In Abschnitt 2.1 werden zunächst die Theorie, Grenzen, spezielle Effekte und Regeln dieser Disziplin dargestellt. Daraufhin folgen Lernaufgaben zur Kinematik, die zunächst mit einem Grundlagenbeispiel beginnen (Abschnitt 2.2.1). In der zweiten Lernaufgabe werden Prinzipskizzen und Kinematik genutzt, um die frühe Konstruktionsphase zu unterstützen (Abschnitt 2.2.2). In der dritten Aufgabe werden Kollisionen behandelt und das Zusammensetzen verschiedener Unterkinematiken (Abschnitt 2.2.3). Die vierte Lernaufgabe behandelt dynamische Sachverhalte sowie die Simulation von Kontakt (Abschnitt 2.3.1), und die letzte Aufgabe behandelt die Kopplung von NX/Simcenter Motion mit MATLAB® Simulink® zur sogenannten Co-Simulation (Abschnitt 2.4.1).
2.1 | Einführung und Theorie |
Einsatzszenarien und Nutzen für NX/Simcenter Motion in der Praxis
NX/Simcenter Motion bietet dem Konstrukteur die Möglichkeit, Bewegungen seiner bis dahin statisch konstruierten Maschine zu kontrollieren. Dadurch kann ein besseres Verständnis für die Maschine erlangt werden und es kann kontrolliert werden, ob es zu Kollisionen der bewegten Teile kommt. Außerdem kann nachgesehen werden, ob die Maschine die gewünschte Bewegung überhaupt ausführen bzw. gewisse Positionen erreichen kann. Häufig ist es Aufgabe, die geometrischen Abmessungen geeignet einzustellen. Dabei ist die Nutzung der CAD-Parametrik oft ein wichtiges Hilfsmittel, um Varianten zu erstellen.
Aber auch und gerade in der frühen Phase der Konstruktion, wenn erst grobe Designentwürfe vorliegen, ist der Einsatz kinematischer Analysen sinnvoll. Mithilfe von NX/Simcenter Motion können Prinzipskizzen oder einfache Kurven bewegt und deren Maße optimiert werden. So werden aus den Prinzipskizzen der frühen Konstruktionsphase bewegungskontrollierte Steuerskizzen. Im weiteren Verlauf der Konstruktion kann die Kinematik immer wieder zur Absicherung der bis dahin fertiggestellten Maschine genutzt werden.
Masseneigenschaften der Bauteile erweitern das Gebiet in die Dynamik hinein.
Sobald der CAD-Geometrie Masseeigenschaften zugeordnet sind, können Bewegungsanalysen auch zu dynamischen Analysen ausgeweitet werden. Dabei können Lagerkräfte, Geschwindigkeiten und Beschleunigungen ermittelt werden. Motion-Analysen sind daher auch oftmals Vorbereitungen für FEM-Analysen, weil dort Lagerkräfte als Randbedingungen eingehen. Anhand der Ergebnisse (Kräfte und Wege) können auch Federn, Dämpfer, Zusatzmassen, Schwingungstilger, Lager (Tragfähigkeit) etc. aus Zulieferkatalogen ausgewählt werden.
Anwender von NX/Simcenter Motion sollten Erfahrung in der Modellierung von Einzelteilen und Baugruppen mit dem NX-System mitbringen. Dies ist erforderlich, weil die Beispiele dieses Kapitels nicht nur auf fertigen Baugruppen aufsetzen, sondern teilweise auch in die Konstruktionsmethodik eingreifen. Sonst sind jedoch keine Vorkenntnisse erforderlich.
Unterteilung der technischen Simulation in vier Teile
NX/Simcenter Motion deckt den Teil der Mechanik ab, der sich mit starren Körpern beschäftigt. In der Regel handelt es sich um mehrere starre Körper, die über Gelenke miteinander verbunden sind. Solche Problemstellungen tauchen z. B. bei Fahrwerken von Kraftfahrzeugen auf. Die Software zur Berechnung solcher Aufgabenstellungen wird mit dem Begriff MKS-Programm bezeichnet. MKS bedeutet dabei Mehrkörpersimulation (Bild 2.1).
Bild 2.1 Die verschiedenen Disziplinen der gängigen technischen Simulation
Der Anwender definiert auf Basis des CAD-Modells Bewegungskörper, Gelenke, Antriebe und evtl. außen angreifende Kräfte oder Zwangsbedingungen. Auch Federn und Dämpfer können eine Rolle spielen (Bild 2.2).
Bild 2.2 Prozessschritte bei der MKS-Analyse
Für die Bewegungskörper wird meist CAD-Geometrie (Einzelteile und Baugruppen) genutzt. Das CAD-System mit seinen mächtigen Möglichkeiten kann aber auch für die Definition von beispielsweise Kurvenscheiben oder sonstigen Steuergesetzen genutzt werden.
