Einleitung
Susan: „Hilfe, hat jemand Erfahrung mit dem Thema ‚Sterbefasten‘? Meine Mama ist fest entschlossen, ab Montag mit dem Essen und Trinken aufzuhören. Weiß jemand etwas über dieses Thema oder hat sogar schon einmal jemanden dabei begleitet?“
Christiane zur Nieden: „Liebe Susan, ich habe das Buch ‚Sterbefasten‘ geschrieben, da meine Mutter mit 88 Jahren auch diesen Schritt gegangen ist, nichts mehr zu essen und zu trinken. Die 13 Tage, die unsere Familie sie im Sterben begleitet hat, waren ganz berührend und wertvoll für uns alle. Kennst Du das Buch? Ich schreibe dort viele Dinge, die Dir eventuell die Pflege erleichtern würden.
Ruf doch einfach mal an, vielleicht kann ich Dir ja schon etwas die Angst nehmen, es nicht schaffen zu können.
Liebe Grüße
Christiane zur Nieden“
Susan: „Ich weine aus Dankbarkeit über Deine Antwort auf meine Anfrage! Natürlich habe ich Dein Buch gelesen. Und meine Mama hat es richtig durchgearbeitet, mit Post-its und Markern. Dank Deines Buches kennen wir erst diesen Weg. Vorher hat meine Mama viele Möglichkeiten überlegt, die alle nicht sicher oder schmerzhaft oder verboten sind. Sie ist zuversichtlich, dass dies ihr Weg ist und dass sie es schafft. Die Ängste habe alle nur ich. Ich stehe voll hinter ihr, vermisse aber ärztliche Unterstützung und habe Angst, dass Zustände auftreten, denen ich nicht gewachsen bin. Wir wohnen in Mecklenburg, leider sehr weit weg von Euch. Ich rufe gern an! Sag Du bitte, wann es Dir passt.“
Dieser Dialog fand am Samstag, den 20. Januar 2018 statt und war die Kontaktaufnahme mit Susan in einem „Sterbebegleitungs-Forum“ in den sozialen Medien. Daraus entwickelte sich ein intensiver täglicher Austausch, der bis heute zu einer herzlichen Freundschaft geworden ist. Zwei Wochen lang waren mein Mann und ich telefonisch und per SMS eng an der Seite von Tochter Susan, die liebevoll ihre Mutter Edith, die fest zum Sterben entschlossen war, begleitete. Gerne erinnern wir uns auch noch an ein Telefonat, dass wir am vierten Tag des Sterbefastens mit Edith persönlich führen konnten, in dem sie sich bei uns herzlich für die Begleitung ihrer Tochter bedankt. Ebenso erlaubte sie uns, die Aufzeichnungen ihrer Tochter wie auch die kleinen Videosequenzen für unsere Arbeit nutzen zu dürfen, damit mehr Menschen über diese Möglichkeit des Sterbefastens aufgeklärt würden.
Wir werden in diesem Buch darüber hinaus Fälle vorstellen, in denen Familienangehörige und andere Zugehörige Sterbefastende begleitet haben. Das Spektrum reicht von der Begleitung durch einzelne Angehörige, z. B. der Ehefrau, bis hin zur Begleitung durch eine Großfamilie.
Bei all diesen Begleitungen haben sich die Angehörigen per Mail oder per Telefon an uns gewandt, meist mit der Bitte um praktische Hinweise. Diese Begleitungen fanden fast alle zu Hause statt. Jedoch gehen wir auch auf unsere Erfahrungen mit Begleitungen in Pflegeheimen und Hospizen ein. Einen kleinen Teil unserer Berichte verwenden wir auf Fälle, in denen Sterbefasten nicht ausgeführt bzw. abgebrochen wurde oder erst für die Zukunft angedacht ist.
Seit dem Erscheinen unseres Buches „Sterbefasten“ (2016) haben uns viele Menschen kontaktiert. Es kommen Dankesbriefe für die offene und einfühlsame Beschreibung des Für und Wider dieses selbstbestimmten Sterbens unserer Mutter. Als Kritikpunkt an unserem Buch wird die „zu ideale Konstellation: Schwiegersohn Palliativmediziner und Tochter Sterbebegleiterin“ angebracht. So kamen wir durch die häufigen Anrufe von Angehörigen Sterbefastender, Sterbefastenwilliger oder Sterbefastender selbst auf die Idee, auch diese Fälle der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, damit erkennbar wird, dass es nicht notwendig ist, einen medizinisch versierten Begleiter an der Seite zu haben, um diesen Sterbeprozess gut durchführen oder begleiten zu können.
