KAPITEL 1
DAS GESETZ DER KÖRPERGRUNDLAGEN
“WENN DU LUFTSCHLÖSSER
GEBAUT HAST, MUSS DIE ARBEIT
NICHT UMSONST GEWESEN SEIN;
DORT GEHÖREN SIE HIN. JETZT
GILT ES, FUNDAMENTE DARUNTER
ZU BAUEN.”
HENRY DAVID THOREAU
DAS GESETZ DER KÖRPERGRUNDLAGEN | Olenjok, Russland
JEDEN SPORT MEISTERN
Es ist der 21. April 2008, einen Monat nach meinem Aufenthalt bei den Cowboys von Cotopaxi.
Ich kann mich gut an diesen Tag erinnern. Es war der Tag, an dem ich das Geheimnis erfuhr, wie man jeden Sport meistert.
Ich habe einen alkoholberauschten Aufenthalt in Ecuador überlebt (meine Leber ist sich immer noch nicht sicher, was eigentlich los war), danach einen Monat mit den Rentier-Ewenken in Sibirien verbracht (meine Finger und meine Nase sind immer noch dabei aufzutauen) und bin jetzt auf dem Weg zu einem Retro-Fitnessstudio aus Sowjetzeiten.
Warum eine weitere, absolut willkürlich erscheinende Reise? Weil ich schon immer von den Kraft- und Konditionsgeheimnissen Osteuropas fasziniert war. Nachdem ich also eingeladen war, zusammen mit einem berühmten Ex-Soldaten und heutigen Ringkämpfer zu trainieren, würde ich mir diese tolle Gelegenheit wohl kaum entgehen lassen. Daher suchte ich, der noch nie ein Wort Russisch gesprochen und nie einen Ringkampf absolviert hatte, jenen Mann auf, den man Nikolai nannte.
Ich sollte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich absolut null Ahnung hatte. Klar, in den vergangenen vier Jahren hatte ich in den gemütlichen Räumen der Loughborough University Sportwissenschaften studiert, aber das brachte mir hier draußen nichts. Hier war das ländliche Russland. Hier war es kalt, rau, und mein akademischer Grad interessierte niemanden.
Ein Flugzeug, einen Zug und ein Taxi später stand ich mit pochendem Herzen vor dem Eingang des Studios und war neugierig, was mich erwarten würde. Die feuchten schweißdurchtränkten Wände und die vom Stöhnen mit schweren Eisengewichten pumpender Männer bestimmte Geräuschkulisse warnten jeden, der den Schneid hatte, hier einen Fuß über die Schwelle zu setzen. Doch ich ging entschlossen weiter und öffnete die Tür zur Haupthalle.
Wie man an meinem Bart sieht, ist es in Olenjok nicht warm.
Mein Versuch, nicht aufzufallen, scheiterte auf ganzer Linie. Die alten Scharniere fingen an zu quietschen, als ich die riesige Holztür öffnete, und kündigten den (großen) Studiobewohnern mein Eintreffen an. Fünf der muskelbepacktesten, furchteinflößendsten Männer, die ich je gesehen hatte, starrten in meine Richtung; einer von ihnen, dem etwa 40 Kilo Zusatzgewicht von den Hüften baumelten, hielt mitten in seinem Klimmzug inne, um zu sehen, was dieser komische Engländer in ihrem Studio wollte. Ehrlich gesagt kann ich ihnen auch keinen Vorwurf machen. Ich muss einen so seltsamen Anblick abgegeben haben, wie ich dastand mit meinem Notizblock, auf dessen erster Seite ein paar russische Redewendungen gekritzelt waren. Ich kam mir wie ein herumirrender Tourist vor.
Gott sei Dank nahte die Erlösung in Form eines 65 Jahre alten, militärisch ausgebildeten Ringer-Champions, der hier als Lokalgröße gefeiert wurde. Das war Nikolai.
Nach ein paar Wochen Kommunikation in Form holprig übersetzter E-Mails (wir beide verließen uns weitgehend auf den Google-Übersetzer) war es ein tolles Gefühl, endlich den Lokalmatador himself zu treffen. Worte vermögen Nikolais Erscheinung nicht gerecht zu werden, aber ich will es trotzdem versuchen.
Im Grunde genommen hatte er viel von einem Mann, er war nur wesentlich größer. Mit seinen 1,93 Metern und über 104 Kilo war er wie die meisten Dinge in Russland gebaut: robust, widerstandsfähig und äußerst einschüchternd. Obwohl er dreimal so alt war wie ich, zeigte sein Körper kein Gramm Fett, nur viele Haare, die durch die Löcher seines alten Militär-T-Shirts hervorsprossen. Dazu trug er extrem enge Shorts, die nur wenig Raum für Spekulationen ließen.
Doch lassen wir seine merkwürdige Kleidung und üppige Körperbehaarung beiseite. Als er mich mit einem schraubstockartigen Griff und riesigen Händen begrüßte, war ich dankbar, dass er anwesend war. Meine Verbindung zu ihm schien wohl der Grund dafür zu sein, dass die anderen »Schränke von Männern« meine Anwesenheit akzeptierten.
Es gab allerdings ein Problem. Ohne die Hilfe unseres gemeinsamen Freundes, des Google-Übersetzers, gab es keine Kommunikationsmöglichkeit. Was zu meinem Leidwesen bedeutete, dass er mir seine Lektionen wohl oder übel erteilen musste, indem er mich auf einer Ringermatte bis zur Langeweile oder zum Knochenbruch hin und her warf. Ich befürchtete Letzteres.
»Kämpfe!«, sagte er, als er zu den Matten ging.
