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E-Book

Die asiatische Herausforderung

AutorManfred Lahnstein, Professor Dr. Manfred Lahnstein
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783455850512
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Die Welt erlebt den größten Umbruch der Neuzeit: die Verlagerung der Macht in die asiatischen Zentren. Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert Asiens. Die Zahlen und Expertenprognosen sprechen für sich: Bald werden von 100 Menschen 60 in Asien leben, in Europa und Nordamerika zusammen dagegen nur 11. Die Volkswirtschaften Chinas und Japans stehen heute schon an zweiter und dritter Stelle - und Indien wird in Kürze Platz vier einnehmen. Was bedeutet das für die westlichen Nationen und in ganz besonderen Maße auch für Deutschland? Vor allem eines: Diese Entwicklung fordert uns dazu heraus, ihr mehr Aufmerksamkeit zu widmen und konstruktiv mit ihr umzugehen - und das heißt zuallererst: Asien in seiner ganzen Vielfalt zu entdecken. Eine Aufgabe, der sich dieses Buch stellt. Manfred Lahnstein, einst Finanzminister in der Regierung Helmut Schmidt und seit Jahrzehnten Asienreisender in vielfacher Mission, plädiert für notwendiges Umdenken: 'Wir müssen Asien so sehen, wie es die Asiaten tun. Kenntnis, gedankliche Auseinandersetzung und Respekt - das ist der einzige Weg in die Zukunft, wenn wir nicht ins Abseits geraten wollen.' In seinem Buch unternimmt er Expeditionen, die dem Leser ganz unterschiedliche asiatische Kulturen näher bringen und die Augen öffnen für ein wahrhaft globales Verständnis des Weltgeschehens. Überraschungen garantiert!

Manfred Lahnstein, 1937 geboren, seit 1959 Mitglied der SPD, war in zahlreichen politischen Ämtern tätig. Er war Staatssekretär, Chef des Bundeskanzleramtes und 1982 Finanzminister in der Regierung Helmut Schmidt. Anschließend arbeitete er über 15 Jahre in Führungspositionen der Bertelsmann AG. Er lehrt als Professor für Kulturmanagement in Hamburg und leitet von dort aus seine Unternehmensberatungsfirma. Seit 1996 ist er Kuratoriumsvorsitzender der ZEIT-Stiftung. Lahnstein hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter <EM>Massel und Chuzpe</EM> (2004 bei Hoffmann und Campe), <EM>Die gefesselte Kanzlerin</EM> (2006), <EM>Die offene Wunde</EM> (2007).

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Leseprobe

2   Religiöse und geistige
     Wurzeln


Die religiösen und geistigen Wurzeln Asiens sind ungemein vielfältig, ja unüberschaubar. Wollen wir uns ihnen nähern, müssen wir zunächst von unserer so unterschiedlichen, eurozentrischen Weltsicht Abschied nehmen. Diese, die wir ja auch die »abendländische« nennen, ging aus dem Ineinanderwirken griechischer Philosophie und christlicher Überzeugungen hervor, wobei Letztere ohne ihre Herkunft aus der jüdischen Glaubenslehre unvorstellbar sind.

In Asien haben sich die Dinge aber nicht nur früher, sondern auch deutlicher voneinander getrennt entwickelt. Gewiss, der Buddhismus hat seine prägende Kraft in so gut wie allen asiatischen Ländern östlich des Indus entfaltet. Er ist aber letztlich aus dem Hinduismus und damit der altindischen Kultur erwachsen. In Japan wiederum hat sich mit dem Shintoismus das vielleicht älteste noch existierende religiöse System der Welt bis heute gehalten. Insbesondere in China hat das Gedankengebäude des Kung Fu Tse und seiner Schüler erheblichen Einfluss ausgeübt. Und daneben haben sich andere Glaubens- und Weisheitslehren in großer Fülle behauptet.

Ich möchte auf die wesentlichen dieser Systeme eingehen. Dabei geht es mir vor allem um die Frage, welche Bedeutung sie heute noch für die individuellen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Asien haben.

Mein Überblick ist in zweierlei Hinsicht nicht komplett. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Islam kann hier nicht erfolgen. Sie würde den Rahmen des Buches sprengen. Das ist bedauerlich, spielt er doch für Teile Asiens eine entscheidende Rolle. Einen gewissen Trost mag der Hinweis bieten, dass der Islam geistesgeschichtlich eher in der Auseinandersetzung mit dem Juden- und dem Christentum wurzelt, sodass es zwischen ihm und den großen, alten Religionen Asiens kaum Berührungspunkte gibt. Asien hat gewissermaßen den Islam importiert. Zum anderen kann ich auch den Einfluss, den das Christentum in Asien ausgeübt hat und immer noch ausübt, nicht näher untersuchen.

