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Das Problem narrativer Strukturen in den modernen Geschichtswissenschaften

Eine wissenschaftstheoretische Untersuchung zur methodischen Funktion des Narrativen am Beispiel des Konzepts von Hayden White

AutorChristian Adam
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl101 Seiten
ISBN9783638744157
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2003 im Fachbereich Philosophie - Theoretische (Erkenntnis, Wissenschaft, Logik, Sprache), Note: 1,0, Philipps-Universität Marburg (Institut für Philosophie), 90 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Rolle der Erzählung in den Geschichtswissenschaften. Anhand einer Auseinandersetzung mit dem Geschichtstheoretiker Hayden White wird untersucht, welche Bedeutung bestimmte Formen der Darstellung für historisches Wissen haben. Zugleich wird Whites Narrativismus auf seine Geltung und Rechtfertigung hin befragt. Narrativität verweist auf drei Problemfelder, die sich in den Geschichtswissenschaften stellen: Erstens, inwiefern Erklärungen in der Erforschung der Geschichte möglich sind. Zweitens, wie sich der Forschungsgegenstand der Geschichtswissenschaften bestimmen lässt. Und schließlich, wie es um den Anspruch von Historikern steht, wahre Aussagen über die Vergangenheit zu machen. Diese Fragen sind in dieser Auseinandersetzung mit Hayden White methodisch leitend und führen hin zu einer Rekonstruktion seiner Position als möglicher Antwort auf die Frage: 'Was meinen wir, wenn wir von der 'Geschichte' reden?'

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Leseprobe

3. Die Rekonstruktion von Hayden White


 

Nachdem auf den systematischen Standpunkt der Narrativität eingegangen wurde, soll jetzt bestimmt werden, was für ein Bild White von der Geschichtswissenschaft hat. Als Anregung nehme ich dafür Jörn Rüsens Überlegungen zur „disziplinären Matrix“ der Geschichtswissenschaft auf.[94]

 

Rüsen definiert die disziplinäre Matrix als „die für die Geschichte als Fachdisziplin maßgeblichen Faktoren oder Prinzipien des historischen Denkens in ihrem systematischen Zusammenhang“.[95]

 

Nach diesem Modell sind es fünf Faktoren, die die Geschichtswissenschaft charakterisieren und die sie in ein Verhältnis stellen zu dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, in dem sie betrieben wird. Ohne an dieser Stelle näher auf Rüsens eigener Durchführung dieses Vorschlags einzugehen, wird die Idee zur Charakterisierung von Whites Geschichtstheorie genutzt, um damit zu zeigen, welchen theoretischen Stellenwert Narrativität bei ihm hat.[96]

 

3.1. Die konzeptuelle Matrix der Historiographie: Metahistory


 

In dem monumentalen Werk Metahistory: the historical imagination in nineteenth century Europe von 1973 entwirft White ein Schema zur Analyse von historiographischen Werken. In Anlehnung an Rüsens „disziplinäre Matrix“ möchte ich Whites Konzept als eine konzeptuelle Matrix charakterisieren. White möchte zwei Probleme in „Metahistory“ behandeln, erstens entwirft er eine Theorie der Geschichtsschreibung, bzw. möchte einen Beitrag zur „current discussion of the problem of historical knowledge“ leisten.[97] Damit behandelt er ein systematisches Problem in der Theorie der Geschichtswissenschaft. Zweitens liefert er auf der Grundlage dieser Theorie eine Analyse von insgesamt acht Autoren, die für ihn als Exponenten der wichtigsten Positionen im Komplex des „historischen Bewusstseins“ des 19. Jahrhunderts gelten. Diese beiden Punkte sind für ihn systematisch miteinander verbunden, denn die faktische Analyse der „Tiefenstruktur der historischen Imagination“ dieser Zeit soll letztlich eine neue Perspektive auf die aktuelle theoretische Debatte um „nature and function of historical knowledge“ aufzeigen.[98]

 

Der Begriff „Metahistory“ bezeichnet nicht, wie es zunächst nahe liegt, um eine Geschichtsphilosophie, die sich mit dem Nachweis von Gesetzen und dem Wesen des geschichtlichen Verlaufs auseinandersetzt, sondern die Theorie von der Struktur geschichtswissenschaftlicher Werke. Whites Ausgangspunkt ist, dass historische Werke primär als literarische Texte analysiert werden müssen:

 

„In this theory, I treat the historical work as what it most manifestly is: a verbal structure in the form of a narrative prose discourse. Histories (and philosophies of history as well) combine a certain amount of ‘data,’ theoretical concepts for ‘explaining’ these data, and a narrative structure for their presentation as an icon of sets of events presumed to have occurred in times past. In addition, I maintain, they contain a deep structural content which is generally poetic, and specifically linguistic, in nature, and which serves as the precritically accepted paradigm of what a distinctively ‘historical’ explanation should be. This paradigm functions as the ‘metahistorical’ element in all historical works that are more comprehensive in scope than the monograph or archival report.”[99]

 

Eine Definition des Begriffs „Metahistory“ findet sich in dem Buch indes nicht. Nur Whites Verwendung gibt den Hinweis, dass es sich dabei um die Theorie der Geschichtswissenschaft handelt. Seine Auffassung opponiert gegen die Ansicht, dass die fundamentale Struktur eines historischen Werkes in einer theoretischen Fundierung, sprich in Erklärungsmodellen, Begriffsdefinitionen usw. bestehe.

