Regen
Morgen in Mexiko
Ich träume von Mexiko, und ich bin in Mexiko. Der Übergang verläuft bruchlos. Nie hat die Wirklichkeit die Verheißungen meiner Träume auf glorreichere Weise wahr gemacht.
André Breton
Ein Hahn kräht. Ich schlage die Augen auf. Draußen ist es noch dunkel, durch das geöffnete Fenster weht ein kühler Luftzug herein. Seltsam. Ich fühle mich so schwer, als hätte ich kaum geschlafen. Vielleicht war der Umzug doch anstrengender gewesen als gedacht.
Wieder kräht ein Hahn, ein anderer antwortet, dann noch einer und noch einer.
Ich knipse mein Handy an. Ich habe tatsächlich noch nicht lange geschlafen: Es ist kurz vor zwei.
Draußen krähen nun Dutzende Hähne um die Wette. Sind die nicht erst bei Sonnenaufgang dran?
Das Geschrei dauert fünf Minuten, dann ist es wieder still und ich schlafe ein.
Ein Hahn kräht. Noch einer.
Ich schlage die Augen auf und schaue auf mein Handy.
Drei Uhr.
Wieder krakeelt einer, ein anderer antwortet, es folgen zwei, drei, vier, fünf weitere.
Ich stehe auf, mache das Fenster zu und lege mich wieder ins Bett. Das Krähen wird nicht leiser.
Fünf Minuten später haben sich die Hähne beruhigt, und irgendwann schlafe ich wieder ein.
Ein Hahn kräht. Dann noch einer, zwei, drei, fünf.
Vier Uhr.
Ich wälze mich im Bett herum. Dann springe ich zum Fenster, mache es wieder auf und schaue hinaus. Wo zum...? Es ist finster, nur die schwarze Silhouette der Felswand zeichnet sich gegen den Sternenteppich ab. Die Hähne müssen direkt unter dem Fenster auf dem Grundstück des Nachbarn sein. Aber wer hat denn nur so viele Hühner?
Wütend steige ich zurück ins Bett, wo Lulú selig schlummert. Ich wälze mich hin und her, und als ich endlich eingenickt bin, geht es wieder los.
Fünf Uhr.
Sechs Uhr.
Warum nehme ich es nicht mit Humor? Der Nachbar hat die Hähne falsch programmiert. Statt sie bei Sonnenaufgang schreien zu lassen, krähen sie zu jeder vollen Stunde. Aber es ist nicht witzig. Ich spüre das Verlangen, über den Zaun zu klettern und jedem einzeln die Gurgel umzudrehen.
Gegen sieben Uhr dämmert es, die Felswand vor dem Fenster färbt sich erst grau, dann violett, dann orange. Ich wälze mich noch ein wenig von einer Seite auf die andere, dann gehe ich wieder ans Fenster und sehe hinaus. Der Hof des Nachbarn liegt hinter einer hohen Mauer, gut drei Meter tiefer als unser Hinterhof. Zuerst erkenne ich einige bunte Dächlein, zwei oder drei Dutzend. Dann sehe ich vor jedem dieser Dächlein einen Hahn. Einen Hahn mit langem, flachem Schwanz und goldschimmerndem Helm.
Kampfhähne. In hilfloser Wut balle ich die Fäuste. Bilder flattern mir durch den Kopf wie aufgescheuchte Hühner. Ich sehe mich mit einer Schleuder vergifteten Mais über die Mauer schießen. Oder wie Max und Moritz das Federvieh mit Brotfallen erdrosseln.
Hinter mir raschelt es leise.
»Bist du schon auf?«, murmelt Lulú. »Komm wieder ins Bett!«
Ich krieche zwischen die Laken.
»Gut geschlafen?«, frage ich.
»Geht so«, antwortet Lulú. »Du hast dich die ganze Zeit hin und her gewälzt und mich ein paar Mal aufgeweckt.«
Aber ich halte es nicht mehr aus im Bett und gehe nach draußen, um mich in einen geflochtenen Armsessel vor der Haustür zu setzen. Der Himmel ist hellblau und wolkenlos, und die Sonne steht noch so tief, dass sie unter das Dach der Veranda scheint und mir die nackten Beine wärmt. Trotz der frühen Stunde ist es angenehm warm – aber in Mexiko ist es ja immer warm.
Ich atme tief ein und spüre, wie die Luft meine Bronchien streichelt. So gut war Mexiko-Stadt nicht zu mir gewesen. Höhenluft und Smog hatten mir zugesetzt. Dauernd hatte ich Halsentzündungen, Rachenentzündungen, Nasennebenhöhlenentzündungen, Mandelentzündungen, Stirnhöhlenentzündungen – so als wollte mich der höllische Atem des Molochs von innen heraus verbrennen. Kopfschüttelnd hatte mir der Arzt ein Antibiotikum nach dem anderen verschrieben, doch nichts hatte geholfen. Lulú war so ratlos, dass sie mich zu einer Heilerin auf dem Markt von Coyoacán brachte. In einem stickigen Kabuff hinter ihrem Kräuterstand setzte mich die Alte auf ein Stühlchen und betastete mir den Hinterkopf. Dann nahm sie mich bei den Händen, sah mir lange tief in die Augen und murmelte schließlich: »Ein böser Zauber.«
Dann verkaufte mir die listige Alte zwei dicke gelbe Kerzen, eine für den Heiligen Franz von Sales, den Patron der Schriftsteller, und eine für den Heiligen Hieronymus, den Schutzherrn der Übersetzer, die ich jede Nacht anzünden sollte. Dazu gab sie mir eine Handvoll rote Beeren mit, die ich neben der Wohnungstür in ein Glas legen sollte, um böse Mächte fernzuhalten. Aber der böse Zauber war die Stadt selbst, und von den paar Beerchen neben der Tür ließ sie sich nicht beeindrucken. Ich bekam eine Kehlkopfentzündung und konnte nicht mehr sprechen.
