Reformation – einige Vorklärungen
Der Begriff »Reformation« stammt aus dem Lateinischen; reformatio bedeutet so viel wie »Umgestaltung«, »Verbesserung«, »Erneuerung«, auch: »Wiederherstellung«. Im Kern geht es also darum, den Zustand einer Sache in dem Sinne und dahingehend zu verändern, dass man Mängel, die man erkannt hat, beseitigt. Eine reformatio kann sich auf sehr unterschiedliche Dinge beziehen; entscheidend ist, dass es sich um etwas handelt, das bereits ›geformt‹ war, also eine bestimmte Gestalt, lateinisch: forma, aufwies, ehe es ›deformiert‹ wurde. Etwas Ungeformtes, Wildes – unberührte Natur, ungestaltete Materie – müsste ›formiert‹ werden, ehe man sie ›reformieren‹ könnte.
In der Vorsilbe »re-« deutet sich der rückwartsgewandte Charakter der reformatio an; in unserer Gegenwart ist dies erklärungsbedürftig, da sich beinahe jede Veränderung, etwa im Bereich der Sozialgesetzgebung oder der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, als ›Reform‹ präsentiert, ohne dass jeweils ein Rückbezug zu einer älteren ›Urgestalt‹ gegeben wäre. Das hängt offenbar damit zusammen, dass alles, was nach ›Reform‹ klingt, bis heute im Ganzen eher positiv besetzt ist und eingängiger wirkt, als wenn man einfach von einer Gesetzesänderung spräche. Wer »Reform« oder »Reformation« sagt, scheint eine zukunftsfähige Veränderung anzustreben, also etwas zu tun, das der ›reformierten‹ Sache eine Perspektive verleiht.
Früher war es selbstverständlich, dass sich – entsprechend der Vorsilbe »re-« – eine reformatio darauf bezog und daran zu messen hatte, wie etwas ursprünglich gewesen war. Dem Begriff wohnte die Vorstellung inne, dass die ›bessere‹ und ›zukunftsgemäßere‹ Gestalt einer Sache immer die früheste gewesen sei. In dem sentimentalen Spruch mancher Senioren »Früher war vieles besser« schwingt noch eine ferne Erinnerung an diese Mentalität nach. Historisch gesehen ist sie erst seit der Epoche der Aufklärung, so um die Mitte des 18. Jahrhunderts herum, aus der Mode gekommen. Erst damals fing man nämlich in der Breite der Gesellschaft an, nicht mehr die vergangene Zeit vor allem des Altertums, also die Antike, für groß und maßstabsetzend zu halten, sondern sich selbst, der eigenen Gegenwart und der hier und heute gestalteten Zukunft mehr zuzutrauen als der Vergangenheit.
In der Geschichte des späten Mittelalters und der frühen Frühneuzeit, also im 15. und 16. Jahrhundert, war die Vorstellung noch selbstverständlich, dass die Alten es besser gemacht hätten, als man selbst es je könnte. Wenn man einen Mangel beseitigen und etwas optimieren wollte, konnte das also nur bedeuten, dass man sich daran orientierte, wie etwas früher einmal gewesen war. Reformatio hieß die Wiederherstellung eines als grundsätzlich besser oder gar ideal vorgestellten ursprünglichen Zustandes. Wer in diesem Sinne auf ›Reformation‹ drängte, hatte das Legitimitätsproblem, das mit Veränderungen in der Regel verbunden ist, immer schon gelöst. Wer alles lässt, wie es ist, muss sich in der Regel nicht rechtfertigen. Wenn man die ursprüngliche Gestalt einer Sache wieder zum Leben erwecken will, braucht man das auch nicht aufwendig zu begründen. Ob und inwiefern freilich das, was ein ›Reformator‹ als die ursprüngliche und alte ›Form‹ ausgibt, tatsächlich alt und ursprünglich ist oder nicht doch eher dem entspricht, was er dafür hält, wird man im Einzelfall zu entscheiden haben.
Im 15. Jahrhundert nahm der Ruf nach einer umfassenden Reformation und das Ringen darum deutlich zu. Das hatte eine Reihe unterschiedlicher Gründe; einige davon hingen mit dem Zustand der Kirche zusammen. »Die Kirche«: das war nicht wie heute eine Institution, mit der man gelegentlich etwas zu tun hat – wenn man es denn will. Die Kirche ging alle an; sie war eine allgegenwärtige, lebensbestimmende Wirklichkeit, die die Menschen von der Taufe bis zum Tod begleitete und die das Zusammenleben stärker als jede andere Macht bestimmte. Sie stellte Bildung und Sozialfürsorge sicher; sie entschied über Heil oder Verdammnis. Jeder Mensch, der in Europa lebte, war selbstverständlich und ohne dass es einer eigenen Entscheidung bedurft hätte, Christ – es sei denn, er gehörte der winzigen Minderheit der Juden an, die seit alters am Rande der Gesellschaft der Christen befristet geduldet und allzeit gefährdet lebte.
