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Männliche jugendliche Einzelgänger. Eine biographische Studie

Eine biographische Studie

AutorAnnette Weber
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783638037594
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Doktorarbeit / Dissertation aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Pädagogik - Pädagogische Soziologie, Note: magna cum laude, Universität Osnabrück, 165 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Über jugendliche Einzelgänger gibt es noch wenige Untersuchungen. Das mag daran liegen, dass sich diese jugendlichen Einzelgänger eher angepasst und unauffällig verhalten. Zwar wird ihre Randständigkeit innerhalb einer Gruppe bemerkt, ihnen wird jedoch wegen der geringen Störung, die von ihnen ausgeht, nur wenig Beachtung geschenkt. Dabei sind gerade diese stillen, aggressionslosen Einzelgänger sehr gefährdet, einmal im Hinblick auf Suizid, zum anderen in der Weise, dass gerade von ihnen eine plötzliche unvorhergesehene Einzeltat ausgehen kann. Das Buch 'Männliche jugendliche Einzelgänger - eine biographische Studie' stellt die Biographien dieser Jugendlichen ins Zentrum einer Jugendstudie. Die Studie analysiert anhand zehn biographischer Interviews die Erfahrungen, die Einzelgänger in ihren Familien erleben und untersucht, in welcher Weise diese Erfahrungen ihre Einzelgängerpositionen begünstigen. Außerdem analyisert sie die Konstruktionen der sozialen Settings, die sie wählen, um diese Position zu verstärken, zu verändern oder zu verhindern. Dann geht die Studie in einer diachronen Betrachtung der Frage nach, welche Verlaufskurven und Wandlungen sich für die jugendlichen Einzelgänger ergeben und welche Initiative sie ergreifen, um ihre Lebenssituation zu ändern. Zuletzt werden in einem pädagogischen Ausblick Interventionsmöglichkeiten vorgestellt, diesen Einzelgängern zu begegnen.

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Leseprobe

2. Methodischer Ansatz und praktische Durchführung der Studie


 

2.1. Verortung in der Qualitativen Biographieforschung


 

Für die Untersuchung sozialer Entwicklungen und lebensgeschichtlicher Veränderungen bietet sich eine biographisch orientierte Forschung und eine qualitativ interpretative Vorgehensweise an, denn die qualitative Sozialforschung ist eine Sichtweise der sozialen Realität, die methodische Instrumente für die Analyse von sozialen (und damit auch biographischen) Prozessen, „ihren Erzeugungs- und Entfaltungsbedingungen und ihren Funktionsmechanismen“[27] bereitstellt.

 

Die Wahl des Erhebungsverfahrens ergibt sich aus der Fragestellung des Forschungsvorhabens. Da meine Studie über männliche jugendliche Einzelgänger auf individuelle Lebensläufe und Erfahrungsaufschichtungen im Modus von Verlaufskurven[28] bezogen ist, es sich also um eine biographische Zugangsweise vor dem Hintergrund verschiedener Sozialisationszusammenhänge handelt, ist das Erhebungsverfahren des biographischen themenzentrierten narrativen Einzelinterviews für mich relevant.

 

Die Auswertung erfolgt auf der Grundlage der Sequenzanalyse von Fritz Schütze. Dabei wird der transkribierte Text zunächst in Form einer Grobstruktur thematisch gegliedert, anschließend auf Grund erzählanalytischer Aspekte in Sequenzen eingeteilt und feinanalytisch interpretiert.[29] Im Anschluss an die textanalytische Vorgehensweise wird eine fallinterne Feinanalyse erarbeitet, die mit anderen fallübergreifenden Feinanalysen zu einer verallgemeinernden Typenbildung zusammengefasst wird, aus der im Vergleich Kategorien entstehen, die diesen Typus genauer charakterisieren.[30]

 

Die Typengruppierungen werden miteinander verglichen oder kontrastiv einander gegenüber- gestellt, woraus sich zuletzt der Versuch einer Generalisierung ergibt.

