2. Individuation als Menschwerdung im Märchen :
„Hans mein Igel“, „Das Eselein“ und „Der Schneckenmann“

Motiv: Wünschen und Verwünschen

Märchen beginnen oft mit einer fatalen Ausgangssituation. Schicksal ist dem Helden bereits in die Wiege gelegt. Oft sind es die unbedachten und unbewussten Wünsche der Eltern, die dem Märchenhelden zum Schicksal werden. Das kommt zum Ausdruck in dem Märchen „Hans mein Igel“. Ein Elternpaar wünscht sich sehnlichst ein Kind, das aber nicht kommt. Die Sehnsucht verdichtet sich so, dass der Vater in einem unbedachten Moment sagt: „Und wenn es ein Igel wäre!“. Die Frau bringt dann einen Igel zur Welt. In dem ebenfalls Grimm‘schen Märchen „Das Eselein“ wird das Wunschkind als Esel geboren und in einer japanischen Variante „Der Schneckenmann“ kommt das Kind als ein Schneck zur Welt. In den „Sieben Raben“ schickt der Vater seine sieben Söhne mit einem Krug zum Brunnen, damit Wasser zur Taufe des gerade geborenen Schwesterchens geholt würde. Die Söhne lassen den Krug fallen. Er zerspringt in tausend Stücke und dem Vater rutscht der unbedachte Satz heraus: „Ich wollte, dass sie alle in Raben verwandelt würden!“ Das geschieht dann auch auf der Stelle und die Söhne fliegen als Raben davon. Wünsche haben oft eine magische Wirkung und aus Wünschen werden oftmals Verwünschungen!

In psychologische Sprache übersetzt bedeuten die drei Tiergeburten der genannten Märchen, dass das ersehnte Kind sozusagen eingehüllt in den Gespinstmantel der Mutter– oder Vaterwünsche zur Welt kommt. Dies kann ein Tierkleid sein und in den erwähnten Märchen wird dann gezeigt, wie es seinem Helden gelingt, seine eigene menschliche Wesensgestalt langsam aus der Wunsch- und Phantasiehülle, die seine Eltern ihm angezaubert haben, zu befreien und zu sich selbst zu kommen, das heißt. Ich-Autonomie zu erwerben. Aus der Igelhaut wird man wohl auf ein sensibles und gleichzeitig widerborstiges und stacheliges Wesen des Helden schließen dürfen; bei dem Schneck auf ein introvertiertes und etwas langsames, das dazu neigt, sich in sein Schneckenhaus zu verkriechen und bei dem Eselchen geht man vermutlich nicht fehl, auf eine gewisse Taubheit, aber auch Treue und Arbeitsfähigkeit zu schließen

In der menschlichen Welt sind diese Eigenschaften nicht gerade sehr gefragt und eher ein Handicap. Die drei Märchen jedoch zeigen auf, dass Anfangsschwierigkeiten und in einem gewissen Umfang auch Milieuschädigungen zum Leben gehören, dass man deshalb den Mut nicht verlieren soll und dass Wandlung geschehen kann. Sie machen Mut und raten zur Geduld: „Gut Ding will Weile haben“.

Gemeinsam ist dem Igel, dem Eselchen und dem Schneck, dass sie alle drei musikalisch sind. Hans mein Igel spielt gut Dudelsack, das Eselchen ist ein Meister des Lautenspiels und der Schneck spielt die Bambusflöte. Symbolisch ist damit ausgesagt, dass die drei zwar äußerlich eine Tierhaut tragen, womit wohl auch eine gewisse Ungeschicklichkeit und Unangepasstheit der menschlichen Welt gegenüber angezeigt werden soll, dass aber ihre Innerlichkeit gesund und wohlklingend ist. Ihre Gefühlswelt ist „stimmig“. Sie haben ein harmonisches Gemüt. Es sind dann auch folgerichtig ihre Instrumente, bzw. ihre Musikalität, womit sie ihre Bräute zu gewinnen wissen. Um ihre weiblichen Seelenanteile, wie schon gesagt, um ihre Gefühlswelt ist es gut bestellt. Ihre Anima ist offenbar intakt und im Gegensatz zu ihrer Außenanpassung alles andere als deformiert und unentwickelt.

Die Verwandlung ihrer Tier-Persona in die volle menschliche Gestalt gelingt den drei Helden jedoch nicht aus eigenem Vermögen. Dazu bedarf es der verwandelnden Kraft des Weiblichen.

Dieses Motiv taucht übrigens in der abendländischen Literatur zum ersten Mal im Gilgamesch-Epos auf. Dort wird der mit den Tieren wie ein Tier lebender Wild- und Naturmensch Enkidu ebenfalls durch die Liebe einer Frau verwandelt und veranlasst, die Wildnis und seine Wildheit zu verlassen und Mensch in der sumerischen Kulturwelt zu werden. Ergreifend wird in diesem Epos beschrieben, wie Enkidu, nachdem er vierzehn Tage bei der Kultdirne gelegen hat, sich wieder zurück zur Wildnis und den Tieren sehnt. Aber als er wie immer gemeinsam mit ihnen zur Tränke gehen will, muss er erleben, dass die Tiere vor ihm davon fliehen. Er ist ein anderer geworden, ein Mensch. Wer einmal die Welt des Unbewusstseins verlassen und die des Bewusstseins betreten hat, kann nicht mehr zurück. Der Schritt ist irreversibel. Das Gilgamesch-Epos mit seiner Passage der Zähmung und Wandlung des Tiermenschen Enkidu dürfte der Urahne aller jener Märchen sein, in denen das Motiv der Wandlung vom Tier zum Menschen spielt.

