1 Warum passiert mir das?
Joanna lag verkrampft auf dem Behandlungstisch der Chiropraktikerin und starrte auf das Mobile, das sich langsam der leichten Brise drehte, die durch das geöffnete Fenster drang. Ich hatte erfahren, daß die junge Frau, die auf Krücken in die Praxis gehumpelt war, sich Sorgen machte, weil ihr verstauchter Knöchel nicht abschwellen wollte. Ich saß jetzt zu ihren Füßen und hatte die Mittelfinger beider Hände sanft an beide Seiten des blau angelaufenen Gelenks gelegt.
Ich assistierte der Chiropraktikerin im Austausch dafür, daß sie mein Knie behandelte, nachdem die traditionelle Medizin versagt hatte. Meine Bekannte war in der Gegend für ihre außergewöhnlichen Heilerfolge bekannt und verwandte außer Chiropraktik noch andere Methoden: energetische Behandlung, Edelsteintherapie und Visualisierungen. Ich hatte so die Möglichkeit, mehr über nichttraditionelle Heilmethoden zu lernen. Die Chiropraktikerin hatte mich angewiesen, Joanna energetisch zu behandeln.
Sie hatte mit einem Filzstift Joannas Knöchel und Fuß paarweise mit Punkten auf beiden Seiten markiert. Ich sollte jetzt mit beiden Mittelfingern auf beiden Seiten jeweils den Puls fühlen und so lange den Finger darauf halten, bis beide Pulsfrequenzen in Rhythmus und Stärke übereinstimmten. Mit dieser Methode lassen sich Muskelkrämpfe lockern, aber auch Staus von Blut und Gewebewasser lösen und Inflammationen nach Verletzungen zum Abklingen bringen. Manchmal schlagen beide Pulse schnell synchron, manchmal erst nach längerer Zeit. Wie schnell die Synchronisierung hergestellt ist, hängt meist mit dem psychischen Zustand des Patienten zusammen, wie Joannas Fall deutlich macht. Die Pulse schlugen auch nach längerer Zeit immer noch nicht synchron. So begann ich, mich mit ihr über ihre Verletzung zu unterhalten.
«Wie ist das denn passiert?»
Sie schüttelte den Kopf und seufzte. «Oh, es war so dämlich! Ich hatte Tennisschuhe an und ging durch die Küche. Mein Fuß schien einfach am Boden festzukleben, während mein übriger Körper sich weiter vorwärtsbewegte. Und nun werde ich noch acht weitere Wochen lang nur mit Krücken gehen können.» Sie schwieg und fuhr dann fort: «Ich kann überhaupt nichts machen.»
«Ja, es ist schlimm, wenn man plötzlich an seinen normalen Aktivitäten gehindert wird», sagte ich und mußte daran denken, wie mich meine Knieverletzung gelehrt hatte, alles langsamer anzugehen. Die Pulsschläge unter beiden Fingern kamen immer noch unkoordiniert.
«Was würden Sie denn jetzt gerade tun, wenn das nicht geschehen wäre?» fragte ich.
«Ach, normalerweise nichts besonderes. Es paßt nur im Moment überhaupt nicht.» Wieder stockte ihre Stimme.
«Ist es denn jetzt besonders ungünstig?»
Joanna schwieg. Dann hob sie die Hand, um ein paar Tränen fortzuwischen. «Ja, es ist die schlimmste Zeit, die ich mir vorstellen kann.»
Ich wartete ab, gab ihr ein Papiertaschentuch und übte weiterhin einen ganz leichten Druck auf beide Seiten ihres Knöchels aus. Nach einer Weile sagte Joanna leise: «Meine Mutter ist unheilbar krebskrank. Sie wollte gern zu Hause sterben. Sie und ich hatten gehofft, daß wir es mit Hilfe eines Pflegedienstes schaffen könnten, und jetzt das …»
Ich legte die Finger auf ein anderes Punktpaar und fragte: «Gibt es sonst noch jemanden, der helfen könnte?»
