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E-Book

Was von uns übrig bleibt

Wenn wir einen Ort, einen Menschen oder die Welt verlassen

AutorSven Stillich
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783644001893
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Dieses Buch reist in die Geschichte und in die Zukunft. Es blättert in Schriftrollen, betrachtet Gemälde und reibt so lange auf Stadtplänen herum, bis antike Pfade zum Vorschein kommen. Es liest Krimis und nimmt Fingerabdrücke. Es schaut Filme, und es hört bei Popsongs auf die Texte. Häuser stürzen ein, und Spürhunde suchen nach Vermissten. Es ist ein Buch voller Kuscheltiere, T-Shirts und Souvenirs, voll mit echten und falschen Erinnerungen, voller Gerüche und Bilder - und voller Fragen: Sollte ich nicht mal mit Oma über ihre Kindheit reden, solange sie noch da ist? Wie viel meines Humors ist eigentlich der meines Partners? Und wann habe ich zum letzten Mal ein Backup meiner wichtigsten Daten gemacht? Was würde ich zurücklassen, wenn ich aus meiner Heimat fliehen müsste? Und was würde ich unbedingt einpacken? Und wenn ich mal nicht mehr da sein werde: Was sollte mich überdauern?

Sven Stillich, geboren 1969, hat Sprachwissenschaften studiert und im Anschluss die Henri-Nannen-Journalistenschule besucht. Seitdem arbeitet er als Autor für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen sowie als Lektor. Lange füllte er den Blog «Verweilen im Vorübergehen» mit Alltagsfotografien, -texten und -gedanken. Stillich ist im Hamburger Gängeviertel aktiv und arbeitet an seinem Langzeitprojekt «Erfundstücke». 2007 erschien bei Ullstein «Second Life. Wie virtuelle Welten unser Leben verändern».

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Leseprobe

Davor


Da vorne in den Baum hat jemand ein Herz geritzt. Daneben im Busch: ein leeres Zigarettenpäckchen, ganz zerknautscht und halb mit Erde bedeckt. Dort hinten, die beiden: wie sie miteinander lachen. Im Haus dahinter war einmal ein Blumenladen, man sieht die Schrift noch über dem Schaufenster. Der Baum neben dem Laden ist bestimmt hundert Jahre alt; was hat der schon alles gesehen? Das Paar kennt sich seit ein paar Tagen. Es wird sich noch oft an diesen Moment erinnern, in dem sie wie zufällig seine Hand berührt. Ein Auto fährt vorbei, es hat hinten links eine Delle, und der Fahrer weiß, von wem und warum. Vor Ewigkeiten sind auf dieser Straße die römischen Heere durchgekommen, und dass ein Soldat da vorne eine Handvoll Münzen verloren hat, weiß im Moment noch keiner. In zehn Jahren werden sie im Rathaus in einer Vitrine liegen, und das Paar wird sie sich ansehen, zusammen mit den Kindern.

Wir sind Menschen, wir können nicht anders: Wir hinterlassen unmerkbar Spuren an Plätzen, die wir besuchen, in den Gehirnen anderer Menschen, in der Welt. Ein Denkmal gibt es dafür selten, oft nicht mal ein Dankeschön. Aber stets bleibt etwas zurück, von uns, bei uns und in anderen. Wir bewahren Menschen in uns auf und werden in anderen Menschen aufbewahrt – für die einen ist das nur eine Gehirnfunktion. Für die anderen ein großer Trost.

 

Die Sehnsucht, dass etwas von ihnen bleiben soll, wohnt tief in vielen Menschen – im Großen wie im Kleinen. Sie hoffen in schönen Momenten, dass die Uhr stillstehen möge. Oder sie wünschen sich, dass ihre Lieblingsorte wie ein Fels in der Zeit stehen: Das gemütliche Restaurant, der struppig-schöne Park, das gut sortierte Fachgeschäft sollen nie verschwinden. Manche arbeiten sogar ihr ganzes Leben daran, dass etwas von ihnen bleiben möge, wenn sie einmal die Welt verlassen. Ein Haus, ein Baum oder Kinder, in denen sie weiterleben. Oder eine Idee, eine Erinnerung, ein Pokal. Anderen ist das unwichtig. Sie fragen sich, was Mozart davon hatte, dass noch heute jeder seinen Namen und die Musik kennt. Sie fragen Teenager, ob sie wissen, wer Heinz Rühmann war, und wenn die den Kopf schütteln, sagen sie: «Den kannte mal jeder.» Für sie fällt mit dem Tod der Vorhang, von ihnen muss nichts bleiben. Sie möchten dann einfach nur Platz machen für diejenigen, die nach ihnen kommen.

