ZWEI Darf ich um deine Aufmerksamkeit bitten?
Liebe wird nicht daran gemessen, wie oft man einander berührt, sondern wie oft man einander erreicht.
«Sagst du mir bitte nochmal, warum wir zu Target fahren, Liebes?», bat Jim seine Frau, während er sich an einem dunstigen Sommertag durch den langsamen, dichten Verkehr kämpfte. Jim hasste Staus fast so sehr wie feuchte Hitze. In der Gegend um Boston gibt es von beidem mehr als genug. Diese Voraussetzungen machten es ihm schwer, sich auf etwas anderes als die Hitze, den Verkehr und seinen Unmut, mit beidem fertig werden zu müssen, zu konzentrieren.
«Es ist einfach so heiß», erwiderte Elaine, «und ich habe keine leichte Kleidung. Die Kinder auch nicht. Keine Angst, es wird nicht viel kosten. Danach können wir ja ein Schwimmbad suchen.»
Jim fuhr weiter. Die drei Kinder auf dem Rücksitz zappelten, alberten herum, kicherten und kabbelten sich.
«Liebes, du wolltest zu Target gehen, oder?», fragte Jim und wartete auf eine Antwort. Als er nichts hörte, wiederholte er: «Zu Target, oder, Liebes?»
«Jim, ich habe dir gerade gesagt, dass ich zu Target möchte und dir außerdem genau erklärt, warum. Was davon hast du nicht verstanden? Oder hast du nicht zugehört?»
Jim stotterte ein bisschen herum, als er antwortete: «Tut mir leid, ich habe gedacht, ich hätte genau zugehört, es ist ja nicht so, dass ich nicht zuhören möchte, es ist nicht deinetwegen, es ist überhaupt nicht deine Schuld, es ist nur manchmal so, dass ich die Worte höre, aber der Inhalt mich nicht erreicht. Diese Hitze und dieser Verkehr machen mich verrückt. Nimm es bitte nicht persönlich.»
«Ich nehme es aber persönlich. Ich nehme es persönlich, weil es so oft passiert.» Elaine machte eine Pause, dann entschied sie sich, fortzufahren. «Was muss ich tun, um deine Aufmerksamkeit für das, was ich dir sagen möchte, zu bekommen? Ich weiß, dass mein Leben nicht furchtbar interessant ist, wie es auch nicht furchtbar interessant ist, dass ich zu Target gehen möchte oder warum ich dort hingehen möchte. Aber dass du mich wieder und wieder fragst, wohin wir gehen, nachdem ich es dir mindestens schon zweimal gesagt habe, ist eine Beleidigung. Wie sollte ich das nicht persönlich nehmen? Was muss ich tun, um zu dir durchzudringen?»
«Es tut mir leid.» Jim war schon so oft in dieser Situation gewesen, dass ihm als einzige Strategie nur blieb, die Scherben aufzusammeln und seine Entschuldigung zu wiederholen. Er wusste, dass ihn Rechtfertigungen oder Erklärungen nicht weit bringen würden.
«Dass es dir leidtut, reicht einfach nicht», fuhr Elaine fort, «dass es dir leidtut, bringt mir überhaupt nichts. Ich möchte keine Entschuldigung. Was bringt mir eine Entschuldigung denn schon? Es tut dir leid, aber es ändert sich nichts. Ich weiß, es ist albern, dass wir uns darüber streiten, zu Target zu gehen, aber hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie es für mich ist, zu wissen, dass ich bei der Hälfte unserer Gespräche genauso gut mit einem Felsbrocken reden könnte?»
«Es tut mir leid. Ich versuche, dir zuzuhören, und ich weiß, dass es frustrierend für dich ist. Diese Hitze und dieser Verkehr machen mir wirklich zu schaffen.»
«Du hast immer eine Entschuldigung. Ich verstehe das ja mit der Hitze und dem Verkehr, aber ich hätte noch wesentlich mehr Verständnis, wenn du nicht immer irgendwelche Ausreden hättest. Was auch immer der Grund dafür ist, es ist manchmal fast unmöglich, dich zum Zuhören zu bringen. Das ist mehr als frustrierend. Ich fühle mich dann so alleingelassen. Und was es noch schlimmer macht: Es scheint dir überhaupt nichts auszumachen.»
Wenn wir an Intimität denken, denken wir in der Regel an Nacktheit und Verletzlichkeit. Wir denken daran, uns ganz zu öffnen und unsere tiefsten Geheimnisse miteinander zu teilen. Wir denken an das Entblößen unseres wahren Ichs. Aber bevor das eintreten kann, muss etwas anderes geschehen. Es ist der notwendige erste Schritt hin zur Intimität, der Schritt, der als selbstverständlich hingenommen wird. Es geht darum, aufmerksam zu sein.
Die Mindestanforderung für Intimität ist Aufmerksamkeit. Ohne Aufmerksamkeit ist emotionale Nähe unmöglich. Ablenkungen sind für ein intimes Gespräch das, was Wasser für Feuer ist.
Aufmerksam sein klingt so einfach. Tatsächlich klingt es wie eine der leichtesten mentalen Aufgaben. Jeder kann aufmerksam sein. Man wacht auf, man ist aufmerksam und alles ist gut, bis man am Ende eines Tages wieder schlafen geht, oder? Verglichen mit, sagen wir mal, dem Nachdenken über eine neue Idee – oder überhaupt mit dem Denken – klingt aufmerksam sein wie ein Kinderspiel.