Ich empfand das eher als Befehl denn als Einladung, also folgte ich ihm eilig. Mithilfe der Notizen und einem Taschenbüchlein mit russischen Redewendungen versuchte ich, ihm zu erklären, dass ich noch nie zuvor gerungen hatte. Nikolai schaute lediglich etwas irritiert und begann mit den Dehnübungen.
Jetzt gab es kein Zurück mehr, und natürlich würde das hier nicht gut für mich ausgehen. Ich bereitete mich auf das Schlimmste vor, stellte meine Tasche auf den Boden und begann ebenfalls mit dem Stretching, alles in der vergeblichen Hoffnung, dass mir mein sportlicher Hintergrund wenigstens etwas zugutekäme.
Tat er aber nicht. Diesmal wurde ich nur Zweiter.
Ein paar Augenblicke später wurde mein Gesicht trotz höchster Anstrengungen von den Baumstämmen, die Nikolai als Beine bezeichnete, in die Matte gequetscht. Es war, als kämpfte man mit einem riesigen, nass geschwitzten Bären. Das ging noch 50 Minuten so weiter, in denen ein ringender Kriegsveteran mich auf der Matte rauf und runter stieß und nach Belieben festklammerte.
Gefühlte Stunden später waren mein Körper und mein Ego mächtig angeschlagen. Schlimmer noch: Die Nachricht von meinem Besuch hatte die benachbarte Schule erreicht, und mein Untergang wurde nun von einer Gruppe Kindern verfolgt, die rings um das Studio Platz genommen hatten und ihren Lokalmatador anfeuerten.
Sie feierten jeden schmerzhaften »Bodyslam« und jeden »Hosenzieher«, und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dies nicht wirklich mein größter sportlicher Moment war. Aber kurioserweise stellte er sich als einer meiner kostbarsten heraus. Denn nach einer weiteren schmerzvollen Stunde gestattete mir Nikolai eine kurze Pause, sodass mein Gesicht nicht weiter gegen den Boden geschmettert wurde. Er bot mir einen Becher Wasser von einem abtauenden Eisblock an und bedeutete mir, mich neben ihn auf die Matte zu setzen. Dankbar nahm ich an und nutzte die Gelegenheit, mit ihm über alles zu »reden« – mit Händen und Füßen –, was mit Training und Ernährung zu tun hatte.
Auf dieser schweißdurchtränkten russischen Ringermatte lernte ich, jede Sportart zu meistern.
Kein Zweifel, Nikolai war ein Beispiel für menschliche Physis par excellence. Er hatte soeben einen Sportler, dessen Alter nur ein Drittel seines eigenen betrug, absolut beschämt, und war selbst kaum außer Atem. Was mich jedoch am meisten verblüffte, war, dass ihm alles so lässig von der Hand ging, und er behauptete, er habe einen grundlegenden, allgemeinen Trainingsplan befolgt.
Es war so einfach, dass es fast banal erschien.
Nikolai zuckte mit seinen riesigen Schultern und griff nach seiner Tasche, die er behutsam auszupacken begann. Er legte eine Sammlung alter Trainingsmagazine und einige Übungseinheiten, die er für das Militär ausgearbeitet hatte, auf die Matte. Später erzählte er mir, er habe das alles für meine Ankunft vorbereitet, habe jedoch abwarten wollen, ob ich es wert bin, sie zu Gesicht zu bekommen.
Ich pickte mir die dickste der Zeitschriften heraus – eine Schwarte von 500 Seiten – und überflog das Magazin. Kein Vorwort, kein Inhaltsverzeichnis und kein belangloses literarisches Vorspiel. Nur reine Fakten sowie auf Sport und Soldaten ausgerichtete Theorie, kompakt auf jeder einzelnen Seite dargestellt. Ebenso die Trainingseinheiten: einfach zu verstehen und mit genauer Angabe von Sätzen und Wiederholungen. Die Workouts waren straff organisiert und sinnvoll angeordnet, sie alle konzentrierten sich auf einfache Übungen, die oftmals nur mit dem eigenen Körpergewicht absolviert werden konnten. Viele Liegestütze – mitunter Varianten mit nur einem Arm –, Dips, Klimmzüge, Klettergerüstübungen, Unterarmstütz, Ausfallschritte, Kniebeugen im Ausfallschritt, Gleichgewichtsübungen auf einem Bein, Hüpfen auf einem Bein, L-Sitz, Gewichte schleppen (Carries), Frontdrücken im Stehen, Kniebeugen mit Kurzhantel über Kopf (einhändig) und so weiter. Das Abbildungsverzeichnis war endlos.
Als Nikolai sah, dass ich sofort in die Zeitschrift vertieft war, erhob er sich, klopfte mir mit seiner riesigen Hand auf den Kopf und ging in eine andere Ecke des Studios, wo er einige der jüngeren Athleten Wurf- und Sprungübungen absolvieren ließ. Mich ließ er derweil Seite für Seite in die Geheimnisse sowjetischer Trainingsmethoden eintauchen.
Was also hatte ich an diesem Tag auf der schweißgetränkten Matte gelernt? Kurz gesagt lernte ich – schmerzhaft wohlgemerkt – das Training mit dem eigenen Körpergewicht sowie das Prinzip der sogenannten allgemeinen Körpervorbereitung zu verstehen.
Lass mich zuerst Letzteres erklären.
»Verlasse dich auf allgemeine Grundlagen, damit du bestimmte Ziele verfolgen kannst.«
ROSS EDGLEY
DAS SOWJETISCHE GEHEIMNIS: DIE ALLGEMEINE KÖRPERVORBEREITUNG
Dies ist eine Art...