Hans mein Igel und das Eselchen können ihre Tierhaut zum ersten Mal im Schlafgemach ihrer Braut ablegen. Die Haut kann dann verbrannt werden und Hans mein Igel und das Eselchen sind endgültig Mensch geworden. In dem japanischen Märchen „Der Schneckenmann“ spielt zwar bei der Verwandlung des Schnecks auch eine liebende Frau eine Rolle, aber es spielt auch eine dritte geheimnisvolle Größe mit, die man in den Märchen hin und wieder anzutreffen pflegt: die Zeit – oder besser: der rechte Augenblick, der Kairos. Der Schneck war von seiner Frau, die ihn immer in ihrem Gürtel trug, am Wegrand abgesetzt worden, weil sie irgendetwas zu erledigen hatte. Als sie zurückkommt, ist der Schneck verschwunden. Was war geschehen? Während der Abwesenheit der Frau war auf einmal die große Zauberin und Verwandlerin Zeit auf der Bühne erschienen – denn es passierte, dass der Schneck sich auf einmal und unerwartet ganz von selbst in einen wohlgestalteten Mann verwandelte. Der gewandelte Schneckenmann ging zum Tempel, um sich bei der Wassergottheit zu bedanken, ging dann zurück zu seiner Frau und alles war gut.

Auch in dem Märchen „Dornröschen“ begegnen wir der Zeit als der großen Wandlerin. Der Dornröschen erlösende Prinz hätte wohl ebenso wenig eine Chance gehabt, die dichten Dornenhecken zu durchdringen wie seine vorher darin umgekommenen Vorgänger, wenn nicht gerade die 100 Jahre vergangen worden waren und sich die Dornenhecke ganz von selbst in einen blühenden Rosenhag verwandelt hätte, als er sich ihr näherte. Der rechte Augenblick war ihm zur Hilfe gekommen. Die Zauberin Zeit hatte eingegriffen.

In den Märchen ist ein Wissen davon vorhanden, dass alle menschliche Entwicklung und Bemühung immer auch eingebettet ist in Zeitzyklen und natürliche Wachstumsprozesse. Sie müssen berücksichtigt werden, wenn menschliches Tun gelingen soll. Deshalb müssen in Märchen entscheidende Dinge oft bei Vollmond getan werden, wenn die Zeit in ihrer Fülle steht, also reif für ein bestimmtes Ereignis ist. Um das biblische „Als aber die Zeit erfüllet war“ (Gal. 4,4) weiß auf seine Weise auch das Märchen.

Motiv: Gefangenschaft und Befreiung

Wenn die Befreiung aus den schon vorgeburtlichen Gespinsten der Elternwünsche vielleicht auch die erste Tat des Erwachsenwerdens auf dem Weg der Individuation ist, so ist sie jedoch bei weitem nicht die einzige Befreiungsaktion, die der Held auf seinem Weg zu leisten hat und so begegnen wir in auffallend vielen Märchen Gefängnissen, Käfigen, Türmen und Kammern, in denen etwas gefangen gehalten wird oder befreit werden muss. Die einsperrende Macht ist oft eine Hexe oder ein Zauberer, die sich dem Helden entgegen stellen und entweder ihn selber gefangen halten oder seine Braut (Anima) oder auch etwas, dessen er zur Erfüllung seines Auftrages bedarf.

Ich denke, die starke Häufung dieses Motivs spiegelt die Häufigkeit, mit der Gefängnis- und Käfigsituation im menschlichen Leben erfahren werden. Es dürfte zu den Urerfahrungen des Menschen gehören, dass das Leben auf allen seinen Ebenen dazu neigt, immer wieder in Sackgassen und Käfige zu geraten, in denen die Entwicklung zur Individuation stecken zu bleiben droht und dass es immer wieder befreit werden muss zu neuen Aufbrüchen und Gestaltungen. Das dürfte sowohl für das politische und gesellschaftliche Leben wie für das Leben des Einzelnen gelten.

Natürlich weist das Symbol des Gefängnisses auch auf die Gefängnisse und dunklen Verließe hin, die sich in uns selber befinden und in denen alle jene Werte und Lebenstendenzen darben, die wir vom Leben ausgeschlossen haben, weil sie den Wertvorstellungen unseres Ichs nicht entsprechen. Der Mensch kann durch vielerlei Anlässe und Ereignisse in Gefangenschaft geraten und das, was ihn gefangen nimmt, kann vielerlei Gesichter haben.

In „Hänsel und Gretel“ ist es eine weibliche Heldin, die den Hänsel aus der Gewalt einer Hexe befreit. In „Rapunzel“ ist es umgekehrt: dort befreit ein Königssohn Rapunzel, die ab ihrem 12. Lebensjahr von einer Hexe in einen Turm gesperrt wurde.

Aber auch der Glassarg, in dem Schneewittchen liegt und die Dornenhecke in „Dornröschen“ sind Gefängnisse. Gefängnisse stellen Symbole dar, die ein Eingeschlossensein und...