Der Sterbeprozess des Sterbefastens ähnelt im Verlauf dem physiologischen Sterben. Es ist ein natürlicher Vorgang, bei dem eine biologische Kettenreaktion des Körpers mit ganz charakteristischen Zeichen und Stationen abläuft. Sterbefastende verweigern Essen und Trinken und dadurch trocknet der Körper allmählich aus. Durch das Fasten stellt sich nach und nach der Hungerstoffwechsel ein und es entsteht langsam eine Sauerstoffunterversorgung des Gehirns. Dadurch werden endogene Opiate gebildet, die Schmerzen lindern, beruhigend und stimmungsaufhellend wirken. Dieser Prozess lässt sich in drei Phasen gliedern:
1. Phase: völliges Bewusstsein
2. Phase: Schwächung und Eintrübung
3. Phase: Nierenversagen durch Dehydrierung
Letztendlich führt die Dehydrierung zum Tode.
Der folgende Kasten enthält eine Übersicht wichtiger Daten zum Sterbefasten meiner Mutter Jacqueline. Diese Übersicht findet sich am Anfang fast aller vorgestellten Begleitungen als Orientierungshilfe zu den Sterbefastenden.
Name: Jacqueline
Alter: 88 Jahre
Sterbeort: eigene Wohnung
Begleitung: durch Familie
Beweggründe: lebens- und leidenssatt, selbstständiges Leben immer eingeschränkter, multimorbid
Bekannte Erkrankungen: Zustand nach Hüftendoprothese beidseits vor 27 Jahren, chronisches Schmerzsyndrom, Hautkrebs, Zustand nach Teilamputation des linken Ohres
Vorbereitung: Gespräche in der Familie
Dauer des Sterbeprozesses: 13 Tage, von Anfang an bettlägerig
Hauptproblem: fehlende Absprache zu Beginn
Ärztliche Versorgung: Hausarzt (Schwiegersohn)
Pflegedienst: nicht angefordert
Bewertung des Sterbeprozesses: selbstbestimmt, wertvolle Zeit, wichtige Gespräche
Bewertungsskala:1 0 = schrecklichst vorstellbarer Tod; 9 = friedlichst vorstellbarer Tod
Bewertung durch Tochter: 9
Bei den vielen telefonischen Anfragen wird häufig um weitere Informationen, Vorträge und Seminare gebeten. Wir erhalten zudem Erfahrungsberichte von selbst erlebten Begleitungen bei Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit am Lebensende. So hat sich im Laufe der letzten zweieinhalb Jahre bei uns eine Art „Kummerkastenanlaufstelle“ für Begleiter von Sterbefastenden und Sterbefastende etabliert. Wir werden in vielen Fällen um Rat und praktische Tipps gebeten, häufig im Bereich der Mundpflege und der palliativen Symptomkontrolle. Das Feedback, das wir auf unsere oft nur einmaligen Telefongespräche bekommen, ist durchweg positiv und zeigt uns bis heute, dass es unbedingt notwendig ist, eine offizielle „Ansprechstelle für Probleme oder Fragen beim Sterbefasten“ einzurichten, damit die Angehörigen ihre schwere Aufgabe gut ausführen können.
Uns ist es ein großes Anliegen, den Menschen, die sich zu einer Begleitung Sterbefastenwilliger bereit erklären, Hilfe, Beratung zum Für und Wider oder Zuspruch zukommen zu lassen. So hilft manchen Begleitern schon ein einzelnes Telefonat und die Gewissheit, im Notfall eine Anlaufstelle zu haben, wo sie ihren Kummer oder ihre Sorgen ansprechen konnten, ohne moralischem Druck ausgesetzt zu sein. Allein dieses Wissen vermittelt die notwendige Sicherheit, um die gesamte Begleitung des Sterbeprozesses dann doch alleine zu meistern.
Die Behauptung aus Kreisen der Palliativversorgung (vgl. Feichtner/Weixler/Birklbauer 2018, Seite 109), dass eine Begleitung nur mit aufwendiger pflegerischer und ärztlicher Betreuung möglich sei, hat sich bei unseren hier vorliegenden Fällen nicht bestätigt. Vielmehr ist uns deutlich geworden, dass eine allein auf familiären Kräften beruhende Begleitung gut gelingen kann, wenn im Hintergrund eine Austauschmöglichkeit besteht. Die hausärztliche Rolle beim Sterbefasten scheint zwar hilfreich zu sein2, erfolgte aber bei unseren Fällen eher aus dem Hintergrund heraus. So war z. B. in einem Fall ein Arzt ständiger Ansprechpartner in seiner Praxis, ohne jemals einen Hausbesuch gemacht zu haben.
Wir wollen auch kurz mit einem Beispiel auf die Problematik des Sterbefastenwunsches bei demenziell erkrankten Menschen eingehen. Im Anfangsstadium der Erkrankung ist es unter Umständen noch zu bewerkstelligen, seinem Leben durch Sterbefasten ein Ende zu setzen, bevor der Erkrankte immer wieder vergisst, dass er nicht essen und nicht trinken will. Im fortgeschrittenen Stadium ist es jedoch unmöglich, einen bewussten freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit durchzuführen und durchzuhalten. Jedoch gilt es gerade bei dieser Krankheit, eine besonders gute Vorsorge (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht) auf den Weg zu bringen, damit im fortgeschrittenen...