Der Shintoismus in Japan


Für die Menschen der Frühzeit war die erfahrbare Welt von zahllosen Naturgeistern belebt. Das ist in Japan nicht anders gewesen als bei den Kelten in Irland oder den Indianern in Nordamerika. Ob in den Wäldern, auf den Gipfeln der Berge, in alten Bäumen oder rauschenden Quellen, überall hausten diese Geister; sie lenkten die Natur und damit auch die Geschicke des Menschen.

Auch die alten Japaner machten aus Geistern Götter, denen sie Opfer und Dankgeschenke darbrachten, um sie günstig zu stimmen. Man näherte sich ihren Plätzen erst, nachdem man sich einer rituellen Waschung unterzogen hatte. Für Begräbnisse wurden ähnliche Rituale entwickelt. Den Göttern mussten Wohnsitze errichtet werden, schon um sie in der Nähe zu halten. Und so sind die Shinto-Schreine entstanden. Das können ganz bescheidene Andachtsstätten oder beeindruckende Gebäudekomplexe sein, wie man sie in Japan an vielen Orten findet. Und schließlich, wie anderswo auch, musste das Einhalten der Riten überwacht, mussten die heiligen Stätten gehütet werden. So bildete sich eine shintoistische Priesterkaste heraus.

Als dann der Buddhismus in Japan Einzug hielt und alle Formen des Geisterglaubens fortzuschwemmen drohte, musste auch der Shintoismus in Regeln gefasst werden, um überleben und ein Gegengewicht bilden zu können. Die bis dahin gestalt- und namenlosen Götter erhielten Namen, und die Stätten der Verehrung nahmen feste Gestalt an.

Besondere Bedeutung erlangte in diesem Prozess die Sonnengöttin Amaterasu. Das heute zu jedem Schrein gehörende Torii, jenes unverwechselbare Eingangstor, ist im Kern nichts anderes als eine Stange, von der herunter der Hahn krähte, um Amaterasu aus ihrer Höhle hervorzulocken, damit sie der Welt Licht spende. Und das kunstvoll geknüpfte Seil, am Torii oder auch nur an einem Baum angebracht, soll die Sonnengöttin davon abhalten, in ihre Höhle zurückzukehren.

Auf dem Gelände der Schreine wurden Sonnenbanner aufgestellt, deren Motiv, die rote Scheibe, später zur Nationalflagge Japans wurde. Das hängt auch damit zusammen, dass die kaiserliche Familie und der Hof die Sonnengöttin besonders verehrten. Symbol war und ist hier der lichtspendende Spiegel, den Amaterasu ihrem Enkel mit auf die Erde gab, wo dieser die japanische Kaiserherrschaft begründete. Im wichtigsten aller Shinto-Schreine, dem von Ise an der Ostküste der Halbinsel Kii, werden bis heute die Reichsinsignien Japans aufbewahrt, zu denen neben dem Schwert und den Kronjuwelen auch der Spiegel gehört.

Später kam es zu Mischformen zwischen Shintoismus und Buddhismus, die bis heute existieren. Daran hat sich auch nichts geändert, als nach dem Ende der Shogun-Ära in der Meiji-Zeit des späten 19. Jahrhunderts die Tenno-Herrschaft wieder einsetzte und dieses Kaisertum eine streng shintoistische Grundlage erhielt. Der Shintoismus wurde Staatsreligion und blieb es bis 1945, als die gottähnliche Stellung des Tenno aufgehoben wurde.

Heute, das ergeben Befragungen der letzten Jahre, bezeichnen sich mehr als 80 Prozent der Japaner als Shintoisten, aber auch als Buddhisten – eine wohl einmalige Koexistenz. Und wenn auch der Kaiser heute kein »Himmlischer Herrscher« mehr ist, wird er doch weiterhin hoch verehrt. Das wurde 2011 deutlich sichtbar, als der Tenno nach langen Jahren zum ersten Mal wieder seinen Palast in Tokio verließ, um den Tsunami-Opfern Mut zuzusprechen.

