Ein Monster, das ich schuf?
Ich stehe mit Herzklopfen vor Alex’ Wohnungstür, durch die er mich gestern noch rasend vor Wut nach draußen geschubst hat. Es ist ein strahlender Herbsttag. Die Luft ist gefüllt von den Verheißungen eines neuen, aufregenden Lebensabschnitts. Wenngleich die letzten Tage und Wochen die Aussicht auf ein unbeschwertes Zusammenleben getrübt haben und die warnende Stimme in meinem Kopf immer lauter geworden ist – sobald Alex vor mir steht und mich mit seinem unwiderstehlichen Lächeln anstrahlt, kann ich sie nicht mehr ernst nehmen. „Ich liebe diesen Mann einfach!“, schreit mein Herz der Stimme der Vernunft auch jetzt wieder entgegen, als er mir die Tür öffnet, und nimmt ihr damit jedes Argument. Wir gehören einfach zusammen. Das ist längst entschieden. Deshalb braucht es auch nicht viele Worte von ihm, bis klar ist: Ich ziehe wieder bei ihm ein.
So begann beides für mich: ein für kurze Augenblicke tatsächlich unbeschwertes Studentenleben und die Hölle auf Erden.
Dass ich nun zur Uni ging und dort auf jede Menge neuer Leute traf, trug natürlich nicht gerade dazu dabei, dass sich die Situation zwischen Alex und mir entspannte. Schon vom ersten Tag an begann er, mich regelrecht zu verhören, wenn ich nach Hause kam. Er steigerte sich täglich mehr in den Gedanken hinein, dass ich sicherlich schon einen netten Kommilitonen kennengelernt hatte, mit dem ich fremdging.
Alex hatte auch den ganzen Tag Zeit, um sich in seine abstrusen Betrugsfantasien hineinzusteigern, denn seinen Job als Pizzalieferant war er aufgrund seiner Unzuverlässigkeit inzwischen schon wieder losgeworden. Nun beschloss er, wieder mit Drogendealen sein Geld zu verdienen. So tat er den ganzen Tag nichts anderes, als Computer zu spielen, Gras zu rauchen, ab und an zu einer Übergabe zu fahren und sich ansonsten detailreich auszumalen, wie ich ihn wohl gerade betrog.
„Du hast gesagt, du verheimlichst mir nichts. Dann kannst du mir ja auch dein Handy geben“, sagte er, als ich an einem meiner ersten Uni-Tage nach Hause kam. Ich hatte ihm nichts zu verheimlichen, also gab ich es ihm. Er schaute alle Nachrichten durch, dann las er eine laut vor: „Hallo, mein Schatz. Ich wünsche dir eine tolle Zeit im Kloster. Ich freue mich schon auf dich!“ Sie war von Jenny, auf deren Geburtstag wir kurz nach meinem Klosterbesuch eingeladen gewesen waren. Sie nannte mich immer „Schatz“. Wutentbrannt warf er das Handy auf den Boden und trat darauf herum, bis es wirklich nicht mehr zu retten war. Danach nahm er sich meine anderen „Kommunikationswege“ vor. Als Erstes löschte er meinen Account bei StudiVZ, dann knackte er mein E-Mail-Konto und ersetzte das Passwort durch ein neues.
Ab diesem Zeitpunkt bekam ich keine Nachricht mehr, die er nicht zuvor geprüft hatte. Natürlich gefiel mir das nicht. Natürlich wusste ich, dass das nicht mehr normal war. Und natürlich war mir klar, dass diese Form von Kontrolle nichts in einer Beziehung zu suchen hatte. Auch dass er mich bei seinen Verhören nun schon ein paar Mal grob angepackt und geschüttelt hatte, gefiel mir ganz und gar nicht. Aber zum einen war es Alex schon zu diesem Zeitpunkt gelungen, meine Schuldgefühle derart heranzuzüchten, dass ich mich zunehmend verantwortlich für die ganze Situation fühlte, und zum anderen hielt ich noch immer an der Hoffnung fest, dass alles wieder gut werden würde, wenn er nichts Misstrauenerweckendes fand.
Es war die kranke Hoffnung auf ein Zurück in eine himmlische Zeit, die womöglich nur in meiner damals schon verklärten Erinnerung existierte.
Nur wenige Tage nachdem wir zusammengezogen waren, wurde die Hoffnung auf dieses Zurück jedoch mit einem Schlag zerstört.
„Sag’ mir endlich die Wahrheit, du verlogene Schlampe! Hast du in der Uni schon mit einem anderen geflirtet? Lüg mich jetzt bloß nicht an! Ich warne dich!“, schreit Alex mich immer wieder an. Seine Augen sind weit aufgerissen und eiskalt. Etwas Unberechenbares flackert in ihnen auf. So böse habe ich sie noch nie gesehen. Alles in mir zieht sich zusammen. Ich bekomme zum ersten Mal wirklich Angst in seiner Nähe – nicht nur davor, dass er mich gleich verlassen könnte. Ich bekomme Angst vor ihm! Ich erstarre und verstumme.
Zuerst packt er mich nur fest an den Schultern, drückt mich gegen die Wand und schüttelt mich. „Antworte mir! Hast du mit jemanden geflirtet?“, faucht er immer wieder. „Nein“, presse ich hervor. „Lüg mich nicht an, hab ich gesagt!“, schreit er erneut. Plötzlich schlägt er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann noch mal. Und noch mal. Immer fester. Irgendwann ballt er seine Hand zur Faust. Ich weiß nicht, was hier gerade passiert. Aus Reflex lasse ich mich auf den Boden sacken, kauere mich zusammen und versuche, in Deckung zu gehen.