 

2.2. Einzelgängertum als „Prozess-Struktur“ und „Verlaufskurve“ (Schütze)


 

Wenn Menschen ihre Biographie erzählen, benutzen sie verschiedene Formen, ihr Leben in einem Gesamtzusammenhang erscheinen zu lassen. Da die Art und Weise, wie biographisches Erzählen strukturiert wird, nicht zufällig ist, sondern Ordnungsmustern folgt, ist es möglich, so die Erkenntnis Fritz Schützes und seiner Mitarbeiter, individuelle Sinn- und Prozessstrukturen aus biographischen Erzählungen zu rekonstruieren. Diese biographischen Erzählungen folgen einerseits Erzählmustern, andererseits sind sie aufgrund der Dynamik der Erfahrungsgeschichte auch Erzählzwängen unterworfen. Dabei betrachtet Schütze die Lebensgeschichte als sequentielle Aufschichtung biographischer Erfahrungen, die größere und kleinere in sich geordneter elementarer Prozessstrukturen einschließen[31] und in jedem Lebenslauf wiederzufinden sind. Schütze versteht somit unter dem Begriff Prozessstrukturen eine Verbindung zwischen den Deutungen und Interpretationen des Biographieträgers mit der von ihm rekonstruierten Lebensgeschichte. Sie verbinden die Objektivität der Lebensgeschichte mit der Subjektivität der Verarbeitung und der Darstellungsform[32]

 

Das biographische Handlungsschema betrachtet Schütze als eine aktive Haltung. Der Einzelne begreift sich als Gestalter seiner Biographie und seiner Handlungen.

 

Da die Lebensgeschichte nach Schütze eine sequentielle geordnete Aufschichtung größerer und kleinerer in sich geordneter Prozessstrukturen darstellt, in denen grundlegende Haltungen der Erzähler und ihre persönlichen Erfahrungen zum Ausdruck kommen, lassen sich in ihnen komplexe Binnenstrukturen feststellen, die formal in vier Grundphänomene getrennt werden können:

 

- institutionelle Ablaufmuster und – erwartungen des Lebenslaufes

 

- Handlungsschemata von biographischer Relevanz

 

- Verlaufskurven

 

- Wandlungskurven und biographische Gesamtformung[33]

 

Unter institutionellen Ablaufmustern und – erwartungen des Lebenslaufes sind die Lebensphasen zu verstehen, die sich an gesellschaftlichen Vorgaben ausrichten. Der Betroffene orientiert sich an einem gesellschaftlichen Fahrplan für eine „ordnungsgemäße“ Biographie und richtet die Bewältigung seines Lebens daran aus. Dazu gehören Schul- und Ausbildungslaufbahn, Eheschließung und Familiengründung, zu denen sich das Individuum in Distanz oder Anpassung zu verhalten hat.[34] Ein Schritt in die Fremdbestimmung besteht also darin, dass sich der Handelnde zwar Institutionen überlassen muss (Schule, Bundeswehr, Arbeit), andererseits aber Handlungsfreiheiten offen bleiben die Zeit auch individuell zu nutzen. Das institutionelle Ablaufmuster gibt zwar einen Lebensplan vor, ob der Einzelne diese Zeit aber für sich nutzt oder seine Eigenständigkeit verliert, ist individuell verschieden. [35]

 

Die Jugendlichen meiner Studie, die auf ein bisher relativ kurzes Leben zurückblicken, benennen Kindergärten, Schulkindergärten und Schulen, Tom sogar Heime und soziale Einrichtungen wie Berufsförderungswerk oder Obdachlosenwohngruppe als bisher relevante entscheidende Institutionen für diese Lebensphase.

 

Das Handlungsschema von biographischer Relevanz beinhaltet Lebenspläne und – entwürfe, die meist intentional gesteuert sind und sich kommunikativ auf einen Interaktionspartner beziehen. Sie verlaufen oft nach einer vorgegebenen Struktur, enthalten eine Ankündigung, eine Durchführung sowie eine Evaluation und Ergebnissicherung[36] und behandeln sowohl episodale Handlungen ohne besondere Bedeutung wie auch Handlungen mit biographischer Relevanz, die eine Veränderung des Selbstkonzeptes beinhalten.

