Die Wahrheit mit der Muttermilch
Familie und kommunistischer Widerstand
Karl-Wolf. So steht es geschrieben in meiner Geburtsurkunde. Nicht Wolf, sondern Karl-Wolf Biermann. Im vierten Jahr des Tausendjährigen Reiches, am 15. November 1936, wurde ich in Hamburg geboren, genau fünf Minuten nach zwölf. Ich war – auf den Tag genau – ein Achtmonatskind. Meine Mutter flüsterte die Standardfrage. Die Hebamme des Sankt-Georg-Krankenhauses durchschnitt die Nabelschnur und knurrte: »… is ’n Junge.« Emma gluckste vor Glück. Ausgerechnet die Arbeiterin Emma Biermann tirilierte das blöde Liedchen »Ja, wir haben einen Sohn, einen Erben für den Thron …« Die Hebamme war womöglich genervt. Sie sagte mit spitzer Zunge: »Der hat ja ’ne kleine Judennase!« War das nun die Diagnose einer erfahrenen Geburtshelferin? Oder der blinde Affekt einer missgelaunten Nazi-Hippe?
Am Abend dieses Sonntags, direkt nach seiner Sonderschicht auf der Deutschen Werft, kam mein Vater in Arbeitskluft zur Klinik. Dagobert hatte Augen nur für seine Emma. Vom Balg nahm er freundlich Notiz. Ja, er war glücklich mit ihr, war verliebt in seine Frau. Und: Er war ihr dankbar. »Du bist nicht nur mein Lieb, sondern der beste Kamerad, den ich je hatte«, schrieb er später in einem Brief aus dem Gefängnis.
Dagobert Biermann hatte Schlosser und Maschinenbauer erlernt. Aufgewachsen war er im »Lazarus-Gumpel-Stift zur Unterstützung bedürftiger Juden« in der Schlachterstraße 46, nahe dem Hamburger Michel, in einer Hinterhofwohnung, in die nie ein Sonnenstrahl fiel. Eine meiner ersten Erinnerungen: drei Treppenstufen hoch am Geländer. Gleich vorne die düstere Wohnstube. Großvater schlief auf dem Sofa, mit einem Hut auf’m Gesicht. John Biermann, meines Vaters Vater, war ambulanter Elektrikermeister mit nur einem Angestellten: er selber. Seine ganze »Firma« bestand aus einem wohlgeordneten Holzkasten fürs Handwerkszeug, dazu eine Stehleiter, ein paar Kabelrollen und eine schwere Kiste voll mit elektrischem Kleinkram. Großvater ging in die Häuser und reparierte den Leuten die Leitungen. Meines Vaters Bruder Karl war zwei Jahre jünger und wurde auch Elektriker. Die hübsche Schwester Rosa, die Hutmacherin, war ganze zwölf Jahre jünger. Weil Großmutter Louise aus einer orthodoxen Familie Löwenthal kam, schickte sie ihre Kinder auf die Talmud-Tora-Realschule, gleich neben der Synagoge am Grindel.
Gewiss Hebräisch, ja, Tora, ja, Talmud. Aber dann ging Dagobert mit vierzehn Jahren in die Lehre auf der Werft Blohm & Voss. Noch lieber als Jude sein wollte er Mensch werden. Er trat der Metallarbeitergewerkschaft bei. Seine Religion war fortan der Kommunismus. Und weil er nicht nur gut arbeiten, sondern auch gut reden konnte, wählten die Lehrlinge ihn zu ihrem Sprecher. Durch sein unerschrockenes Auftreten zog er den scharfen Blick der Werftleitung auf sich. Nach vierjähriger Lehrzeit kriegte er, trotz allerbester Prüfungen, mit dem Gesellenbrief zugleich die Entlassungspapiere. Er landete außerdem auf der »schwarzen Liste«. Und das bedeutete für viele Jahre, auch nach der tiefen Werftenkrise, Arbeitslosigkeit.