«Mein Vater lebt natürlich auch im Haus, aber sie haben sich nie besonders gut verstanden.»
«Streiten sie sich?» fragte ich direkt. Joanna zögerte nur einen Augenblick.
«Nein, eigentlich nicht. Sie führen eher eine dieser altmodischen Ehen. Der Mann geht aus dem Haus und verdient das Geld, während die Frau alles tut, damit er sich zu Hause wohl fühlt. Und er merkt es nicht einmal. Ich glaube, meine Mutter hatte es schließlich so satt, daß alles immer selbstverständlich war, was sie tat, daß ihr Gefühl für ihn abstarb. Es ist, als ob beide in verschiedenen Welten leben und nie miteinander in Berührung kommen, weder körperlich noch emotional.»
Wieder bewegte ich die Finger. «Und was macht er jetzt, wo sie so krank ist?»
Joanna schwieg lange. Dann sagte sie beinahe zögernd. «Er hilft. Ich meine, er sorgt richtig für sie, fragt sie dauernd, was sie braucht und was er für sie tun kann, und versucht, es ihr so angenehm wie möglich zu machen.»
«Und wie reagiert Ihre Mutter darauf?»
«Es dauerte ganz lange, bis sie ihn um etwas bitten konnte. Wissen Sie, meine Eltern gehörten zu den Paaren, die nie direkt miteinander sprechen. Er sagte: ‹Sag deiner Mutter …›, und sie sagte: ‹Sag deinem Vater …›, obgleich der andere im Zimmer war. Es war ganz schrecklich.» Aber Joannas Stimme klang jetzt ruhiger. «Als meine Mutter erfuhr, daß sie Krebs hat, sprach sie ihn zum ersten Mal wieder direkt an. Es war im Krankenhaus, und ich stand direkt daneben. Sie sah ihm gerade in die Augen und sagte: ‹Ray, ich muß sterben›. Er begann zu weinen und bat: ‹Laß mich dir helfen.› Aber sie sagte: ‹Nein, Joanna wird für mich sorgen.› Und das habe ich auch getan, und jetzt …», sie wies auf ihren geschwollenen Knöchel und weinte wieder, «und jetzt kann ich es nicht mehr.»
«Nein», sagte ich, «aber Ihr Vater kann es. Vielleicht ist das ein entscheidender Faktor. Schauen Sie mal», ich berührte das Mobile, das sich über ihrem Kopf drehte, «stellen Sie sich vor, daß dieses Mobile Ihre Familie repräsentiert. Jedes Familienmitglied nimmt eine bestimmte Position ein und hält so das Ganze im Gleichgewicht. Die Krankheit Ihrer Mutter ist wie ein Windstoß, der alles durcheinandergebracht hat.» Ich blies kräftig auf das Mobile, das daraufhin durcheinanderwirbelte und sich dann langsam wieder einpendelte. «Und doch wäre das Gleichgewicht in der Familie bestehengeblieben, wenn nicht …» Ich entfernte eine der Figuren aus dem Mobile, das sich daraufhin schräg stellte, um den Verlust des Gewichtes zu kompensieren. «… so etwas in Ihrer Familie geschehen wäre. Ihre Verletzung entfernte Sie aus Ihrer normalen Position zwischen den Eltern und zwang diese beiden Dickköpfe dazu, sich miteinander auseinanderzusetzen. Vielleicht war das ein Segen.»
