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Allgemeiner Teil: Theoretische Grundlagen
Kurzporträt: Was ist Osteopathie?
Die Osteopathie ist keine medizinische Heilmethode, sondern eine Ergänzung zur Schulmedizin. Sie ist eine Form der manuellen Therapie, das heißt, das einzige Instrumentarium ist die menschliche Hand, lediglich stellenweise verfeinert durch auf Reflexpunkte gesetzte angespitzte Holzstäbchen.
Solche Stäbchen aus Holz oder Edelstahl werden als verfeinerte Fingerspitzen auf Reflexpunkte gesetzt.
Wenn durch osteopathische Behandlung Blockaden aufgespürt und gelöst und die Beweglichkeit aller Strukturen im Körper wiederhergestellt werden, gibt dies dem Pferd Balance und Gleichgewicht zurück und ermöglicht harmonische, schwungvolle Bewegungen und volle Leistungsfähigkeit. Selbst Anomalien wie Stellungsfehler, Narben und ausgeheilte Verletzungen stören weniger oder gar nicht, wenn sie beweglich sind.
Die Osteopathie betrachtet immer den Körper als Ganzes, da alle Strukturen miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Fundierte Kenntnisse in Anatomie, Biomechanik und Medizin sind unabdingbare Grundlagen für osteopathisch tätige Therapeuten.
Poetisch ausgedrückt ist Osteopathie die Kunst, mit den Händen zu hören, zu fragen und zu antworten.
Historie
1874 erfand der amerikanische Arzt Dr. Andrew Taylor Still (1828–1917) die Osteopathie für den Menschen, nachdem er den Zusammenhang zwischen Beweglichkeitsverlust und Krankheit beziehungsweise Wiederherstellung der Mobilität des Skeletts und Heilung entdeckte. Der Begriff „Osteopathie“ ist eigentlich irreführend, da er übersetzt „Krankheit der Knochen“ bedeutet.
1939 entwickelte ein weiterer amerikanischer Arzt, Dr. William Garner Sutherland (1873–1954), die Craniosacral-Therapie, als er die Beweglichkeit der Schädelknochen und das „Schwappen“ der Hirnflüssigkeit in einem von Puls und Atmung unabhängigen Rhythmus (PAM, primärer Atemmechanismus) entdeckt hatte.
Craniosacral-Therapie entspannt und wird von den meisten Pferden genossen.
1970 übertrug der französische Tierarzt Dominique Giniaux (1944–2004) die Humanosteopathie auf das Pferd.
1983 entwickelte John Edwin Upledger (*1932) das craniosacrale System für den ganzen Körper und 1985 stellte Jean-Pierre Barral (*1944) die viszerale Therapie vor. An der Übertragung dieser Techniken auf das Pferd sowie ihrer Weiterentwicklung arbeitet Janek Vluggen mit großer Energie.
Die Osteopathie ist also eine vergleichsweise junge Therapieform, die noch ständig verfeinert und weiterentwickelt wird.
Die osteopathischen Grundregeln
1. Die Abhängigkeit von Struktur und Funktion
Der Zustand einer Struktur ist entscheidend für ihre Funktion. Ein schief ausgeschnittener Huf führt zu statischen Veränderungen im ganzen Bein. Umgekehrt bestimmt die Funktion die Struktur. Ein korrekt gerittenes Pferd ist überall gut bemuskelt, ein schlecht gerittenes sieht auch entsprechend aus.
2. Die arterielle Regel
Nur wenn ein freier Blut- und Lymphfluss gewährleistet ist, kann der Stoffwechsel einer Struktur ihre biologische Funktion ermöglichen.
3. Die Einheit des Körpers
Die verschiedenen Körperteile bilden ein Ganzes, alle Strukturen und Funktionen sind miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Eine Lahmheit hinten links kann sich auf vorn rechts auswirken, Blockaden im Genick führen zu einer Beweglichkeitseinschränkung der Hinterhand, eine verminderte Zwerchfellbeweglichkeit bremst den Leberstoffwechsel und so weiter.
4. Die Selbstheilung des Körpers
Der Körper ist darauf ausgerichtet, ein bestmögliches Gleichgewicht zu halten. Dazu tragen ein funktionierender Stoffwechsel und ein intakter Blutkreislauf entscheidend bei. Tritt ein Trauma oder ein Infekt ein, reagiert der Körper mit all seinen Kräften, um das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Das gelingt aber nicht immer, es bleiben chronische Erkrankungen oder Narben zurück. Diese sind als Beweglichkeitsverluste tastbar. Wird die Mobilität der betroffenen Strukturen wiederhergestellt, kann der Körper erstaunliche Selbstheilungskräfte freisetzen. Auch wenn solche Strukturen ihre frühere „Jungfräulichkeit“ nicht wiedererlangen, so ist ihre Funktion nach einer osteopathischen Behandlung meistens so weit verbessert, dass Schmerzfreiheit möglich ist. Der Osteopath ermöglicht also dem Organismus, sich selbst zu regulieren.
Ein Ausflug in die Anatomie des Pferdes
Für das Verständnis der Erklärungen im speziellen Teil dieses Buches sind anatomische Grundkenntnisse erforderlich. Die wichtigsten Fakten sollen hier kurz zusammengefasst werden.
