Einleitung
Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki im literarischen Leben seiner Zeit
Von Thomas Anz
1955 veröffentlichte eine der beiden wichtigsten Literaturzeitschriften der DDR, die »Neue Deutsche Literatur«, einen Aufsatz mit dem Titel »Probleme des deutschen Gegenwartsromans«. Sie stellte den Autor einleitend so vor: »Der Verfasser dieses Beitrages ist ein bekannter polnischer Literaturkritiker, der seit langem dem Schaffen der deutschen Schriftsteller große Aufmerksamkeit widmet. Sein Aufsatz ist in der Zeitschrift ›Tworczosc‹, unserem polnischen Schwesterorgan, erschienen.«
Von Marceli Ranicki, wie er sich damals nannte, war in der DDR bereits im Frühjahr 1953 ein vorher auf Polnisch publizierter Artikel erschienen, in »Sinn und Form«, sein erster in deutscher Sprache. Er führte zu einem Eklat, den Volker Hages ausführlicher »Biographischer Essay« über Reich-Ranicki 1995 und später Uwe Wittstocks Biographie eingehend beschrieben haben. Dem Dichter und damaligen Kulturminister Johannes R. Becher hatte der Kritiker beiläufig vorgehalten, dass es ihm, ähnlich wie Bertolt Brecht oder Ernst Toller und anders als dem eben gestorbenen Erich Weinert, nicht gelungen sei, sich in seiner Jugend »der Versuchung des Expressionismus zu widersetzen«, der »so fatal auf die damals entstehende deutsche revolutionäre Dichtung einwirkte« und der Arbeiterklasse unverständlich blieb.
Diese negative Einschätzung des Expressionismus entsprach zwar der des in der DDR hoch angesehenen marxistischen Literaturtheoretikers Georg Lukács, aber Becher reagierte empört und warf dem Herausgeber der Zeitschrift vor: »Ihr benutzt einen toten Genossen, um einen lebenden zu beschmutzen«. In dem Aufsatz von 1955 allerdings wird Becher persönlich von Marceli Ranicki sehr gelobt, vorbehaltloser als jedes der rezensierten Bücher. Doch auch hier verschont er die in der DDR betriebene Kulturpolitik nicht mit Vorwürfen. Dass die besprochenen Bücher die in Bodo Uhse, Willi Bredel und Anna Seghers gesetzten Hoffnungen nicht ganz erfüllen, schreibt der Kritiker nicht zuletzt den negativen Auswirkungen der damaligen Kulturpolitik zu: »Einen gewissen Einfluss darauf haben zweifellos die Fehler ausgeübt, die in der Kulturpolitik der Deutschen Demokratischen Republik in den vergangenen Jahren gemacht worden sind. (…) Man unterschätzte die Fragen der Form und ging an die Problematik des sozialistischen Realismus engherzig und sektiererisch heran.«
Der älteste Artikel Reich-Ranickis, der in der hier vorgelegten Sammlung seiner Beiträge zur deutschen Literatur seit 1945 abgedruckt ist, erschien ebenfalls in einer polnischen Zeitschrift, wurde aber erst jetzt für dieses Buch erstmals ins Deutsche übersetzt. Es ist eine Rezension zu Heinrich Bölls Roman »Und sagte kein einziges Wort«. Er hat sie 1957 veröffentlicht, fast zeitgleich mit einer Besprechung zu Wolfgang Koeppens »Tod in Rom«, und sie steht hier nur als ein Beispiel für Wandlungen und Interessenverschiebungen in der Karriere des jungen Literaturkritikers, von denen die Auswahl seiner Artikel für diesen Band mitgeprägt ist. Die »Problematik des sozialistischen Realismus« und der kommunistischen Kulturpolitik verliert an Bedeutung, das Interesse vor allem an Autorinnen und Autoren, die schon vor 1945 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt waren, die ihre literarische Laufbahn nach Kriegsende in Deutschland fortsetzten und die in der DDR publizierten, bleibt zwar erhalten, aber neu hinzu kommt die intensive Beschäftigung mit einer jüngeren Generation von Autoren in beiden Teilen Deutschlands, deren literarische Karriere erst nach 1945 begann.
Eine der letzten Rezensionen Marceli Ranickis in polnischer Sprache, 1958 erschienen in der Zeitschrift »Twórczość«, bespricht unter dem Titel »Neue deutsche Prosa« die Romane »Sansibar« von Alfred Andersch und »Der Mann im Strom« von Siegfried Lenz. Kurz vorher veröffentlichte Marceli Ranicki in der Warschauer Zeitschrift »Politika« noch eine Besprechung zu Max Frischs »Homo faber«. Andersch, Böll, Frisch, Koeppen und Lenz gehören zu den Autoren und Autorinnen, die mit dem Titel dieses Bandes »Meine deutsche Literatur seit 1945« gemeint sind. Es sind seine in dem Sinn, dass er ihre literarische Entwicklung von Anfang an und über Jahrzehnte hinweg kritisch begleitet hat – mit Lobreden und Verrissen, Hoffnungen und Enttäuschungen und zuletzt in vielen Fällen mit einem Nachruf.