 

Für das Leben ist völlig unwichtig, wie wir seiner Vergänglichkeit gegenüberstehen. Es weiß aus der Erfahrung von Jahrtausenden: Unsere Versuche, Spuren zu hinterlassen, sind meist zum Scheitern verurteilt. Der Schriftsteller Erich Kästner hat geschrieben: «Die Zeit wählt aus, was bleiben und dauern soll. Und meistens hat sie recht, die Zeit.» Wir können uns anstrengen, wie wir wollen: Die Zeit ist stärker als wir. Nur was sie übrig lässt, hallt in der Gegenwart nach. Alles andere ist Schnee von gestern.

Die gute Nachricht: Es wird meistens etwas von uns bleiben. Nur werden wir davon gar nichts wissen. Das Leben wird sich an uns erinnern. An Orten, in Menschen und in der Welt. An dem Punkt wird es unplanbar, chaotisch, lebendig und spannend. Und da fängt dieses Buch an, sich für die Sache zu interessieren und ihr auf den Grund zu gehen. Es macht sich auf und sucht nach biologischen Spuren und nach geistigen, nach kulturellen und konkreten. Es reist in die Geschichte und in die Zukunft. Es trägt Wissen zusammen aus allen Quellen, derer es habhaft werden konnte: Es blättert in alten Schriften, betrachtet verstaubte Gemälde und reibt so lange auf den Stadtplänen unserer Städte herum, bis antike Pfade zum Vorschein kommen. Es liest Krimis und nimmt Fingerabdrücke. Es schaut Heimat- und Liebesfilme, und es hört bei Popsongs auf die Texte. Die Gehirne Verliebter werden analysiert, und virtuelle Welten bekommen Besuch. Es wird geküsst, geliebt, geflüchtet, gekämpft, in Rente gegangen und gestorben. Häuser stürzen ein, und Spürhunde suchen nach Vermissten. Es wird gesammelt und weggeworfen, behalten und begraben. Es ist ein Buch voller Kuscheltiere, T-Shirts und Souvenirs, voll mit echten und falschen Erinnerungen, voller Gerüche und Bilder.

Die umgekehrte Frage, was von anderen Menschen in uns selbst übrig bleibt, ist dabei genauso faszinierend – und genauso schwer zu beantworten. Meist können wir nicht sagen, woher ein Teil unserer Persönlichkeit stammt oder woher wir etwas wissen; wer uns angewöhnt hat, anderen die Tür aufzuhalten etwa, oder von wem wir gelernt haben, dass erst der Essig auf den Salat kommt und dann das Öl. Wir sind das Produkt von Lehrerinnen und Lehrern, von Eltern und Verwandten, von Freundinnen und Freunden, von Erziehung und Erfahrung. Ein Satzfetzen, den wir in der S-Bahn von einem Gespräch völlig fremder Leute aufschnappen, kann unser Leben genauso prägen wie eine Weisheit der Großeltern – wir müssen nur hinhören. Dieses Buch hört gerne hin. Auch die Orte, an denen wir leben, hinterlassen Spuren in uns – wir müssen nur hinschauen. Dieses Buch ist ganz vernarrt ins Hinschauen.

 

Dieses Buch behauptet nicht, jedem etwas zu sagen. Ich habe zwar versucht, möglichst viele Facetten des Themas abzubilden. Aber was nun hier geschrieben steht, ist natürlich auch das Resultat meiner eigenen Vorlieben und Interessen, meiner Kindheit und meines Erwachsenseins, meiner Leichen im Keller und Mücken im Kopf. Das heißt nicht, dass ich mich besonders wichtig nehme – nur hätte jemand anderes eben ein völlig anderes Buch geschrieben. Es ist ein Buch, das oft in meiner Nachbarschaft spielt, in Hamburg Altona. Oder in meiner Kindheit, in Hessen. Die Zigarettenschachtel gab es, vorne an der Kirche, ich war dabei, als sie über Monate immer weniger wurde. Die römischen Soldaten und die Münzen gab es, am Limes. In diesem Buch steht, offen und verklausuliert, viel von mir. Und es handelt viel von dem, was mich beschäftigt, und das geht vielleicht nicht anders. Wenn ich in diesem Buch ein «Wir» beschreibe, ist das ein mir nahes «Wir», ein weißes, abendländisches «Wir». Das soll niemanden ausschließen. Ein Buch jedoch kann nicht alles über alles sagen. Es muss seinen Blick scharfstellen, sonst franst das Bild an den Seiten aus. Deswegen trägt meines auf den folgenden Seiten nun eine mitteleuropäische Brille und erblickt so ein «Wir». Ein Buch, das eine asiatische oder eine afrikanische Perspektive einnimmt, würde ich bestimmt verschlingen.