Der Hinduismus und seine Verzweigungen


»Den« Hinduismus gibt es nicht


»Hinduismus«, das ist ein Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Glaubensrichtungen, keine gestiftete Religion mit verbindlichen Lehren. Die große Vielfalt hinduistischer Ausdrucks- und Lebensformen entzieht sich einer genauen Festlegung. Selbst die indische Religionswissenschaft offenbart Resignation, wenn sie folgende Definition anbietet: »Hindu ist derjenige, der von Hindu-Eltern abstammt und der nicht öffentlich dem Hinduismus abgeschworen hat.«

Die ältesten Quellen hinduistischer Mythologie sind die Veden. Sie wurden ab etwa 1500 v. Chr. zunächst mündlich, dann schriftlich überliefert, was sie zu den ältesten noch wirksamen religiösen Texten der Welt macht. In den Upanishaden, zwischen 1000 und 500 v. Chr. niedergelegt, wurden die ursprünglichen Götter zugunsten eines mehr theologisch durchdachten Gottesbildes zurückgedrängt. Noch später reicherten beeindruckende epische Elemente, von denen das Mahabharata und das Ramayana die bedeutendsten sind, die hinduistische Göttermythologie an.

Diese lange und noch nicht abgeschlossene Entwicklungsgeschichte mag erklären, warum der Hinduismus sich so ungemein vielfältig und anpassungsfähig darstellt. Wir können in Indien alles erleben – eine tiefe, mit Aberglauben durchsetzte Volksfrömmigkeit neben dem monotheistischen Bild des Einen Gottes mit tausend Gesichtern, ausgelassene Lebensfreude und strengste Askese, absolute Ehrfurcht vor allem Lebenden und grausame Tieropfer, simplen Wunderglauben und höchst abstrakte Theorien von Materie und Energie, von Raum und Zeit.

Ich will hier auf zwei Kernelemente eingehen, die für das Alltagsleben der Hindus bis heute große Bedeutung haben und sich auch auf die gesellschaftliche Entwicklung des Landes auswirken: die Götterwelt und das Kastensystem.

Das hinduistische Pantheon


Oben in der Rangordnung der hinduistischen Götterwelt thront die »Hindu-Dreiheit«. Diese Götter genießen höchste Verehrung; unzählige Tempel sind ihnen gewidmet.

Da ist Brahma, der Schöpfergott, der üblicherweise mit vier oder fünf Köpfen sowie vier Armen dargestellt wird. Aus seinem Körper sind nach traditioneller Überzeugung die oberen Kasten entsprungen. Da ist Vishnu, der Erhaltende Gott. Seine Frau ist Lakshmi, die Göttin des Glücks und des Überflusses. Und da ist Shiva, der Zerstörende Gott. Er kommt auf dem weißen Bullen Nandi daher. Bilder oder Skulpturen zeigen ihn häufig mit Dreizack und Speer, aber auch mit einem dritten Auge auf seiner Stirn. Und wenn Shiva zornig wird, dann hat der Blick dieses Auges die verzehrende Wirkung des Feuers. Seine Gefährtin ist die achtarmige Schönheit Parvati. Eine ihrer grausigen Erscheinungsformen ist Kali, die schwarzhäutige, blutdürstige Rächerin.

Das aber ist längst keine vollständige Aufzählung. Ganesha darf in ihr nicht fehlen, der Gott der Weisheit, der Patron der Wissenschaften und der Künste, Sohn von Shiva und Parvati, an seinem Elefantenkopf leicht zu erkennen. Oder Rama, der nichts anderes ist als die siebte Inkarnation von Vishnu. Er und seine Gefährtin Sita sind die Hauptfiguren des großen Ramayana-Epos. Sein Begleiter Hanuman, der Affengott, ziert ebenfalls unzählige Hindu-Tempel.

Die Reihe mag mit Krishna, dem Hirten und Flötenspieler, beschlossen werden. Er, der große Betörer, ist die populärste und am meisten verehrte (achte) Inkarnation Vishnus.

Diese und andere Götter sind zentraler Bezugspunkt der praktischen Religionsausübung. Sie werden angebetet und angefleht, ihnen vertraut man sich an und versucht, sie mittels Opfern günstig zu stimmen. Die meisten Inder sind mit diesem Zusammenhang zwischen Opfergabe und Gunst groß geworden. Von ihm mag dann auch eine tief verwurzelte Querverbindung zu Bestechung und Bestechlichkeit führen.

Das Kastensystem


Nach traditioneller hinduistischer Überzeugung wird jeder Mensch in eine ihm bestimmte Kaste geboren, der er nicht entrinnen kann. Nur diese Geburt entscheidet über seinen persönlichen und sozialen Status. Die Sozialisierung vollzieht sich ebenso innerhalb der angeborenen Kaste wie die Heirat, daraus herrührende Ungleichheiten...

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