Wirklich?«, fragte er erstaunt zurück und sah mich mit großen Augen an, aber ich erkannte sofort, dass er den Spaß verstanden hatte.
Auf dem Glastisch zwischen uns lag ein modernes Aufnahmegerät, das ein Mitarbeiter aus dem Pressebüro vorher eingerichtet hatte. Der Karmapa schaute nach, ob das Gerät bereit war und sagte, wir könnten sofort beginnen. Mit einer Handbewegung wies er Chemed einen Platz auf dem Teppich zu, denn der sollte Seine Heiligkeit aus dem Tibetischen ins Englische übersetzen. Ich fragte den Karmapa, warum er denn nicht gleich Englisch sprechen wolle. Da streckte er seine flache Hand gegen mich aus und zischte: »Tsch Tsch … mein Englisch ist nicht gut.«
»Doch, es ist gut«, widersprach ich.
»Es ist wie arabisch klingendes Englisch. Besser also mit Übersetzung …!«
Er lachte, und Chemed blickte verlegen auf den Teppich.
Ich hatte Verständnis für seine Entscheidung, denn bei wichtigen Themen und heiklen Angelegenheiten empfiehlt es sich, die eigene Muttersprache zu benutzen, um keine Fehler zu begehen. Bei jemandem in einer so hohen Position wird bekanntlich jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Auch der Dalai Lama, der ein recht gutes Englisch spricht, formuliert öffentliche Ansprachen lieber auf Tibetisch, vor allem wenn es um buddhistische Unterweisungen oder um komplizierte politische Fragen geht.
»Worüber sprechen wir?«, eröffnete der Karmapa das Interview und sah mich erwartungsvoll lächelnd an.
»Über die Kindheit«, sagte ich und suchte die richtige Seite in meinem Notizbuch.
»Über mich? Über meine Kindheit?«, fragte er nach und schien plötzlich zurückhaltend.
Mir war bewusst, wen ich vor mir hatte, daher war ich unsicher, ob es angemessen war, ihm Fragen über seine frühen Jahre zu stellen. Schließlich war er nicht irgendein Mönch, sondern jener spirituelle Führer Tibets, der zu einer wichtigen Stimme im Dialog der Religionen werden würde. Er war die Hoffnung der Tibeter und möglicherweise das zukünftige Gesicht des Buddhismus, so wie es seit einigen Jahrzehnten der 14. Dalai Lama ist. Der Karmapa ist das Oberhaupt einer der vier Traditionen des tibetischen Buddhismus, der Karma-Kagyü-Schule. Er ist Träger der Schwarzen Krone, die seine spirituelle Meisterschaft symbolisiert, und das jüngste Glied einer Kette erleuchteter Wesen, die zurückreicht bis zum...