 

Es ist gerade Sonntagmorgen, draußen scheint die Sonne, und ich sitze in einem rot-gelb-grün gestreiften Sessel aus den siebziger Jahren. Hinter mir wartet eine Tütenlampe aus den Fünfzigern darauf, am Abend weiches Licht zu spenden, es wird auf eine Musiktruhe aus den Sechzigern fallen. Die drei Möbelstücke standen vor zwanzig, zehn und vor einem Jahr plötzlich vor mir auf der Straße, zwei davon bei anderem Sperrmüll, die Truhe einfach so. Ich weiß noch: Als die Lampe und ich uns fanden, hat es schrecklich geregnet, sie musste repariert werden hier ganz in der Nähe, bei Radio Kölsch; den Laden gibt es nicht mehr, da ist jetzt ein Friseur. Ich habe mich oft gefragt, wer wohl die Lampe oder den Sessel auf die Straße gestellt hat oder die gute Truhe – und warum. Sind die Möbel verstoßen oder nur ausgemustert worden, sind sie vielleicht sogar geflohen; haben sie sich auf den Weg gemacht auf der Suche nach etwas Besserem als dem Tod – und dann haben sie mich gefunden? Natürlich weiß ich, dass ich darauf nie eine Antwort bekommen werde. Es ist sogar wahrscheinlich, dass die Geschichte der Dinge noch nicht fertig erzählt ist und sie eines Tages weiterziehen werden zu anderen Menschen, in andere Wohnungen. Warum etwas kommt und etwas geht: Wir wissen es meist nicht, wir können es uns nur zusammenreimen.

 

Mich hat als Jugendlicher eine Erzählung von Heinrich Böll beeindruckt, Wanderer, kommst du nach Spa… Darin starrt ein verwundeter Soldat immer wieder auf eine Stelle über einer Tür. Wo früher ein Kreuz hing, bis die Nazis an die Macht kamen, ist nun «ein frischer, dunkelgelber Fleck an der Wand, kreuzförmig, hart und klar, der fast noch deutlicher zu sehen war als das alte, schwache, kleine Kreuz selbst, das sie abgehängt hatten», denkt er sich. Mich hat das damals umgehauen: dass etwas nicht mehr da ist und dadurch noch viel mehr in der Welt. Leerstellen können so hell leuchten, dass man gar nicht anders kann, als blinzelnd immer wieder hinzuschauen.

 

Wenn dieses Buch etwas sein mag, dann ein Plädoyer für ein wenig mehr Aufmerksamkeit im Alltag. Für das Jetzt, für das Leben im Moment, für das, was übrig bleibt in uns und in den anderen. Gegen «Veränderungsblindheit», wenn man so will. Manchmal ist man einfach ein paar Jahre nicht bei der Sache, und plötzlich ist der Partner ein ganz anderer. Oder der Bus auf dem Weg zur Arbeit fährt an einem neuen Gebäude vorbei, von dessen Bau man gar nichts mitbekommen hat. Ich hatte mal einen Blog, der hieß Verweilen im Vorübergehen – und genau das finde ich wichtig: auch auf alltäglichen Wegen manchmal zu verharren und sich umzusehen, auch mal nach oben zu schauen, nicht nur auf den Boden. Sonst leben wir bald nur noch im Transit, und die Räume, durch die wir uns bewegen, werden zu blinden Flecken. Mich berührt der Wandel, sei er subtil oder brutal; auch einstürzende Altbauten haben ihre Reize, auch die Hochhäuser der Nachkriegszeit haben schöne Ecken.

Es gibt keine Normalität: Darum geht es auch in diesem Buch. Nichts war schon immer da, nichts wird für immer bleiben. Wir nicht, die nicht, das nicht. In allem um uns herum stecken Zeichen von Leben. Es ist...

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