Kismet Disko
Bitte zusteigen zu einer bonfortionösen Zeitreise? Halt, stopp. So kann man unmöglich anfangen, das ist einfach zu schaffnermäßig. Klingt ja fast so flach wie «Komm mit ins Abenteuerland!». Mit Schaffnerpop hat das folgende «Kismet Disko» jedoch überhaupt nichts zu tun, sondern eher mit dem Gegenteil, mit, wie sagt man doch gleich? Mit «Neuer Musik», radikal, raffiniert und elitär. Ja, auch mit so etwas habe ich mich mal ausgiebig beschäftigt, als sehr junger Mann. In Delmenhorst, also in der Nähe von Bremen, wo ich seinerzeit meinen Zivildienst ableistete, lebte nämlich der Komponist Hans-Joachim Hespos. Dessen Stücke tragen Titel wie «Abutak» für Bajan und Tonband, 1983, oder «t a n», eine «Installation choréographique» für Solokontrabass, 1991. Meine erste Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Hespos war eine WDR-Hörfunkproduktion, nämlich die Uraufführung des Stückes «XINA» in der Kölner Musikhochschule. Nach einer eher «offenen», also von den Interpreten recht frei deutbaren Partitur hantierte auf der Bühne mein Freund Ulrik Spieß geräuschvoll mit Klappstuhl und Strohbesen, die amerikanische Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky spülte dazu an einer Küchenzeile einen Riesenberg schmutziges Geschirr, während ich in ein defektes Sopransaxophon blies und mit den Füßen auf einem Harmophon herumtrat. Diese sehr seltene Miniaturversion eines Harmoniums, dessen elektrisches Gebläse deutlich lauter war als die eigentlichen Töne, hatte ich für 20 Mark auf einem Flohmarkt erstanden.
Experimentelle, progressive, zeitgenössische «ernste» Musik, oder wie immer man sie nennen will, hat mich seit jeher begeistert, und als Schüler habe ich gemeinsam mit meinem Jugendfreund Lars Rudolph sogar mal selber ein aleatorisches Orchesterstück geschrieben. Es hieß «Glückliche De-Kadenzen» und war unser Beitrag zum Kompositionswettbewerb des Oldenburgischen Staatstheaters 1983. Idee: Auf der Bühne steht ein großes Glücksrad, bedient von einem damals in Oldenburg stadtbekannten, stark geschminkten Paradiesvogel. Einmal pro Minute dreht der Freak am Rad, und je nachdem, welche Zahl angezeigt wird, müssen die Musiker des Oldenburgischen Staatsorchesters bestimmte Aufgaben erfüllen, zum Beispiel irgendwas von Brahms rückwärts spielen, die Trompeten unter Wasser halten und reintuten oder die Geigen mit Paketklebeband umwickeln. Diese Performance sollte von der Chaos-Combo KIXX, in der ich damals spielte, per Punkjazz fundamentiert werden. Mit den «Glücklichen De-Kadenzen» gewannen wir prompt den zweiten Platz. Leider blieb das Werk unaufgeführt, weil das Oldenburgische Staatsorchester seine Mitwirkung verweigerte. Die Komposition beinhalte Elemente des «darstellenden Spiels», und hierzu, so argumentierten die Orchestermusiker seinerzeit, seien sie laut Arbeitsvertrag nicht verpflichtet. Schade. Aber dies nur zur Einstimmung.
Wir schreiben den Januar des Jahres 1988. Das renommierte Ensemble 13 unter Leitung von Manfred Reichert wird vom Goethe-Institut auf eine Konzertreise durch die Türkei geschickt. Auf dem Programm: Das Stück «Seiltanz» von Hans-Joachim Hespos. Kurzinhalt: Ein Dutzend Blech- und Holzbläser verquirlt komplexe Klangfarbflöze, grell-eruptive Frequenzrigorismen und virtuoses Nebeneinanderhergehupe, während sich mein Freund Ulrik, ja genau, der mit Klappstuhl und Strohbesen, im Verlauf der Aufführung aus einem geschlossenen Öltank herausschweißt. Diese Entschweißung markiert den zeitlichen Ablauf des Stücks; hat Ulrik sich nach einer runden halben Stunde aus dem Tank befreit, ist der «Seiltanz» vorbei. Schließlich agiert noch ein Schauspieler mit auf der Bühne. Primäre Aufgabe: abstrakte Interaktion mit dem Publikum. Ob, wie und wann er dabei seine Stimme einsetzt, bleibt gänzlich ihm überlassen, und als Requisiten dienen ihm laut Partitur eine Badeente, eine Zahnbürste und ein Lkw-Reifen. Eigentlich sollte wohl ein «richtiger» Schauspieler mit auf die Reise, aber dieser erkrankte kurzfristig – und hopplahopp bin ich im Boot.
Drei Auftritte. Der erste in Izmir, der quietschfidelen Heimat Homers mit Ägäisblick. Die Stadt befindet sich zu dieser Zeit in einem Prozess vollständiger Erneuerung. Überall wird gebaut, geschraubt, gelötet, und jede Straße ist mit metertiefen Schlünden übersät, bei denen man allerdings nicht immer feststellen kann, ob es sich um eine Baugrube oder doch nur um ein kapitales Schlagloch handelt. Auf jeden Fall heißt es: Augen auf beim Flanieren! Ein Schritt zu viel, und Hans Guck-in-die-Luft verschwindet Richtung Erdkern, wie ich höchstselbst bei einem kleinen Abendspaziergang direkt nach meiner Ankunft herausfinden darf. Blaufleckig gehe ich am nächsten Morgen umsichtiger zu Werke und bestaune die Dichte an Heimwerkerläden, in denen es vom Kupferdraht bis zur Betonmischmaschine alles gibt. Auch in der kleinsten Gasse gibt es mindestens fünf derartige Fachgeschäfte, und allen gemeinsam ist die große Auswahl an Schweißgeräten. Scheint so, als würde Ulrik es hier mit fachkundigem Publikum zu tun haben. Sehr gut. Bis zur Stellprobe bleibt noch Zeit für einen Basarbesuch, wie er für Türkeireisende ja sowieso unumgänglich ist; bringen wir’s also hinter uns. Wir: Das bedeutet hier übrigens Ulrik Spieß, Gero Drnek aus Hannover und ich. Gero ist Klarinettist und war lange Zeit Keyboarder bei Fury and the Slaughterhouse. Das Ensemble 13 ist nämlich ein äußerst heterogenes Gebilde, vom Musikbeamten über den Nebenerwerbsrockstar bis zum Müslifundamentalisten ist alles vertreten, abseits der Bühne ist der Zusammenhalt eher mager, und die Grüppchenbildung feiert fröhliche Urständ. Nun denn.