Dagobert traf Emma Dietrich im Jugendverband der KPD, der »Kommunistischen Jugend Deutschlands« (KJD). Sie bewunderten einander. Er ihre Schroffheit, sie seine Geduld. Emmas Realschullehrerin hatte die Eltern besucht und gesagt: »Die kleine Emma sollte weiterlernen. Sie könnte Lehrerin werden.« Aber der alte Dietrich knurrte: »Wir können uns keine Gräfin erlauben.«
1919 begann das Mädchen eine Lehre als Maschinenstrickerin. Nach zweijähriger Ausbildung arbeitete sie im Akkord und verdiente gutes Geld. Dann strickte sie elegante Modekleider auf Sylt. Aber 1924 kam es für sie noch besser: Sie wurde von der Hamburger Blindenanstalt eingestellt. Dort baute sie in eigener Verantwortung eine neue Blindenwerkstatt für Maschinenstrickerei auf. Und das war ihre Idee: Die Arbeitsgänge wurden, im Sinne einer Manufaktur, so unterteilt und die Maschinen so eingerichtet, dass die Blinden und Halbblinden nach ihren Möglichkeiten in ausgetüftelter Zusammenarbeit etwas wirklich Brauchbares produzieren konnten. Emma liebte diese Arbeit und war stolz.
Das Liebespaar heiratete 1927. Beide waren inzwischen in die KPD eingetreten und standen aktiv in der Arbeiterbewegung. Emma und ihre jüngeren Geschwister Lotte und Karl, genannt Kalli, und ihr Dagobert verstanden sich bestens, sie waren ja beides: Familienbande und Genossen. Auch Emmas Eltern, Karl Dietrich und Martha.
Die Dietrichs waren aus Sachsen über Kiel nach Hamburg gezogen. In der Schmiedelehre in Halle an der Saale hatte Emmas Vater durch einen glühenden Eisenspan ein Auge verloren, so dass er beim Hämmern nicht mehr den Abstand in der dritten Dimension sehen konnte. Er arbeitete fortan als Steineträger auf Baustellen. Immer fünfundzwanzig Ziegelsteine mit dem Schulterbrett die Bauleitern hoch. So trug er sich krank und krumm. Der Sachse wurde in Hamburg ein führender Kader des Rotfrontkämpferbundes der KPD, und Ernst Thälmann war sein vertrauter Genosse. Karl galt als der beste Schütze unter den Mitgliedern des RFB. Immerhin, so spotteten die Genossen, musste er sein Glasauge beim Zielen nicht zukneifen. Das war vielleicht sein einziges Privileg im Leben: Er gewann jedes Jahr den ersten Preis, einen ganzen Schinken, beim fröhlichen Wettschießen für den Sieg der Weltrevolution.
An den Wochenenden fuhren die jungen Kommunisten mit der Vorortbahn in die Lüneburger Heide. Sie waren begeistert von der Wandervogelbewegung. Der neueste Schrei: FKK – Freikörperkultur. Emma übte sich im Ausdruckstanz à la Mary Wigman. Sie sangen gemeinsam »Dem Morgenrot entgegen, ihr Kampfgenossen all« oder das von Rosa Luxemburg aus dem Polnischen übersetzte Lied: »Des Volkes Blut verströmt in Bächen, / Und bitt’re Tränen rinnen drein. / Doch kommt der Tag, da wir uns rächen, / Dann werden wir die Richter sein …« Na ja. Und die Kitschlieder von Hermann Löns: »Ja grün ist die Heide / Die Heide ist grüüüüün …« Der Maschinenschlosser »Dago« zupfte dazu die Gitarre, die Maschinenstrickerin »Emsch« die Waldzither.