Aber das ist es nicht. Im Gegenteil: Es ist eine der kompliziertesten Übungen im 21. Jahrhundert. Vor einigen Jahrzehnten noch erachtete man aufmerksam sein mehr oder weniger als selbstverständlich. Aber die Technologie hat dies alles verändert. Wir sind in eine neue Ära gestolpert, die Älteren von uns zudem noch ziemlich unbeholfen. Niemals zuvor seit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg hat Technologie unser tägliches Leben so radikal verändert. Wir befinden uns im freien Fall eines Epochenwandels.
Der «einfache» Vorgang des Aufmerksamseins ist anstrengend geworden, ähnlich wie der Versuch, einen verrauschten Radiosender zu hören oder die Fahrbahn zu erkennen, während man ohne Scheibenwischer durch einen Regenguss braust.
In unserem Zeitalter der allgegenwärtigen elektronischen Kommunikationstechnologie, in einem Zeitalter, das der New York Times-Kolumnist Tom Friedman als «das Zeitalter der Unterbrechung» bezeichnet hat, brauchen wir all unsere mentalen Muskeln, um gegen Strömungen anzuschwimmen, die an uns ziehen und zerren, um unsere Aufmerksamkeit an sich zu reißen.
Diese Situation ist verwirrend und schwierig, weil sie neu ist. Niemals zuvor waren wir fähig, von unserem Gehirn zu verlangen, so viele Informationen zu verarbeiten, wie wir das heutzutage tun. Niemals zuvor waren wir fähig, so viel in einem Wimpernschlag, im Handumdrehen, in einem Augenblick zu tun wie heute. Technikfreaks haben «einen Augenblick» sogar definiert. Es ist eine Hundertstelsekunde. Wie viel kann man in einem Augenblick erledigen?
Wir messen unser Leben in Augenblicken, weil wir niemals zuvor auf so vieles achten mussten. Niemals zuvor waren wir vor so viele Entscheidungen gestellt wie heute, Sekunde für Sekunde. Jeder Moment – jeder Augenblick – stellt uns vor die Wahl. In Bruchteilen von Sekunden bietet sich uns die Chance auf Ablenkung. Mit jedem Wimpernschlag müssen wir entscheiden, welchen Dingen wir unsere Aufmerksamkeit schenken, welcher Versuchung wir widerstehen, welchem Hinweis wir folgen, auf welches Türeklopfen wir antworten und welches wir ignorieren. Jeder von uns ist ein Fluglotse, eingepfercht in seinen eigenen persönlichen Kontroll- und Beobachtungsturm. Das einzige Problem ist, dass dieser mentale Tower, anders als bei jenen auf Flughäfen, frei zugänglich ist und jedermann zu jeder Zeit dort eindringen kann.
Wir sind mit so vielen Möglichkeiten der Unterbrechungen «gesegnet», dass es sich tatsächlich ganz merkwürdig anfühlen kann, wenn einige Minuten ohne Unterbrechung verstreichen. Was habe ich gerade verpasst? Gehöre ich etwa nicht mehr dazu?
Wir sind so daran gewöhnt, unterbrochen zu werden, dass nicht unterbrochene Zeit – die einst als friedlich erachtet wurde – seltsam quälend sein kann. Wie langweilig! Wo ist die Stimulation? So viel wir uns auch darüber beschweren mögen, unterbrochen zu werden, so checken wir doch freiwillig, wenn nicht gar zwanghaft, unsere Nachrichten – Anrufbeantworter, E-Mail, SMS –, selbst wenn dafür gar keine Veranlassung besteht. Wertvolle Neuronen unseres Gehirns widmen sich der gespannten Erwartung von Unterbrechungen, selbst wenn dann doch nichts passiert. Wir halten mitten in einem Projekt oder Gespräch inne, um nicht etwa den Fortschritt unseres Projektes oder Gesprächs, sondern unsere Nachrichten zu überprüfen.
Bedenkt man neben dieser Techniknervosität noch, welche Ungewissheit und Angst unser modernes Leben bestimmt, kann man leicht erkennen, warum Aufmerksamkeit mehr als eine gewöhnliche Anstrengung benötigt. Lässt man für einen Moment locker, springen einen die Dämonen der quälenden Gedanken an: Werde ich auch nächste Woche noch einen Job haben? Werden meine Kinder ihren Weg im Leben machen? Kann ich meinen Investitionen und Beratern trauen? Die Liste ist endlos.
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Mit dem, was Sie gerade eben tun – nämlich ein Buch lesen – gehören Sie einer Minderheit an. Mit dem Lesen dieses oder jedes anderen Buches gehören Sie zu einer aussterbenden Art von Menschen, die nachsinnen und reflektieren, die wirklich innehalten und nachdenken. Lesen – oder jede andere Aktivität, die eine ausdauernde geistige Anstrengung verlangt – braucht ein gewisses Maß an dauerhafter Aufmerksamkeit, zu der immer weniger Menschen bereit oder überhaupt fähig sind.
Ohne es zu merken, verlieren wir unsere Fähigkeit, zu verweilen und den Moment auszukosten. Reflexartige Ungeduld treibt uns zur Hetze, auch wenn es gar keine Veranlassung gibt, sich zu beeilen. Wann haben Sie das letzte Mal beim Kaffeetrinken getrödelt, ein Gespräch in Ruhe genossen oder sich ein paar schöne Stunden in einem Museum oder einer Buchhandlung gegönnt? Fühlen Sie nicht stattdessen auch einen zwanghaften inneren Druck, sich zu beeilen?
Aber um lieben zu können, müssen wir unser Tempo drosseln. Wir müssen Pausen einlegen. Wir müssen dem anderen Beachtung...