Nachdem Marceli Ranicki 1958 Polen verlassen hatte und als er in der Bundesrepublik unter dem neuen Namen Marcel Reich-Ranicki sehr bald und über ein halbes Jahrhundert hinweg zum prominentesten, einflussreichsten und umstrittensten Literaturkritiker seiner Zeit wurde, erweiterte sich der Kreis seiner Autoren ständig. Kontinuierlich setzte er sich mit Hans Erich Nossack, Wolfdietrich Schnurre, Friedrich Dürrenmatt, Ingeborg Bachmann, Martin Walser, Günter Grass oder Uwe Johnson auseinander und nun auch mit jüngeren Autoren aus der DDR, die das literarische Nachkriegsleben dort mitprägten: Stephan Hermlin, Erwin Strittmatter oder Franz Fühmann. Später kamen neue hinzu: Friedrich Dürrenmatt, Erich Fried, Christa Wolf, Gabriele Wohmann, Marie Luise Kaschnitz, Hilde Spiel, Rolf Dieter Brinkmann, Ulrich Plenzdorf, Wolf Biermann, Thomas Bernhard, Sarah Kirsch, Wolf Wondratschek, Patrick Süskind und viele mehr. Über einige von ihnen hat er so oft geschrieben, dass seine Aufsätze über sie in gesonderten Büchern erschienen. Und einige kann man mit Recht als seine »Entdeckungen« ansehen, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen versuchte – mit großem, aber vielfach auch begrenztem Erfolg: Ulla Hahn etwa, Peter Maiwald oder Hermann Burger, für den er sich bereits als Sprecher der Jury beim Klagenfurter Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis stark machte. Seiner mündlichen Kritik später im »Literarischen Quartett« hatte vor allem Ruth Klüger viel zu verdanken, aber sie kam auch einigen der Autorinnen und Autoren zugute, die zum Erscheinungsbild der jüngeren deutschen Literatur im 21. Jahrhundert gehören: Ingo Schulze, Judith Hermann oder Maxim Biller.
Die Lektüre dessen, was Reich-Ranicki über all diese Autorinnen und Autoren geschrieben oder auch nur gesagt hat und was für diese bisher umfangreichste Sammlung seiner Beiträge zur Literatur seit dem Ende des Krieges ausgewählt wurde, ist eine Art Erinnerungsreise durch die deutschsprachige Literaturgeschichte eines halben Jahrhunderts. Er hat sie begleitet und er war ein Teil von ihr.
»Meine deutsche Literatur seit 1945« versteht sich als Ergänzung zu dem ein Jahr nach Reich-Ranickis Tod erschienenen Buch »Meine Geschichte der deutschen Literatur«, das vom »Mittelalter bis zur Gegenwart« reicht. Diese vermittelt ein Bild jener Literatur, in der er seine Heimat fand, und zeigt, dass der Literaturkritiker die bedeutenden Autoren und Autorinnen der Vergangenheit nie aus den Augen verloren hat. Aber zur Literaturkritik als Beruf gehört vor allem die Auseinandersetzung mit Neuerscheinungen und die Aufgabe, das literarische Leben der Gegenwart zu beobachten und an ihm teilzuhaben. So ist denn auch die Zahl von Reich-Ranickis Veröffentlichungen zur Literatur der zweiten Hälfte des 20. und der Anfänge des 21. Jahrhunderts um ein Vielfaches größer als die zur Literatur aller Jahrzehnte und Jahrhunderte davor. In seiner »Geschichte der deutschen Literatur« nahm sie immerhin bereits einen Umfang von 200 Seiten ein. Bis auf eine Ausnahme, die gleich noch zu begründen ist, übernimmt »Meine deutsche Literatur seit 1945« daraus keinen einzigen Beitrag. Beide Bände ergänzen sich, aber beim Lesen des einen Bandes ist man auf den anderen nicht angewiesen.
Außerdem folgen die beiden Bände wie schon frühere Aufsatzsammlungen Reich-Ranickis teilweise unterschiedlichen Konzepten in der Präsentation der gesammelten Beiträge. Seine »Geschichte der deutschen Literatur« greift zumeist auf letzte Fassungen seiner oft mehrfach veröffentlichten Essays zurück, die er für seine Bücher überarbeitet und oft mit anderen Titeln überschrieben hat. »Meine deutsche Literatur seit 1945« druckt hingegen in der Regel die ersten Fassungen ab, wie sie zumeist in Zeitungen erschienen sind. Und auch die Anordnung der Essays folgt anderen Gesichtspunkten. Die Reihenfolge ist im ersten der beiden Bände an den Geburtsdaten der Autoren und Autorinnen orientiert. Beiträgen über Goethe beispielsweise folgt ein Portrait Schillers, Artikeln über Günter Grass einer über Christa Wolf. Im neuen Band ist die Reihenfolge – mit Ausnahme der Artikel, die einleitenden Charakter haben oder sich auf ein Phänomen wie die Gruppe 47 beziehen – durch das Erscheinungsdatum bestimmt. »Meine deutsche Literatur seit 1945« wird damit zu einer chronologisch geordneten Dokumentation und Geschichte von Reich-Ranickis aktiver Teilnahme am literarischen Leben seiner Zeit. Die vier Artikel über Grass zum Beispiel stehen in verschiedenen Kapiteln. Und der erste über »Die Blechtrommel« unterscheidet sich von der Fassung, die schon in »Meine Geschichte der deutschen Literatur« und in etlichen anderen Büchern abgedruckt wurde, nicht nur im Titel.
Dass der Artikel auch in dem neuen Band erscheint, hat aber einen wichtigeren Grund. In Reich-Ranickis Kritikerkarriere ist diese Rezension eine markante Zäsur. Sie erschien am 1. Januar 1960 in der »Zeit« und ist seine erste in dieser Zeitung – ein mit deutlich erkennbarer Sympathie für den Autor geschriebener Verriss. Das Feuilleton der Wochenzeitung hatte Reich-Ranicki im...