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts war die römische Kirche in einer schwerwiegenden Krise, denn sie war in die Anhängerschaft verschiedener Päpste gespalten. Für die römische Tradition war diese Krise gravierend, da sie auf den Papst in Rom als Oberhaupt und Stellvertreter Christi auf Erden konzentriert war. Ihre Autorität und Organisationsstruktur basierte darauf, dass es ein, nur ein sichtbares, irdisches Haupt, eben den Papst, gab. Auch das Kirchenrecht, das überall in der lateinischen, d. h. in der kulturell von der römischen Tradition geprägten Kirche galt, setzte den einen von Kardinälen gewählten und von Beratern umgebenen Papst an der Spitze voraus. In der Krise der gespaltenen Kirche und ihrer einander bekämpfenden Obödienzen, d. h. der Gefolgschaften der unterschiedlichen Päpste, entstand die Idee, durch eine große Kirchenversammlung, ein Konzil, zu einer Lösung zu gelangen. Diese Idee hatte mit re-formatio zu tun, denn große Konzile, die von Kaisern einberufen wurden, hatte es schon in der Antike, seit den Tagen Konstantins, des ersten christlichen Kaisers im frühen 4. Jahrhundert, gegeben. Zwischen 1414 und 1418 trat in Konstanz ein solches Konzil zusammen, auf dem die gesamte lateineuropäische Kirche durch Bischöfe oder theologische Lehrer vertreten war. Es übernahm die Aufgabe einer »Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern«. Fortan stand das Thema Reformation oben an, denn das Konzil legte fest, dass es nun regelmäßig solche großen Kirchenversammlungen geben sollte. Ihre Aufgabe bestand darin, das Papsttum bei der Umsetzung von Reformmaßnahmen zu unterstützen bzw. es zu kontrollieren. Die Reformthemen waren etwa die seelsorgerliche Verantwortung für die Gläubigen, die Vergabe der kirchlichen Stellen, die einheitliche Gestaltung und Verwaltung der sieben Sakramente, die die römische Kirche kannte (Taufe, Beichte, Abendmahl, Priesterweihe, Ehe, Firmung, Letzte Ölung). Im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts setzte das wiedererstarkende Papsttum aber viele Energien ein, um den Einfluss der Konzilien – den man unter dem Begriff des Konziliarismus zusammenfasst – zurückzudrängen.
Die Idee und der Ruf nach einer Reformation der Kirche blieb freilich präsent. Die Kritik an bestimmten Erscheinungen des Kirchenwesens war um 1500 allgegenwärtig. Warum sammelte die Kirche Geld für Kreuzzüge gegen das Osmanische Reich, das nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 immer bedrohlicher auf Europa übergriff, wenn diese ohnehin niemals stattfanden? Warum investierten hohe Vertreter der Geistlichkeit, der Klerus, viel Geld in repräsentative Prachtbauten, anstatt die Armen zu versorgen? Warum lebten die Kleriker nicht tugendhafter und keuscher, wenn sie doch die Vorbilder der Gesellschaft zu sein beanspruchten? Fragen dieser Art führten allerdings nicht dazu, dass die Menschen an der Institution Kirche als solcher irregeworden wären. Im Gegenteil: Zu keiner Zeit wurde so viel für die Kirche gespendet, im Auftrag der Kirche gebaut, geistliches Personal beschäftigt wie in der Zeit um 1500. Man investierte viel an Hoffnungen in und an materiellen Gaben für die Kirche; man erwartete entsprechend viel von ihr und ihren Repräsentanten. Und man orientierte sich in seinem Bild von der Kirche gerne und auch immer intensiver daran, wie sie nach der heiligsten Urkunde der Christenheit, der Bibel, und nach den ältesten Traditionen der christlichen Antike gewesen war.
Der Ruf nach Reformation besaß im frühen 16. Jahrhundert eine ähnliche Qualität wie heute etwa der nach Umweltschutz oder der Appell zu Nachhaltigkeit; als verantwortungsbewusster Zeitgenosse kann man eigentlich nicht dagegen sein. Auch der junge Theologieprofessor Martin Luther in Wittenberg reihte sich in die lange Kette jener ein, die eine Reformation forderten. Allerdings setzte er weniger als die meisten anderen, die nach einer solchen riefen, bei Missständen als bei den diesen zugrundeliegenden religiösen Motiven an. Er formulierte sogar Sätze wie: »Die Kirche bedarf einer Reformation. Doch dies ist nicht die Sache eines einzelnen Papstes, auch nicht vieler Kardinäle … sondern des ganzen Erdkreises, ja im Grunde allein Gottes. Die Zeit dieser Reformation weiß allein der, der die Zeiten geschaffen hat.« Später, so gegen Ende des 16. Jahrhunderts, waren Anhänger Luthers der Überzeugung, dass die Veränderung der Kirche, auf die viele gewartet hatten, mit dem Wirken des Wittenberger Theologen eingetreten sei. Sie meinten auch, dass Gott in und durch Luther gehandelt habe. Deshalb wurde der Begriff der »Reformation«, der zunächst ganz allgemein allerlei Versuche der Verbesserung durch Wiederherstellung einer ursprünglichen Gestalt bezeichnet hatte, nun exklusiv auf dieses historische Phänomen der durch Luther und seine Anhänger herbeigeführten Veränderung der Kirche angewandt. Von seinem Ursprung her ist der historische Epochenbegriff »Reformation« also durchaus nicht...