Es lässt sich schwer sagen, wie die MKS-Methode im allgemeinen Fall funktioniert, weil die verschiedenen Solver (Simcenter Motion, RecurDyn, ADAMS) durchaus unterschiedlich arbeiten. Für ADAMS finden Sie in [adams1] aufschlussreiche Erklärungen, an die wir uns anlehnen. Für RecurDyn finden Sie in [recurdyn1] weiterführende Informationen und für Simcenter Motion finden Sie in der NX-Online-Hilfe eine Dokumentation. Für unsere nachfolgenden Beispiele verwenden wir den Simcenter Motion Solver und für das Co-Simulationsbeispiel den RecurDyn Solver.
Programmintern werden die Bewegungskörper, Gelenke und Antriebe in ein mathematisches Differentialgleichungssystem überführt, das aufgelöst wird, und woraus sich die gesuchten Größen ergeben (Bild 2.3). Als Ergebnis erhält der Anwender die Wege, Geschwindigkeiten und Beschleunigungen der Bewegungskörper und Gelenke sowie Reaktionskräfte an den Gelenken.
Jeder definierte Bewegungskörper wird dafür freigeschnitten. Es werden sechs dynamische Gleichungen (Beziehungen der Kräfte zu den Beschleunigungen) und sechs kinematische Gleichungen (Beziehung der Positionen zu den Geschwindigkeiten) in den Translations- und Rotationsrichtungen aufgestellt. Alle Gleichungen werden in ein Gleichungssystem zusammengefügt.
Die Zahl der Unbekannten wird nun durch Einarbeiten von Constraints verringert. Jedes Gelenk, das die Bewegungsmöglichkeit zweier Körper restringiert, kann in Form von zusätzlichen Gleichungen im Gleichungssystem ausgedrückt werden. Zum Beispiel führt ein Drehgelenk zwischen zwei Bewegungskörpern zu einer Reduktion von fünf Unbekannten im Gesamtsystem, weil nur noch ein Drehfreiheitsgrad übrig bleibt, wo vorher sechs waren.
Bild 2.3 Ein Differentialgleichungssystem wird aufgestellt.
Antriebe und Constraints verringern die Zahl der Unbekannten.
Motion-Antriebe, die den Weg, die Geschwindigkeit oder Beschleunigung vorgeben, führen ebenfalls zur Reduktion von Unbekannten. Ein Drehantrieb, der eine Geschwindigkeit von 360 Grad/sec erzwingt, verringert die Zahl der Unbekannten z. B. um eins. Kräfte und Momente hingegen, die auf das Motion-Modell wirken, bringen keine zusätzlichen Unbekannten in das System ein und reduzieren auch keine.
Auf diese Weise reduzieren sich die Unbekannten entweder auf null (dann kann das Gleichungssystem direkt aufgelöst werden) oder auf eine Zahl größer null. Im zweiten Fall lässt sich das System lösen, indem Anfangsbedingungen eingearbeitet und die Gleichungen nach der Zeit integriert werden. Im Fall von null Freiheitsgraden wird von einem kinematischen, ansonsten von einem dynamischen System gesprochen.
Manche Gelenktypen bringen Nichtlinearität in das Gleichungssystem.
Es soll noch darauf hingewiesen werden, dass das entstehende Gleichungssystem entweder linear oder auch nichtlinear sein wird ‒ je nachdem, welche Zusammenhänge von den Gelenktypen in das System eingebracht werden. Während sich einfache Gelenktypen wie Dreh-, Schiebe- oder Kugelgelenke linear verhalten, bringen komplexere Gelenke wie Punkt auf Kurve nichtlineare Gleichungen ein. Für die Lösung des MKS-Gleichungssystems sind daher keine linearen Gleichungslöser anzuwenden, wie sie bei FEM-Systemen in der Regel zum Einsatz kommen, sondern solche mit Fähigkeiten zur Reduktion der Ordnung.
Nach der Lösung des Gleichungssystems stehen also folgende Größen für das Postprozessing zur Verfügung:
Translationsgeschwindigkeiten
Rotationsgeschwindigkeiten
Schwerpunktkoordinaten
Orientierungswinkel zur Beschreibung der Raumlage
aufgebrachte, äußere Kräfte
Gelenk- bzw. Constraintkräfte
Beschränkung bei MKS-Systemen und Abgrenzung zu FEM
Eine ganz grundlegende Eigenschaft und Einschränkung ist bei MKS durch die Starrheit der betrachteten Körper gegeben. Ein Bewegungskörper kann im Raum bewegt, aber nicht deformiert werden. Reale Körper werden bei MKS auf ihre Massen, Trägheitseigenschaften und geometrischen Abmessungen reduziert, ihre Verformungseigenschaft wird jedoch vernachlässigt. Dies ist der grundsätzliche Unterschied zur Strukturmechanik, bei der mithilfe der Finite-Elemente-Methode flexible Körper, also Deformationen und Beanspruchungen betrachtet werden. Nachteil der FEM gegenüber der MKS ist jedoch, dass mit linearer FEM keine Bewegungen, sondern nur kleine Deformationen möglich...