 

Ein typisches Beispiel für eine Handlung mit biographischer Relevanz bietet Tom, der nach einem Diebstahl, dem er einem Heimkameraden anvertraut, erleben muss, dass dieser seinen Diebstahl an einen Sozialarbeiter verrät. Für Tom ergibt sich daraus die Konsequenz niemandem mehr zu trauen.

 

Eine weitere wichtige Kategorie, die Schütze benennt, ist die Verlaufskurve. Sie repräsentiert das Prinzip des Getriebenwerdens durch konditionell verdichtete Verkettungen von Ereignissen, auf die der Betroffene nur noch zu reagieren vermag. Eine Verlaufskurve kann sowohl von außen aus der sozialen Welt des Individuums, als auch aus der Innenperspektive des Betroffenen ausgelöst werden. Der Betroffene zeigt in dieser Situation kein intentionales Handeln, sondern erleidet eine Situation. Dabei wird der Biographieträger von Ereignissen überrascht, die er nicht beeinflussen kann. Es gelingt ihm darum nicht, handelnd in das Geschehen einzugreifen.[37] Er hat das Gefühl mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Es stellt sich bei ihm das Gefühl der Dumpfheit, der Erfolglosigkeit und Gelähmtheit ein, die zur vorherrschenden Haltung wird. Dem Betroffenen gelingt es nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt, eine geplante Handlung durchzuführen, eher sieht er sich dazu verdammt nur noch hilflos zu reagieren. [38]

 

Die klassische Form einer Verlaufskurve beinhaltet die Aufschichtung eines Verlaufskurvenpotentials, das zur Entstabilisierung des Gleichgewichts führt. Der Betroffene gerät ins „Trudeln“, Orientierungszusammenbrüche und Entfremdungen der eigenen Identität können die Folge sein. [39]

 

Schütze teilt diesen Verlaufskurvenprozess in verschiedene aufeinander bauende Stufen, die aber nicht alle individuell zum Tragen kommen müssen.[40] Jede Komponente, die nun dazu führt, dass sich die biographische Entwicklung nicht den eigentlichen Vorstellungen, seien es die eigenen Intentionen, die biographischen Entwürfen oder die Handlungsschemata entwickeln, sondern im Gegenzug dazu eine eigene Dynamik entwickelt und mit der Gefahr verbunden ist, dass sie eine Verlaufskurve auslösen können, wird als Verlaufskurvenpotential bezeichnet [41].

 

Es beginnt damit, dass sich ein Verlaufskurvenpotential allmählich aufschichtet. Diese Aufschichtung erfolgt handlungsschematisch oder ereignisbezogen. Dann kommt es in der Regel zu einem herausgehobenen Ereignis, das die Verlaufskurve als sozialen Prozess auslöst.

 

Der Betroffene gerät nun in eine andere soziale Positionierung, Beziehungen verändern sich.

 

Er versucht seinen Alltag anderes zu strukturieren und zu organisieren. Es entsteht auf diese Weise eine Diskrepanz zwischen den Ereignissen und der inneren Haltung. Auf die Weise macht der Betroffene erste Erfahrungen mit dem  Prozess des inneren Getriebenwerdens. Es gelingt ihm jedoch, ein labiles Gleichgewicht wiederherzustellen, was aber mit viel Mühe und Energie verbunden ist. Die konditionelle Verkettung „äußerer“ Ereignisse [42] ist zunächst aufgehalten, lässt aber den Betroffenen rastlos zwischen seiner inneren Entwicklung und den äußeren Anforderungen zurück.

 

Ein erneutes Auslöseereignis, und sei es auch noch so klein, bringt die mühsam errichtete Ordnung erneut ins Ungleichgewicht. Der Betroffene gerät ins „Trudeln“[43]. Da die Geschehnisse...

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