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E-Book

Spuren

Bruchstücke und Episoden aus meinem Leben

AutorHans-Jürgen Brandt
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783746027517
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Hans-Jürgen Brandt wurde 1931 in Zerbst (Anhalt) geboren und blickt auf ein abwechslungsreiches Leben zurück. Seine Schulzeit ist geprägt vom Weltkrieg und seinen Folgen, und er erlebt das DDR-Regime während seines Studiums und der Tätigkeit als Filmregisseur bei der DEFA. Ein Jahr nach dem Mauerbau flieht er in den Westen, wo er schließlich Professor für Medienwissenschaften wird. Der Autor beschreibt Episoden aus seinem Leben in Ost und West anschaulich und mit Freude am humoristischen Detail.

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Leseprobe

Ostzone und DDR (1945–1962)


6. Die Igelit-Story (Dessau, 1949: Café und Kunststoff)


Zu den erträumten Igelitschuhen bin ich nie gekommen, was wegen des gefährlichen Weichmachers auch gut war – aber immerhin reichte es für einen wunderbaren Igelitmantel. Vielleicht habe ich ihn auf der Textilkarte mit der entsprechenden Punktezahl erworben, jedenfalls empfand ich ihn als ein Prachtstück. Ganz modern geschnitten wie ein Kleppermantel, heute würde man sagen wie ein Trenchcoat, mit richtigen Knöpfen! Also nicht aus Holz, sondern aus glattem Kunststoff, in dezenter dunkelbrauner Farbe. Das bedeutete für mich endlich, wetterfest mit dem heimlich ausgeborgten dunkelblauen Anzug meines Vaters, der mir wunderbar passte, zum Schwoofen zu gehen.

Wo immer Musik ertönte, Tanzmusik, stürzte ich hinein. Nun gab es in dem zerbombten Dessau nur noch wenige Räume, in denen solche Vergnügungen möglich waren, so etwa Antons Gaststätte, den Festsaal in der Gärungschemie und das Café im Neuen Theater, später auch den Saal im Kristallpalast (Krawallpalast genannt). Der weiter vorhandene Krötenhof in Waldersee oder das Kornhaus lagen ein wenig zu sehr außerhalb, da ich diese Vergnügungsstätten alle zu Fuß aufsuchen musste. Antons Gaststätte war das einzige unmittelbar nach dem Krieg wieder aufgebaute Gasthaus. Als Kommunist und vielleicht auch Antifaschist hatte er von den Behörden das notwendige Baumaterial bekommen und auch Nahrungsmittel für den Restaurantbetrieb. Es gab also dort Essen ohne Marken und dufte Musik. Was meinen Drang, dort schwoofen zu gehen, enorm förderte. Leider fand ich als Sohn eines überzeugten Sozialdemokraten mit entsprechender eigener Einstellung dort nur begrenzten Zugang.

Anders verhielt es sich mit dem NT-Café (Neues Theater-Café). Hier konnte jeder rein. Das Problem bestand nur im notwendigen Eintrittsgeld. Aber dafür gab es eine einfache Lösung: Das Fenster zum WC, das herrlich einfach zur Außenseite neben dem Eingang lag. Von Freunden freundlich innen geöffnet, bot es für minderbemittelte, aber leidlich sportliche Schüler einen bequemen Eingang. Schwierig war nur, wenn man in einer Pause mal an die frische Luft wollte. Dann brauchte man dafür die notwendige Eintrittskarte, die aber wiederum durch zahlungsfähige Freunde ausgeborgt wurde. Zur warmen Jahreszeit bedeutete der Seiteneinstieg zum Schwoof im NT-Café kein Problem. Anders wurde es bei kühlerem oder nassem Wetter, jetzt mit dem neuen Igelit-Regenmantel. Der Weichmacher verlor nämlich bei niedrigen Temperaturen seine Wirkung. Der elegante DDR-Mantel wurde stocksteif, ja, er verwandelte sich in eine Art Tonne. Ich hätte schließlich wissen müssen oder zumindest ahnen können, dass dieser Kunststoff [PVC] ohne Weichmacher nicht kältebeständig war. Schließlich kam ich oft genug auf dem Weg zum Hauptbahnhof am stehen gebliebenen Eichamt vorbei, das man neu verputzt hatte. Natürlich brachte man neue Dachrinnen aus Igelit an. Zink als Buntmetall war Mangelware. Die Igelit-Dachrinnen hielten keinen Winter, dann waren sie durch die Kälte und wahrscheinlich auch durch die Nässe völlig zersprungen. Auch der Versuch, es mit Regenrinnen aus Glas zu probieren, scheiterte. Zwar sangen wir damals noch immer „Igelit, Igelit – ja, da kommt kein Gummi mit. Igelit, Igelit, du bist wunderbar (nach der schönen Melodie „Tampico, Tampico, schönste Stadt in Mexiko …“).

All das half nun aber für einen freien Eintritt nicht weiter. Die sperrige Hülle, diese Regentonne, bremste meinen Drang zum Schwoofen. Jedenfalls konnte ich mit diesem Ding am Körper nicht einsteigen. Die steife Kunststoffhülle musste behutsam abgestreift werden. Es grenzte an einen mittleren Akrobatikakt, wenn man sich vorsichtig, um die empfindliche Regenhülle nicht zu zerbrechen, aus ihr heraus wand. Ob ich den steifen Regenmantel vorher durch das Fenster schob und danach einstieg oder umgekehrt, weiß ich nicht mehr. Vielleicht hatten auch mitleidende Seelen, die gerade draußen standen, meine Freunde alarmiert oder gar selbst das monstrum horribele dictu irgendwie mit hinein genommen. Jedenfalls war der elegante Schönwettermantel im Winter abgemeldet. Ich bin wohl leicht frierend, nur vom Regenschirm meines Vaters begleitet, bei Wind und Wetter ohne Hülle losgezogen.