Das Mobile hatte sich in seiner neuen Schräglage eingependelt und hing nahezu still. Joanna seufzte tief und sagte: «Ich glaube, ich war all die Jahre von der Schuld meines Vaters überzeugt und habe eigentlich immer mehr auf der Seite meiner Mutter gestanden. Aber dann habe ich gesehen, wie sie ihn eigentlich dafür bestrafte, als er ihr helfen wollte, erst im Krankenhaus und dann zu Hause. An allem, was er tat, hatte sie etwas auszusetzen. Aber zu meiner Überraschung gab er einfach nicht auf, und schließlich wurde sie weich. Wenn ich jetzt hingehe, werden wir beide von meinem Vater bedient. Er macht Witze und bringt meine Mutter sogar zum Lachen. Und wenn ich mit ihm allein bin, sagt er: ‹Ich liebe deine Mutter wirklich, ich habe sie immer geliebt.› Und ich sage dann: ‹Sag es ihr.› Und er darauf: ‹Ich versuche es ja.›»
Während unseres Gesprächs hatten sich die Pulsschläge einander angeglichen, und die Schwellung war sichtbar zurückgegangen. Energien und Kreislauf hatten sich wieder gekräftigt, aber Joanna schien das kaum zu merken.
«Ich muß also kein schlechtes Gewissen haben, daß ich nichts für sie tun kann? Wissen Sie, eigentlich wußte ich immer, daß es besser ist, wenn Vater alles für sie tut, und ich nur hin und wieder reinschaue. Aber ich hatte immer so ein schlechtes Gewissen.»
«Sie waren es gewöhnt, eine ganz bestimmte Rolle in dieser Familie zu spielen, und es fiel Ihnen schwer, sie aufzugeben. Nur so etwas wie Ihre Verletzung konnte Sie dazu zwingen, sich nicht mehr einzumischen.» Wir lächelten beide, als ich Joanna ihre Krücken reichte.
Wenn Joanna nicht schließlich ihre über viele Jahre eingenommene Rolle der Vermittlerin zwischen den Eltern begriffen hätte, wäre ihr wahrscheinlich die Auflösung der entsetzlichen Schuldgefühle gegenüber ihrer Mutter nicht gelungen. Sie konnte gesund werden, als sie die Beziehung ihrer Eltern zueinander besser verstand und erkannte, daß sie in ihrer Rolle als Stütze und Trösterin der Mutter den Eltern die Fortsetzung ihres stillen Krieges erst ermöglicht hatte. Als die Eltern sich wieder ausgesöhnt hatten, fühlte sich auch Joanna nicht mehr allein für das Glück der Mutter verantwortlich. Was sie sonst möglicherweise noch lange nach dem Tod ihrer Mutter gequält hätte.
Auch ihr Vater machte eine Heilung durch. Ich vermute, daß Joannas Mutter vor dem Ausbruch der Krankheit ihren Mann täglich wegen irgendeiner uralten Untreue gestraft hatte. Im Laufe der Jahre war ihr Verhaltensmuster völlig starr, unflexibel und ausweglos geworden. Erst als Joanna wegen ihrer Verletzung der kranken Mutter nicht mehr helfen konnte und die Mutter sah, wie sehr sich ihr Mann bemühte, ihr zu helfen und ihr seine Liebe zu zeigen, konnte sie schließlich seine Fürsorge akzeptieren. Auf diese Weise erfuhr nicht nur Joannas Vater eine seelische Heilung, sondern es bestand endlich die Möglichkeit einer positiven Beziehung zwischen beiden.
Als Joanna zwei Monate später zur Abschlußuntersuchung in der Praxis erschien, nahm sie mich einen Augenblick zur Seite, um mir mitzuteilen, daß ihre Mutter vor zwei Wochen zu Hause gestorben war.
«Es war wirklich wunderbar. Wir waren alle um ihr Bett versammelt, auch mein Mann und meine Söhne. Aber zum Ende hin wollte sie nur mit Vater allein sein. Können Sie sich das vorstellen? Sie wollte mit dem Mann allein sein, mit dem sie all die langen Jahre kein Wort gewechselt hatte! Wir warteten im Wohnzimmer, bis Vater schließlich aus ihrem Zimmer trat. Er sagte: ‹Sie ist...