Die Nationalsozialisten griffen zu Beginn der dreißiger Jahre nach der Macht. Als die SA, der Rotfrontkämpferbund und die Kampfgruppe »Eiserne Front« sich gegenseitig verprügelten und die Vereinslokale demolierten, machte Dagobert sich einen Namen, weil er es schaffte, mit jungen, bürgerlichen Nazis immerhin unblutige Streitgespräche zu führen, statt immer nur »Eins-in-die-Fresse-mein-Herzblatt!«. 1932 wurde mein Vater von den Thälmann-Anhängern als »Abweichler« gebrandmarkt. Er war der Meinung, die KPD sollte verbündet mit der SPD gegen die Nazis kämpfen. Sein Schwiegervater Karl Dietrich wütete gegen den Abweichler. Als Dago und seine Emsch an der Wohnungstür klingelten, riss der Alte die Tür auf, schwang ein Beil überm Kopf und brüllte einen Satz, der von da ab zur geflügelten Phrase unserer Familiengeschichte gehörte: »Ich! dulde! in meinem Hause!! keine konterrevolutionäre!!! Brut!!!« Die Frauen kreischten und schimpften. Sie rissen dem Berserker mit vereinten Kräften das Beil aus den Händen. An diesen acht Wutworten war wirklich alles falsch. Von wegen »Ich dulde nicht …«. Der Alte musste es dulden, denn schon gleich danach saßen sie wieder zusammen bei Kaffee und Bienenstich am Küchentisch. Auch war sein Schwiegersohn keine »konterrevolutionäre Brut«. Und dann noch das große Wort »in meinem Hause!«. Dieser herzkranke Steineträger Karl Dietrich war froh, wenn er die Miete zahlen konnte.
Er hatte Glück, er starb an seinem schweren Herzfehler schon 1932. Als die Überfallkommandos der NSDAP nach Hitlers Machtergreifung 1933 mehrmals an Oma Meumes Wohnungstür standen, um den Alten zu verhaften, rannte Oma Meume ins Schlafzimmer und zerrte wütend die vertrockneten Kränze von seiner Beerdigung unterm Ehebett hervor. Sie zeigte auf die zerknitterten Kranzschleifen und schrie auf Sächsisch: »Der is doooot! Den gönnd ihr nich mehr dotschlagn!«
Anders als die Sozialdemokraten war die KPD sofort verboten worden, und damit auch ihr Parteiblatt, die Hamburger Volkszeitung. Die Genossen arbeiteten illegal weiter. Meine Eltern und Emmas Bruder Kalli waren in der Parteigruppe St. Georg organisiert. Doch bereits am 8. Mai 1933 wurde mein Vater verhaftet. Die Polizei ertappte ihn auf frischer Tat. Im Atelier des Kunstmalers Arnold Fiedler vervielfältigte er mit einer primitiven Druckmaschine die Notausgabe des verbotenen Parteiblattes, die illegal verteilt werden sollte. Weil die eigentlichen Redakteure schon seit März als »Schutzgefangene« im KZ Fuhlsbüttel saßen, hatte Dagobert auch den Leitartikel verfasst. Darin berichtete er über den unmittelbar anstehenden Prozess zum Altonaer Blutsonntag. Ein knappes Jahr zuvor, am 17. Juli 1932, war es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der SA und den Kommunisten gekommen. Achtzehn Menschen waren erschossen worden. Kaum an der Macht, stellten die Nationalsozialisten den Klempner Bruno Tesch, den Packer Walter Möller, den Schuhmacher Karl Wolff und den Seemann August Lütgens als Schuldige vor ein schnell eingerichtetes Sondergericht. Alle vier wurden ohne Beweise zum Tode verurteilt, das Urteil wurde am 1. August 1933 vollstreckt. Da saß mein Vater schon in Haft. Zwei von den Angeklagten waren erst neunzehn Jahre alt, nach damaligem Gesetz noch nicht volljährig.
Eine unerhörte Begebenheit bei der Hinrichtung hatte sich rasch herumgesprochen. Der beamtete Henker der Hansestadt stand grade nicht zur Verfügung. Ein junger Schlachtermeister aus Wandsbek war eingesprungen, ein Mitglied der NSDAP. Die Exekution fand auf dem Hinterhof des Gerichtsgebäudes in Altona...