Auch Lulú lebte wie unter einem Zauber. Jeden Morgen um fünf Uhr stand sie auf, war um sieben am Gericht, bearbeitete vierzehn Stunden lang Akten, und kam abends um 10 Uhr nach Hause. Wenn es nach ihrem Richter gegangen wäre, dann hätte sie gleich im Büro übernachtet, und womöglich wäre das sogar gesünder gewesen, denn dann hätte sie vielleicht im Stau auf dem Weg ins Büro nicht dauernd diese infernalischen Panikattacken gehabt. An den Wochenenden belegte sie Yoga-, Qui Gong-, Tai Chi- und Meditationskurse und was man sonst noch so tut, um Leib und Seele zu optimieren und sich am Montag wieder ins Büro zu schleppen. Ihr Richter schlug ihr vor, doch einen Zeitmanagement-Kurs zu belegen, um ihre Arbeitszeit noch effektiver zu nutzen und Work und Life optimal zu balancieren. Nach einer letzten morgendlichen Panikattacke ging sie sein Büro und kündigte.
Nun also Malinalco.
Schon als wir den Umzug beschlossen hatten, war meine Stimme auf wunderbare Weise zurückgekehrt. Und jetzt...
Ich atme tief ein.
Malinalco hat seine ganz eigenen Gerüche. Aus der Ecke der Veranda, wohin nie die Sonne scheint, kommt der Geruch von modrigem Holz. Über die Mauer schwebt der Duft von frischem Kuhmist. Aus dem Kamin gegenüber steigt der beißende Rauch eines Holzfeuers auf, und dazwischen mischt sich ein feines Aroma wie von geschmolzenem Wachs oder verbranntem Plastikmüll.
Allmählich sticht die Sonne vom Himmel. Träge sehe ich den Ameisen zu, die auf der Veranda verwehte Wunderblüten zerlegen und in einer langen Prozession violette Fähnchen hinaus in den Hof tragen. Fliegen surren um mich herum.
Malinalco erwacht. In meinem Rücken klirren Ketten, muhen Kühe, wiehern Pferde, knattert ein Motor, und hin und wieder donnert es, als würde ein Stier mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Währenddessen beginnt hinter der anderen Mauer das Wasser zu rauschen und jemand schrubbt in einem Handwaschbecken. Dann schrammeln in einem Radio Gitarren, und eine Frau zirpt:
Yo jamás sufrí,
yo jamás lloré,
yo era muy feliz,
yo vivía muy bien,
Hasta que te conocí.
Ich habe nie gelitten, ich habe nie geweint, ich war glücklich, ich habe gut gelebt, bis ich dich kennengelernt habe. Ich stelle mir vor, wie die Nachbarin dazu die Unterhosen des Besungenen einseift.
Wenig später schallt Musik die Gasse herunter. Dazwischen eine Stimme vom Band: El Ga-as! El Ga-as! Dann hämmert jemand laut mit Metall auf Metall, als würde der Gasverkäufer mit einem Schraubenschlüssel auf die Gasflasche einschlagen. Dann wieder die Musik. Langsam zuckelt das Auto vor dem Hoftor vorbei, die Musik entfernt sich und biegt mit dem Wagen am unteren Ende der Gasse um die Ecke. Der Tag hat begonnen.
Wenn ich mir von unserem Umzug ins Dorf Ruhe und Idylle erhofft hätte, dann wäre ich schon jetzt enttäuscht. Sobald der Gasmann weg ist, hupt an der Ecke das Müllauto, als wolle es die Mauern von Jericho zum Einsturz bringen, und während die Nachbarinnen ihren Müll rausbringen und auf den Wagen werfen, schallen Salsarhythmen aus der Fahrerkabine. Wenig später alarmiert der fahrende Seifenhändler mit plärrenden Cumbias die Hausfrau, der inzwischen das Waschmittel ausgegangen ist, gleich darauf marschiert der Alteisenhändler mit seinem scheppernden Handwagen die Gasse hinunter und bimmelt mit seiner Handglocke. Die radelnden Scherenschleifer mit ihren durchdringenden Pfeifen gehen in diesem Getöse völlig unter. Nachmittags fährt ein VW-Käfer mit aufs Dach gebundenen Boxen die Gassen ab und lädt zum Zirkus oder Rummel ein, der gerade im Ort ist. Es folgt der Eiswagen mit leierndem Jingle. Aus allen Richtungen kreischen Motorsägen, jaulen Fräsen, dröhnen Bohrer, krachen Hämmer, und an Sonn- und Feiertagen wird das Ganze untermalt vom Geknalle der Böller und dem Geschepper der Blasmusik. Nach Einbruch der Dunkelheit...