 

„I do not consider the ‚metahistorical’ understructure of the historical work to consist of the theoretical concepts explicitely used by the historian to give his narratives the aspect of an ‚explanation’. I believe that such concepts comprise the manifest level of the work inasmuch as they appear on the ‘surface of the text and can usually be identified with relative ease.”[100]

 

In The Historical Text as Literary Artefact aus seiner Aufsatzsammlung Tropics of Discourse von 1978 gibt White eine Art Definition des Begriffs Metahistory:

 

„One must try to get behind or beneath the presuppositions which sustain a given type of inquiry and ask the questions that can be begged in its practice in the interest of determining why this type of inquiry has been designed to solve the problems it characteristically tries to solves. This is what metahistory seeks to do. It addresses itself to such questions as, What is the structure of a peculiar historical conciousness? What is the epistemological status of historical explanations, as compared with other kinds of explanations that might be offered to account for the materials with which historians ordinarily deal? What are the possible forms of historical representation and what are their bases? What authority can historical accounts claim as contributions to a secured knowledge of reality in general and to the human sciences in particular?”[101]

 

„Metahistory” beschäftigt sich also mit den Grundlagen der Geschichtswissenschaft, mit ihren Voraussetzungen, Methoden, und Geltungsansprüchen. In diesem Sinne könnte man sie als „Historik“ bezeichnen, im Sinne von Jörn Rüsen als eine Meta-Theorie, „die die Vernunftbestimmungen des historischen Denkens in den Fundamenten der Geschichtswissenschaft selber aufdeckt“.[102] Doch White versucht in Metahistory nicht einfach, eine Auswahl von Historikern darzustellen und zu charakterisieren. Er verfolgt ein größeres Projekt, denn die Frage nach dem geschichtlichen Bewusstsein richtet sich auf einen sehr viel allgemeineren Bereich:

 

Es geht darum, „die unterschiedliche Konstitution von Wirklichkeit in der Geschichtsschreibung theoretisch und historisch zu rekonstruieren und daraus Konsequenzen für die Bedingungen der Praxis der Geschichtsschreibung in der Moderne zu ziehen.“[103]

 

Daher lautet der Untertitel von Metahistory auch „The historical Imagination in nineteenth-century Europe“. Das verdeutlicht, warum White neben Historikern auch die Werke von Geschichtsphilosophen behandelt.

 

Er behandelt jeweils vier Historiker, frühe Meister der modernen Disziplin Geschichtswissenschaft und vier Philosophen der Geschichte. Die Autoren sind Klassiker, es sind diejenigen, „who still serve als recognized models of possible ways of conceiving history“.[104] White liest beide Gruppen als Autoren, die sich prinzipiell auf das gleiche Problem beziehen; sowohl Historiker, als auch Philosophen der Geschichte liefern ein mögliches Modell oder Konzept für die Repräsentation des Erkenntnisgegenstandes Geschichte.

 

Die Lektüre vollzieht sich vor der Folie von Whites eigener Konzeption, ohne deren Kenntnis der Leser „buchstäblich nichts“ versteht, wie Jörg Stückrath bemerkt hat.[105] Die Einleitung stellt Whites Kategorienschema vor, das zum einen aus einer Charakterisierung verschiedener inhaltlicher Aspekte der Geschichtswissenschaft besteht, zum anderen eine Theorie der Erklärungen und schließlich der grundsätzlichen Struktur eines Geschichtswerkes beschreibt.

 

Zunächst unterscheidet White fünf „levels of conceptualization“, Stufen der Konzeptualisierung, die eine geschichtliche Arbeit ausmachen: „(1) chronicle; (2) story; (3) mode of emplotment; (4) mode of argument; and (5) mode of ideological implication“.[106] White ordnet die Punkte Chronik und Story der Ebene der konkreten „Ereignisse“ und „Quellen“ zu, also der Ebene, die im allgemeinen der Geschichtsforschung zugerechnet wird, während sich die letzten drei Punkte auf die eigentliche Geschichtsschreibung beziehen.[107] Während die beiden ersten dem Ordnen und Erfassen der eigentlichen „Daten“, dem historischen Material dienen, so sind letztere die Formen, mit denen Historiker einen „explanatory effect“ erzielen, der über das hinaus geht, was die Rohdaten für uns aussagen.[108] Sie geben Antwort auf die Fragen: „What does it all add up to?“, „What is the point of it all?“.[109] Doch muss hier der erklärende Effekt unterstrichen werden, denn bei White haben die drei Formen der Erklärung nicht denselben Geltungsanspruch, wie etwa im Covering-Law-Modell der Erklärung. Die Formen sind eingebettet und machen nur Sinn innerhalb einer narrativen Struktur; jede Form der Erklärung nach positivistischem Verständnis ist, wenn überhaupt, auf der Ebene der Chronik anzusetzen.[110]

 

Die fundamentale Konzeptualisierung des historischen Materials als Gegenstand einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit sieht White in einem „poetischen“ Akt.[111] Aus dem Programm, historische Werke als literarische Texte zu lesen, folgt für White,...

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