Skelett und Bandapparat
Das knöcherne Skelett bildet das stabilisierende Gerüst des Körpers. Es schützt innere Organe, dient als Mineralstoffspeicher und im Knochenmark werden rote und weiße Blutzellen gebildet. Wo immer zwei Knochen aufeinandertreffen, befindet sich ein Gelenk, das Bewegung ermöglicht.
Im ersten Lebensjahr des Pferdes ist das Knochenwachstum am stärksten, mit dem sechsten Lebensjahr ist es weitgehend abgeschlossen. Die Form der Knochen ist sehr unterschiedlich: Der Schädel ist aus vielen kleinen, überwiegend platten Knochen zusammengesetzt. An den Gliedmaßen befinden sich zum Teil sehr lange Röhrenknochen, die einen markgefüllten Schaft und an jedem Ende ein Gelenk haben. An manchen Gelenken finden wir zusätzlich kleine Knochen als Sehnenrollkörper oder Sehnenansätze, sogenannte Sesambeine.
Grundkenntnisse der Pferdeanatomie sind auch für Reiter wichtig. Zumindest einige der hier gut sichtbaren Muskeln sollte man kennen. (Foto: Fotolia.de/ogolne)
Die Wirbel schließlich sind mehr oder weniger würfelförmige Gebilde mit diversen Fortsätzen daran. Die nach oben gerichteten Dornfortsätze sowie die seitlich angesetzten Querfortsätze bieten Ansatzstellen für Muskulatur. Die Wirbel des Kreuzbeins sind zu einem einzigen, dadurch sehr stabilen Knochen zusammengewachsen.
Das (Längen-)Wachstum der Knochen findet in bestimmten Bereichen statt, den Wachstumsfugen. Diese schließen sich im Alter zwischen drei und fünf Jahren. Beim jungen Pferd reagieren sie empfindlich auf Belastung, können sich entzünden, bei Unfällen auch abreißen.
Knochen sind lebende Strukturen und unterliegen ständigen Umbauprozessen. Das ausgewachsene Pferd kommt zwar mit dem Mineralstoffgehalt gängiger Fertigfuttermittel aus, kann aber bei mangelnder Bewegung (oder zehrender Krankheit) Knochensubstanz auch wieder abbauen. Die Mineralisierung ist also nicht nur von der Nährstoffzufuhr abhängig, sondern auch von der Bewegung. Das heißt für das Reitpferd, dass regelmäßiges Training auf verschiedenen Böden der Gesunderhaltung des Skeletts dient.
Der Oberarmknochen eines Pferdes. Er gliedert sich in den Schaft und die beiden Gelenkenden. (Foto: Thomas Sachs)
Der sechste Halswirbel eines Pferdes. Die Halswirbel haben noch keine Dornfortsätze, aber diverse Querfortsätze. (Foto: Thomas Sachs)
Das Gleiche gilt für den Bandapparat. Überall da, wo im Körper starke, minimal elastische Haltefunktionen gefragt sind, gibt es Bänder, also an allen Gelenken und an den inneren Organen. Wobei die Stärke der Bänder vorteilhaft, die minimale Elastizität jedoch eher nachteilig ist. Werden diese Bänder stärker beansprucht, als ihre Fasern erlauben, kommt es zur Dehnung oder gar zum Riss. Da Bänder kaum durchblutet sind, heilen sie nach Verletzungen schlecht.
Aber genau wie Knochen sind Bänder keine starren Strukturen, sondern trainierbar. Viel Bewegung auf unterschiedlichen Böden verbessert die minimale Elastizität und stärkt das ganze Band. Umgekehrt lassen schon vier Wochen Boxenruhe Bänder, und übrigens auch Sehnen, im Querschnitt deutlich abnehmen.
Gelenke
In Gelenken treffen zwei oder mehr Knochen aufeinander. Je nach Form und Funktion werden straffe, Scharnier- und Kugelgelenke unterschieden. Das Bewegungsausmaß eines Gelenks wird von der Form der Gelenkfläche, dem zugehörigen Bandapparat und den ansetzenden Muskeln bestimmt. Narbig ausgeheilte Verletzungen und Arthrosen schränken die Beweglichkeit eines Gelenks ebenfalls ein.
Es gibt straffe Gelenke, die von Bindegewebe oder kurzen starken Bändern zusammengehalten werden und kaum oder keinen Knorpel, keine Gelenkhöhle und wenig Beweglichkeit haben. Diese Gelenke finden sich zum Beispiel zwischen den Schädelknochen und am Becken.
Schematische Darstellung eines synovialen Gelenks.
Synoviale Gelenke an der Wirbelsäule und an den Gliedmaßen haben als Scharnier- oder Kugelgelenke eine deutlich größere Beweglichkeit. Die Gelenkflächen der Knochen sind hier zur Stoßdämpfung mit Knorpel überzogen. Diese glatte, harte und gleichzeitig elastische Schicht besitzt keine Nerven und Blutgefäße. Das bedeutet, dass reine Knorpelverletzungen nicht schmerzhaft sind und sehr langsam heilen. Ein stecknadelkopfgroßer Defekt braucht mehrere Monate, um sich zu schließen!
In Ermangelung von Blutgefäßen ist die Ernährung des Knorpels abhängig von der Bewegung des...