In eigener Sache
Nach der Rede im Bundestag, die im Anhang dieses Buches abgedruckt ist, mailte mir eine Freundin, ich hätte eine poetische Political correctness mit dem Pathos der sozialistischen Propheten verbunden, in einem Ton, den heute nur ich könne und den im neunzehnten Jahrhundert eben die jüdischen Kosmopoliten gehabt hätten, die von Lessing, Heine und der sozialen Idee der Propheten sprachen. «Sicherlich können die heute nicht mehr reden (auch wenn sie könnten, dürften sie ja nicht)», fügte die Freundin an und schloß ihrerseits geradezu pathetisch, daß die jüdischen Kosmopoliten des neunzehnten Jahrhunderts in mir – ja, ich zitiere das jetzt wieder wörtlich, so eitel das in meiner eigenen Vorrede auch wirken mag – in mir «ihren wunderbarsten Stellvertreter» hätten. «Das ist nun eine gewaltige Reihe, in die Du mich stellst», mailte ich der Freundin zurück: «Aber wenn man beim Wort der Stellvertreterschaft bleibt, ist wahrscheinlich sogar etwas dran, es geht ja darum, so gut es eben geht, mit unseren beschränkten Mitteln, Erfahrungen und Worten den Platz zu füllen, der im 20. Jahrhundert so leer wurde in Deutschland.»
Die kurze Korrespondenz spukt seitdem in meinem Kopf herum. Nicht daß ich mir den Enthusiasmus oder gar den Superlativ zu eigen machen würde, mit denen die Freundin mich bedachte – sie ist nicht nur eine gute, sie ist auch ihrem ganzem Wesen nach eine selten euphorische, in ihrem Wohlwollen stets überschwengliche, in ihrem Lob zuverlässig übertreibende Freundin. Aber meine Antwort, schnell geschrieben und sofort abgeschickt – war sie nicht anmaßend? Wenngleich ins Allgemeine gewendet, hatte ich ja das Verhältnis bestätigt, in das ich uns – aber wen noch hatte ich gemeint außer mich selbst? – mit den jüdischen Denkern und Literaten des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts gesetzt, nicht im Sinne einer Identifikation, Verwandtschaft oder gar Gleichrangigkeit, aber doch einer Nachfolge und der daraus erwachsenden Zuständigkeit und Verantwortlichkeit.
Schon bevor die Freundin mir mailte, hatte ich bemerkt, daß mir in meinen Texten und mehr noch in den öffentlichen Reden bisweilen ein Pathos unterläuft, das nicht alle sofort als falsch empfinden, oder hatte ich ein Erstaunen wahrgenommen, wenn ich akademische oder aktuelle politische Fragen ohne viel Scheu auf menschliche Urerfahrungen und Grundbedürfnisse bezog, aufs Menschliche selbst und sogar aufs Übermenschliche. Selbst wenn ich wollte, könnte ich das nicht genauer beschreiben, es ist kaum mehr als ein unbestimmtes Gefühl, daß ich als Leser und Hörer anderen vielleicht nicht so leicht durchgehen ließe, was ich mir selbst manchmal als Autor oder Redner erlaube und auch weiter erlauben soll, weil es meine Beiträge – ob gut oder schlecht – wesentlich ausmacht. Das ist um so merkwürdiger, als ich mir im Alltag und in Begegnungen mit anderen, selbst den geliebten Menschen, oft allzu nüchtern vorkomme, gerade nicht gefühlig, diese Urerfahrungen und Grundbedürfnisse, über die ich öffentlich rede, privat eher selten zur Sprache bringe, zu selten, wie die geliebten Menschen mir bisweilen vorhalten. Freiwillig oder nicht, halte ich im täglichen Leben eben jene Emotionalität und Dringlichkeit offenbar zurück, die mich in meinen Essays und Reden bisweilen selbst überraschen. Woran liegt das, fragte ich mich wieder, woher rührt der Ton, den die Freundin meinte und der ganz sicher mit der metaphysischen Ausrichtung meines Nachdenkens zu tun hat?