Irgendwann lässt er wieder von mir ab, klagt mich jedoch weiter an: „Du hast dieses Monster aus mir gemacht! Du allein! Das gerade wäre niemals passiert, wenn du immer ehrlich zu mir gewesen wärst und mein Vertrauen nicht zerstört hättest!“ Dann hält er kurz inne und sagt, nun plötzlich wieder ruhiger: „Verstehst du denn nicht, dass ich zu so etwas nur fähig bin, weil ich dich so unendlich liebe?“
In meinem dröhnenden Kopf überschlagen sich die Gedanken: Vielleicht habe ich es ja verdient, so behandelt zu werden. Vielleicht bin ich wirklich nur eine „verlogene Schlampe“. Vielleicht liebt er mich tatsächlich mehr als ich ihn – wenn ich ihn so zum Ausrasten bringen kann.
Meine Angststarre löst sich. Ich fange an zu weinen und kann nicht mehr aufhören. Endlich scheint auch Alex zu realisieren, was er da gerade getan hat, und bricht ebenfalls in Tränen aus – scheinbar schockiert über sich selbst: „Was habe ich nur getan!? Was habe ich nur getan!?“, sagt er immer wieder. „Es tut mir so unendlich leid, mein Schatz. Ich verspreche dir, so etwas passiert nie wieder! Bitte vergib mir und geh jetzt nicht. Es tut mir so unfassbar leid … Ich liebe dich doch!“
Noch während er das sagt, läuft im Radio plötzlich das Lied „Wo willst du hin“ von Xavier Naidoo – als hätte Alex es für uns bestellt. Wir sehen uns tief in die verweinten Augen, dann hält er mich fest in seinen Armen, die mir eben noch solche Schmerzen zugefügt haben, und ich treffe die größte Fehlentscheidung meines Lebens: die Entscheidung, „nicht fortzugehen“.
Heute weiß ich, dass keine Schuld der Welt Alex’ Verhalten ge-
rechtfertigt hätte. Selbst wenn ich ihn tatsächlich betrogen, ihn immer wieder dreist belogen und weniger geliebt hätte – gar nichts rechtfertigt Gewalt in einer Partnerschaft beziehungsweise Gewalt an sich. Ja, wir können „schuld“ an etwas sein. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass es kein Mensch schafft, mit einem anderen Menschen an seiner Seite durchs Leben zu gehen, ohne in irgendeiner Weise schuldig an ihm zu werden. Und ja, manche Fehler haben Konsequenzen und führen schlimmstenfalls sogar zur Trennung. Aber sie dürfen niemals mit Gewalt bestraft werden. Denn niemand, wirklich niemand hat so eine Behandlung verdient!
Damals zog ich es dennoch ernsthaft in Erwägung, dass Alex’ Verhalten irgendwie gerechtfertigt war. Ich hatte ihm in den ersten Monaten unserer Beziehung meine Seele auf dem Silbertablett serviert. Er kannte meine wunden Punkte wie kein anderer und konnte deshalb genau in die richtige Kerbe schlagen – bis ich mich wirklich schuldig fühlte und glaubte, das alles verdient zu haben. Eine Tatsache, die Außenstehende sicherlich am meisten schockiert.
Schockierend ist auch, dass sich meine Gefühle für diesen Mann offensichtlich einfach nicht „totschlagen“ ließen. Einige Monate später wird mir meine Therapeutin sagen: „Wenn man nach dem ersten Schlag nicht geht, wird man es auch nicht nach dem zweiten oder dritten tun.“ Und das ist die traurige Wahrheit. Es ist beängstigend, wie sich die eigenen Toleranzgrenzen immer weiter nach hinten verschieben, wenn dieser entscheidende Punkt erst einmal überschritten ist.
Hinzu kommt der irrwitzige Glaube, dass es tatsächlich bei diesem einen Mal bleiben wird und dass danach alles wieder so werden kann wie am Anfang. Doch das ist unmöglich. Es gibt kein Zurück in die Zeit vor dem Moment, in dem durch tiefste Demütigungen jeder Respekt vor dem anderen zerstört worden ist – und erst recht nicht, wenn man das erste Mal Angst vor seinem Partner hatte. Denn das Auftreten von Angst ist das sicherste Anzeichen dafür, dass keine wahre Liebe mehr im Spiel ist. Das steht schon in der Bibel: „Wirkliche Liebe ist frei von Angst […]“ (1. Johannes 4,18).
Tragischerweise hielt ich damals an der Überzeugung fest, dass das zwischen Alex und mir trotzdem Liebe war. Eine tiefe Seelenliebe, die mir kein anderer Mann in dieser Form jemals wieder würde geben können. „Du wirst dich ein Leben nach jemandem wie mir zurücksehnen, aber keinen mehr finden, der dir das geben kann, was ich dir gebe.“ Das hatte er mir in den Tagen und Wochen vor dem ersten Schlag schließlich oft genug eingeredet. So wurde aus dem anfänglichen „Was soll uns schon passieren?“ ein bedrohliches „Was soll uns noch passieren – damit ich endlich loslassen und gehen kann?“
Ich kann mich gar nicht mehr an den Moment erinnern, in dem er sein Versprechen wieder brach und es zum zweiten Mal „passierte“. Ich weiß nur, dass es nicht lange dauerte – und dass ich auch nach diesem zweiten Mal geblieben bin. Und nach dem dritten. Und dem...