Direkt am Eingang des Basarviertels werden wir von einem türkischen Mittzwanziger abgefangen, der uns in bestem Ruhrplatt eröffnet, er sei aus Wanne-Eickel, habe bei Thyssen malocht und werde uns nun ein erstklassiges Angebot unterbreiten. Während ich darauf hinweise, dass wir eigentlich nur spazieren gehen wollten, packt er mich 1, 2, 3 am Ärmel und zerrt mich aus dem belebten Basargang seitwärts weg in einen Verschlag, der aus über Wäscheleinen gehängten Bettlaken besteht. Zwei weitere germanophone Jünglinge, wahrscheinlich Brüder, haben derweil auch Gero und Ulrik in das Tuchkaree entführt. Ein Dach hat dieses Ladengeschäft nicht, wohl aber Verkaufspersonal: Ein bärtiger Alter, wahrscheinlich der Opa unserer Entführer, sitzt auf einem Melkschemel hinter einer Schublade, die mit Meerschaumpfeifen gefüllt ist. Vergeblich versuche ich mich aus der Ärmelumklammerung des Wanne-Eicklers zu lösen. Auch mein Einwand, ich sei mitnichten Pfeifenraucher, wird von ihm lediglich für eine taktische Maßnahme gehalten, um den Verkaufspreis zu drücken. Und tatsächlich nenne ich Vollidiot irgendwann irgendeine Zahl, ohne auch nur ungefähr zu wissen, wo die türkische Lira in diesen Tagen steht, womit ich dem Affen aus Wanne-Eickel erst recht Zucker gebe. Er verdoppelt umgehend die Verhandlungslautstärke und bietet mir die Meerschaumpfeife zum dreifachen Preis dessen an, was ich soeben zu zahlen bereit sein habe durchblicken lassen. Der nun schmierig schmunzelnde Pfeifenhändler steckt mir das gute Stück in den Mund; ich solle mal dran ziehen und selber feststellen, wie perfekt sich das Rauchwerkzeug zwischen die Kiefer schmiege. Um ihm zu sagen, dass nun aber endgültig Schluss sei und wir dringend zurück zum Hotel müssten, öffne ich den Mund, woraufhin die übrigens potthässliche Pfeife ebendiesem entgleitet und auf den staubigen Boden plumpst. Als dies geschieht, überschlägt sich die Stimme des Kaufmanns: «Du hast wertvolle Pfeife in den Schmutz geworfen, jetzt ist sie kaputt! Entweder du kaufst sie, oder du lässt sie hier – aber dann verlange ich Schadensersatz!»
Verdutzt mustere ich den geschmacklosen Tabaktinnef. Tatsächlich ist das olle Ding ziemlich abgewetzt, aber ich bin sicher, dass hierfür weniger mein Missgeschick verantwortlich ist als das fortgeschrittene Alter des Staubfängers. Wahrscheinlich wurde er schon Hunderten Touristen ins Maul gestopft. Verdammt, wie sind meine Vorgänger aus dieser Nummer herausgekommen? Ulrik und Gero hat es vollends die Sprache verschlagen, und so obliegt es mir, die peinliche Situation zu beenden. Ich fummle einen Batzen türkische Lira-Scheine aus der Hosentasche und überreiche sie meinem Peiniger. Der fischt einen Tausendliraschein heraus, gibt ihn mir zurück, überreicht den großen Rest dem bärtigen Alten hinter der Schublade, bedankt sich aufs freundlichste und schiebt uns aus der Bettlakenkabine. Ende der Transaktion. Dann machen sich Ulrik, Gero und zwei Pfeifen auf den Weg zurück zum Hotel.
Am frühen Nachmittag Abholung zum Auftrittsort. Izmir verfügt über ein hochmodernes Messegelände, jedenfalls nach den Maßstäben der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in der Türkei. Wie überall in der Stadt wird auch an den Messehallen energisch herumgebastelt. Die Bühne in jener Halle, in der am Abend der «Seiltanz» aufgeführt werden soll, ist eine einzige Baustelle, und im Zuschauerraum klafft das obligatorische Schlagloch, Durchmesser drei Meter. Ein vom Goethe-Institut gemieteter Kleinlaster liefert einen Öltank sowie einen Schweißbrenner. Während Bauarbeiter den Öltank auf die Bühne hieven, macht sich Ulrik mit dem Schweißgerät vertraut. Mist, geht nicht. Meinem Freund, der sich immerhin extra für den «Seiltanz» schweißkundig gemacht hat, gelingt es zwar, dem Apparat eine kurze Stichflamme zu entlocken, aber sofort danach ist Schweigen in der Düse. Ulrik probiert nervös alle nur denkbaren Stellschraub-Kombinationen aus, aber ohne Erfolg. Ist der Schweißbrenner etwa defekt? Ein...