So unangenehm mir alle Zuschreibungen sind, die einen Autor auf die Kultur seiner Vorfahren festlegen, hätte ich die Emotionalität und Dringlichkeit aus Mangel an besseren Erklärungen bis vor einiger Zeit vielleicht wirklich mit meiner orientalischen Herkunft in Verbindung gebracht. Aber inzwischen glaube ich – und die Mail der Freundin weist genau in diese Richtung, weshalb ich ihren Vergleich nur relativiert, aber nicht gänzlich abgestritten habe –, daß sie einen anderen, durchaus deutschen Ursprung haben. Ich bin mit der deutschen Literatur und Geistesgeschichte aufgewachsen, richtig, indes nur sporadisch mit ihrer Gegenwart. Die Linie, der ich gefolgt bin, läuft mit dem Zweiten Weltkrieg oder spätestens mit der Frankfurter Schule aus, die ja noch ganz auf den Krieg gerichtet war. Dieser Ton, den die Freundin meinte, ein ungewöhnlich hoher, meinetwegen predigerhafter, für manche Ohren vielleicht aufdringlich existentieller Ton, in dem ich manchmal über die Dinge der Welt rede – klingt da nicht viel eher das neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert durch als irgendeine orientalische Herkunft? Ich kenne keinen persischen oder arabischen Gegenwartsautor, der so spricht oder schreibt, aber bis hin zu Stefan Zweig, Walter Benjamin und Thomas Mann eine Menge deutschsprachiger Autoren, die gewiß eleganter geschrieben, tiefgründiger gedacht, gefährdeter gelebt haben, aber politische Ideale von vielleicht schon wieder bedenklicher Allgemeingültigkeit poetisch ins Konkrete überführten und so ihre Notwendigkeit erwiesen. Ja, ich stelle auch Thomas Mann in die Reihe und hätte genauso gut Lessing oder Goethe anführen können, weil es mir hier noch nicht um ein spezifisch jüdisches Moment in der deutschen Literatur geht, eher um ein Weltbürgertum, das die jüdischen Autoren nur häufiger betonten als andere Deutsche. Nicht nur ihre Ideale habe ich als junger Leser verinnerlicht, sondern offenbar auch ein wenig das Pathos übernommen, das die Freundin von den Propheten herleitete, dem Religiösen also.
Gewiß weisen die religiösen Bezüge meiner Bücher und Reden häufig zu islamischen Motiven und Quellentexten (aber beinah genauso häufig zur Bibel), und gewiß hat das muslimische Elternhaus gerade auch unterbewußt auf mich gewirkt, die Mutter, die sich zum Gebet und nur zum Gebet mit einem weißen Tschador verhüllte, der Vater, der sich auch in Gegenwart meiner Freunde oder bei der Fahrt in den Urlaub auf dem Autobahnrastplatz vor Gott niederwarf, die irritierten Blicke meiner Freunde oder der anderen Autofahrer. Das waren auch Fremdheitserfahrungen, ja, obschon nicht negativer Art. Keiner meiner Freunde hat mich der betenden Eltern wegen gemieden, und die Zweisprachigkeit erlebte ich als genauso selbstverständlich, wie sie es – aber das lernte ich erst viele Jahre später – für viele andere Deutsche bis zum Zweiten Weltkrieg ebenfalls war. Es gab in meinem Elternhaus auch einen schlichten, man könnte wirklich sagen: Kosmopolitismus, der ähnlich wie im Judentum in der religiösen Tradition gegründet war, die koranische Lehre, daß jedes Volk einen Prophet in seiner Sprache hat, weshalb ich mir Jesus irgendwie als Deutschen vorstellte oder jedenfalls mit Deutschland in Verbindung brachte, und der immer und immer wieder zitierte Satz des eigentlich arabischen, für mich jedoch mehr persischen Propheten, daß die Wege zu Gott so zahlreich wie die Atemzüge eines Menschen sind. Mochte sein Offenbarungskonzept islamwissenschaftlich nicht ganz astrein sein, war es für das Kind doch eine enorme Erleichterung, daß die eigenen Freunde, obwohl ihre Eltern sich nicht an Autobahnraststätten vor Gott niederwarfen, dennoch ins Paradies gelangen konnten und daß vor dem Jüngsten Gericht die gute Taten zählen, nicht der Wortlaut des Bekenntnisses.
Wie auf jedes Gemüt haben auch auf meines die frühkindlichen Bilder, Eindrücke und Worte am tiefsten gewirkt. Aber bin ich deswegen Orientalist und Schriftsteller geworden? Die literarische Bewußtwerdung vollzog sich anhand der Bücher, die ich las, und das war in den entscheidenden Jahren des Entdeckens und Studierens die deutsche Literatur und Geistesgeschichte des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Und diese deutsche Literatur ist schließlich nicht irgendeine, sie hat spezifische Züge und war bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts stärker als andere moderne Literaturen von transzendenten Fragestellungen und biblischen Motiven durchdrungen, nicht nur von Gott und Jesus, auch von Tod und Auferstehung, von Verzückung und Aufopferung, vom Leid nicht nur als einer gesellschaftlichen, sondern beinah mehr noch einer religiösen Anklage, ja, auch von einem schon heiligen Ernst, über den niemand so herzhaft spotten konnte wie manche Deutsche selbst, weil das Hadern mit sich selbst ebenfalls eine ziemlich deutsche Beschäftigung war. «Ein lebendiger Deutscher ist schon ein hinlänglich ernsthaftes Geschöpf, und nun erst ein toter Deutscher», hätte Heinrich Heine auch meine Bücher aufspießen können:
Ein Franzose hat gar keine Idee, wie ernsthaft wir erst im Tode sind; da sind unsere Gesichter noch viel länger, und die Würmer, die uns speisen, werden melancholisch wenn sie uns dabei ansehen.[1]
Daß Franzosen und Engländer ein Wort wie «Weltschmerz» gar nicht erst übersetzen, sagt viel über ihre Wahrnehmung der Deutschen, aber wahrscheinlich auch etwas über die Deutschen selbst. Ich jedenfalls liebte Büchner für die metaphysische Verzweiflung, die er Danton in seiner Todeszelle einschrieb, und noch in den eigentlich ethisch-moralischen, also der Religion ureigenen Fragen...