II.2 Schemabildung
Erzählen ist eine hochgradig selektive Tätigkeit. Es hebt wenige Einzelzüge als signifikant aus einer Masse von Daten heraus. Wie diese Selektion im Einzelnen vor sich geht, hängt unter anderem von den Erfordernissen des jeweiligen Plots ab. Dessen Gestaltung ist aber nicht vollkommen willkürlich; kommunikativ erfolgreiche Plots müssen sich der Voreinstellung der Adressaten anbequemen. Erzähltechnische Experimentreihen ergeben, dass Probanden »easily recognize familiar narratives and unproblematically accept, and even reconstruct, their structure«.[41] Läuft eine Geschichte jedoch solchen Vertrautheitserwartungen entgegen, wird sie im Rezeptionsprozess entsprechend umgeschrieben und eingespielten Erzählmustern angepasst. Erzählmuster funktionieren also auf sprachlicher Ebene ähnlich wie kognitive Schemata, die es erlauben, die Überfülle unsortierter empirischer Daten auf typenhafte, leicht wiedererkennbare Formen zurückzuführen, Unbekanntes an Bekanntes zu assimilieren, Abweichungen zu tilgen und überschüssige Details auszublenden.[42] Beides sind Techniken der Komplexitätsreduktion, die zwar zu vielen Fehlleistungen führen, deren großer ökonomischer Vorteil aber darin besteht, dass sie Zeit und Aufwand verringern.
Schematisches Erkennen beruht auf Erwartungen.[43] Von taxonomischen oder seriellen Ordnungen unterscheidet sich das Schema durch die doppelte Verknüpfung seiner Elemente.[44] Taxonomien organisieren sich allein über den vertikalen Bezug der ansonsten unverbundenen Einzelelemente auf den übergeordneten Begriff; Serien kennen nur die horizontale Abfolge. Im Schema dagegen beziehen sich die Elemente einerseits in einer Sequenz aufeinander, andererseits stehen sie in einem Verhältnis von Teil und Ganzem zur Einheit der schematischen Struktur. Ein Plotschema etwa besteht als eine Folge von Ereignissen, die mit einer gewissen Konsequenz auseinander hervorgehen und zugleich in ihrer Gesamtheit eine episodische Einheit bilden, die mithin sowohl syntagmatisch als auch paradigmatisch verstrebt sind. Schematische Ordnungen sind deshalb in einem stärkeren Maß integriert als bloße Serien und Taxonomien, ohne darum unflexibel zu sein: Leicht können einzelne Elemente ausgetauscht oder vernachlässigt werden, solange die Einheit des Schemas nicht in Gefahr gerät. Ein stabiles Handlungsschema entlastet davon, jeden einzelnen Handlungszug zu motivieren. »It provides such a strong basis for coherence that one can leave out all explicit reference to causal and temporal connections from the surface structure, yet leave the narrative comprehensible; the schema itself provides the connectives missing from the surface.«[45] Umgekehrt kann eine verstärkte Binnenmotivierung zwischen den Elementen die Aufmerksamkeit vom Schema als solchem abziehen und dessen Funktion als eine alles übergreifende und verbindende Klammer entlasten. Schemata sind also Dispositive von einem mittleren Härtegrad, insofern sie die in ihnen enthaltenen Elemente konfigurieren, aber nicht bis ins Letzte festschreiben.
Für erzählerische Generalisierungen dieses Typs wird im Folgenden der Begriff des Narrativs vorbehalten, im Unterschied zur unabzählbaren Vielfalt individueller Geschichten (im Sinn von stories). Einzelne Erzähltexte können außerordentlich verwickelten Bauplänen folgen; ihre kommunikative Verbreitung und soziale Verhandelbarkeit hängen jedoch davon ab, in welchem Maß sie dem Grundmuster eines gebräuchlichen Narrativs gehorchen – oder sich nach dessen Vorgaben fehldeuten lassen.
Im Gegensatz zu den umfangreichen Testserien, wie sie etwa der Gestaltpsychologie zugrunde liegen, scheint bisher vergleichsweise wenig experimentelle Forschung auf die Schemabildung durch Erzählketten verwandt worden zu sein. Die zugrundeliegenden Fragen jedoch, etwa nach den Gestaltgesetzen der Wahrnehmung und nach der Funktionsweise sprachlicher Repräsentationen, haben durch den Aufschwung von Hirnforschung und Neurowissenschaften neue Brisanz erlangt. Von dorther wird der Ansatz bestärkt, dass Wahrnehmungs- wie Sprachmuster mentale Konstrukte sind, die aus einer unendlichen Flut von Sinnesdaten relevante Informationen herauspräparieren.[46] Zwischen Neurolinguistik, Evolutionspsychologie und Erzähltheorie öffnet sich hier, trotz divergenter Herangehensweisen, ein breites gemeinsames Forschungsfeld.