Als meine Lebensgefährtin Marie-Len und ich uns während unseres vorletzten Klassentreffens in Dessau „Shakespeares sämtliche Werke an einem Abend“ im Landestheater ansahen, sind wir natürlich auch in das alte NT-Café gegangen. Räumlich war noch alles wie damals. Ich zeigte ihr mein altes Einstiegfenster und erklärte ihr, wie leicht man damals von draußen durch das Herrentoilettenfenster ins Cafe hineinkam. Woran damals nicht zu denken war: Es gibt hier heute eine große Auswahl an Speisen und Getränken. Allerdings Speisen und Getränke sind scharf von einander getrennt, jeweils auch mit einer eigenen Kasse. Das bedeutet, in der Pause zweimal anstehen. Warum soll man alte Traditionen brechen. Eins aber fehlt heute: die Tanzmusik. Und nun muss ein bei Hertha Wiegleb im Gesellschaftstanz ausgebildeter ehemaliger Oberschüler wieder die Gaststätte (Diskothek wäre wohl unpassend) in Dessau suchen und finden, wo er richtig „schwoofen“ kann. Das Restaurant Tirana, wo das Festmahl zum fünfzigjährigen Abiturjubiläum stattfand und in dem danach auch getanzt werden durfte, war dafür nur ein schwacher Ersatz, allenfalls eine Auftaktstätte, eben die Ouvertüre.

7. Topinambur und Dreipfünder (1949: Hungern für den Lehrer)


Mäxchen Miller war ein Genie. Der Klassen- und Mathematiklehrer in der zehnten und elften Klasse besaß unseren ganzen Respekt (Abb. S. und ). Vielleicht bewunderten die schon damals auffällig werdenden Rabauken das stupende Wissen dieses Nichtlehrers und seine große Menschlichkeit. Der Bayer war die verkörperte Gutmütigkeit. Ich weiß heute noch nicht, wieso ich bei ihm in Mathematik in der Zehnten eine Drei und in der Elften im zweiten Halbjahr gar eine Zwei erhielt. Vor einer Vier oder einer Fünf scheute er einfach zurück. Vielleicht hatte das aber die Hilfe von Dieter Stolzenhain und Jochen Stahlberg mitbewirkt. (Immer diese Aufregung bei den Klassenarbeiten, bei denen man so lange auf das richtige Ergebnis warten musste, und dann sollte auch noch der Rechenvorgang stimmig eingebracht werden.)

Sein Wissen zeigte sich besonders bei den Gesprächen im Schullandheim in der Pfeffermühle, wo wir ihm menschlich sehr nahe kamen. Ich erinnere mich noch genau, wie wir uns bei einem Spaziergang entlang einem Feld über eine seltsame Pflanze wunderten, die wir nicht kannten. Dr. Miller sagte nur, das sei Topinambur. – „Topinambur?“ Er erklärte uns die amerikanische Herkunft dieser Rosskartoffel oder Erdbirne sehr genau und wie man sie verwende. Die hell- oder rotschaligen Knollen könne man als Gemüse essen, das Kraut aber sei ein gutes Viehfutter. Als wir ihn fragten, woher er das so präzise wüsste, meinte er nur, dass er in der Agrarwissenschaft auch wissenschaftlich gearbeitet habe. Mein Gott, noch ein Doktortitel mehr. Es war nicht zu fassen.

Alles, was mit Essen zusammenhing, war uns damals wichtig. Kein Wunder, denn in dieser Zeit gab es sehr wenig und wenn, dann auf Marken. Aber ich glaube, wir haben keine Topinambur von den Feldern probiert, obwohl wir in diesen Tagen vor nichts zurückgeschreckt sind. Schließlich hatten wir ja noch unsere aufgesparten Dreipfünderbrote mit.

Und da beginnt die eigentliche Geschichte:

Auf Befehl der sowjetischen Militäradministration erhielten alle Schüler in der damaligen Ostzone pro Tag ein Roggenbrötchen. Der Befehl Nr. 205 der SMA bedeutete eine kleine markenfreie Zusatzkost für alle schulpflichtigen Kinder. Man kann sich kaum noch vorstellen, was es bedeutete, diese Brötchen in Wäschekörben vom Zuckerbäcker abholen zu dürfen, denn da bekam man sogar für das Tragen zwei. Nun hungerte die Klasse ohne wenn und aber, eisern diszipliniert im Kollektiv. Und sie hungerte über die vierzehn Tage hinaus, ein Dreipfünder mehr musste es sein, ein Dreipfünder für den so geschätzten, ja, verehrten Max Miller. Denn mit ihm wollten wir ins Schullandheim fahren, dort wollten wir richtig mampfen, zumindest mehr als damals zu Hause, und Mäxchen sollte nicht zuschauen müssen, wie wir spachteln.

Es gab für diese Idee keinen Inspirator. Wir alle hatten den gleichen Gedanken. Vierzehn Tage hungern nur für uns? Ein paar Tage mehr, dann reicht es auch für Mäxchen. Wie dieser bescheidene Mann sich genierte, als wir ihm in der Pfeffermühle unser Präsent überreichten. Er nahm das Geschenk, zögerlich, und wir fühlten uns gut, waren glücklich. Eine Rabaukentruppe ohne gleichen zeigte sich solidarisch, menschlich, anständig.

8....


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