In einer 1932 erstmals veröffentlichten Pionierstudie hat Frederic C. Bartlett die Vergleichbarkeit visueller und narrativer Gedächtnistechniken demonstriert. Kettenexperimente mit aus dem Gedächtnis nachgezeichneten Vorlagen zeigen, wie sich der ursprüngliche Gegenstand schrittweise an eine Darstellungskonvention angleicht, die in der Gruppe der Probanden geläufig ist, und zwar vor allem mittels Weglassung und Vereinfachung. Die generelle Tendenz führt also von einem (unidentifizierbaren) visuellen Objekt zum kulturell codierten Piktogramm. Eine besondere Rolle spielt dabei die Neigung, einem amorphen Gebilde durch Namengebung gestalthafte Qualitäten zu leihen und es dann in Angleichung an das benannte Objekt zu reproduzieren – gegenläufigen empirischen Evidenzen zum Trotz.[47]
Auf analoge Weise kommen Konventionalisierungen im Medium des Erzählens zustande; auch sie sind »produced by a combination of innumerable small changes introduced by a large number of individuals«.[48] Dieser Vorgang ist am besten in Szenarien des Kulturtransfers zu beobachten – dort nämlich, wo »cultural materials coming into a group from outside are gradually worked into a pattern of a relatively stable kind distinctive of that group. The new material is assimilated to the persistent past of the group to which it comes.«[49] Kulturelle Assimilation vollzieht sich zu einem guten Teil durch Anverwandlung fremder Stoffe in die eigenen Erzählmuster, die ihrerseits Ausdruck einer »beharrlichen Vergangenheit« des jeweiligen Kollektivs sind.
Systematische Experimente dieser Art könnten wichtige Aufschlüsse darüber bieten, welche »familiar narratives«[50] als Attraktoren in der Kette der Weitererzählungen wirken und welche Teile des Plots als deviantes oder abgestorbenes Material ausscheiden. Mit einem geeigneten experimentellen Design ließen sich auf diese Weise – in Abhängigkeit von Faktoren wie Gruppenstruktur, Vorbildung und kulturellem Kontext – die Mechanismen einer kollektiven Übereignung und ›Verdauung‹ von Erzählstoffen exakter bestimmen. Äußerlich würde diese Versuchsanordnung einem Stille-Post-Spiel entsprechen, nur mit dem umgekehrten Effekt. Legt man nämlich die bisher aufgestellten Prinzipien zugrunde,[51] so käme am Ende nicht eine ›verrücktere‹ Botschaft heraus, als ursprünglich in die Nachrichtenkette eingespeist wurde, sondern es würde sich durch Ausdünnung und Anpassung des Erzählstoffs immer wieder ein altbekanntes narratives Grundmuster abzeichnen. Das Erzählen wäre hier also weniger ein Transportmittel als ein Filter. Mindestens ebenso wichtig wie seine Mitteilungsfunktion ist seine Eigenschaft, Wissen von geringerer Relevanz oder zu hoher Komplexität nicht weiterzugeben. Es gewinnt seine formende Kraft durch Aussparung dessen, was sich als kommunikativ ungeeignet erweist. Dadurch entlastet es die Kommunikation von der Gefahr eines information overflow – allerdings um den Preis der Verarmung ihrer Inhalte.
Dem Zweck der Aufwandsminderung dient indessen auch das scheinbar entgegengesetzte Verfahren, unvollständige Schemata den rezeptiven Voreinstellungen entsprechend zu ergänzen. Denn es kostet weniger Aufmerksamkeit und psychische Energie, eine stabile Erwartung bestätigt zu finden, als sich mit Lücken, sperrigen oder regelwidrigen Details aufzuhalten. Auch die Zutat kann eine Ersparnis bedeuten, sofern sie ein bereitstehendes Schema komplettiert. Schemabildung beruht mithin auf drei Grundvorgängen: Verknappung, Angleichung, Vervollständigung.
Die kognitionspsychologischen Untersuchungen zu diesem Thema heben die Rolle hervor, die das menschliche Gedächtnis im Selektions- und Adaptionsprozess des Weitererzählens einnimmt. Mnemonische und narrative Strukturen scheinen gewissermaßen Hand in Hand zu arbeiten.[52] Narrative verfestigen sich entsprechend der Einprägsamkeit ihrer Züge; das Gedächtnis seinerseits macht von der Fähigkeit des Erzählens Gebrauch, »to organize large amounts of information in coherent fashion«.[53] Menschen legen sich ihre Erinnerungen nach einem »story schema« zurecht, das sie wie einen Satz von Lesezeichen verwenden. »When they cannot recall a particular aspect of the story«, heißt es in einer Studie von Mandler und Johnson aus den siebziger Jahren dazu, »they can use the schema to reconstruct what might have occurred at that point. This general notion also accounts for the increasing regularization of irregular stories over time: Recall comes to approximate the idealized schema more than the actual form of the input.«[54] Derselbe Schematismus wird für das Einprägen von Erzählstoffen verwendet. Während das unmittelbare Verstehen die »twists and turns« schwieriger Texte noch bewältigen kann, sind die Akte des Einprägens und Erinnerns stärkeren Beschränkungen ausgesetzt. »Memory is less rich and flexible. Not only does memory simplify, but material presented in an unusual sequence will gradually conform to a more logical structure than the one constructed during...