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Schillers Spieler und Schurken

AutorJürgen Wertheimer
Verlagkonkursbuch
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783887698379
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Schillers Figuren werden in diesen Essays gesehen als Spieler und Schurken, und ein neuer Blick auf Schillers Modernität tut sich auf: Jeder pflegt sein eigenes System, in dem der andere Spielfigur ist. Pressestimmen: '...ein bemerkenswerter Essay [...] Nebenbei räumt er mit törichten Schiller-Klischees auf [...] Vieles von dem, was Wertheimer in seinem Buch ausführlich darlegt und erläutert, frappiert auf den ersten Blick, leuchtet bei weiterem Nachdenken ein und vermag durchaus auch zu überzeugen. Zumindest macht er uns mit einer ungewohnten Seite von Schiller vertraut und ermöglicht eine neue Sicht auf den Dichter.' (literaturkritik.de) 'Hier wird gegen den Strich gebürstet und so der spielerischen Seite des Genius amüsant nachgespürt [...in] einem klug ausbalancierenden Text.' (Thüringer Allgemeine)

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Leseprobe

Räuber spielen


„Räuber“ – das klingt heute irgendwie harmlos bis romantisch (Seeräuber). Die Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts war anders beschaffen: Marodierende Banden terrorisierten ganze Landstriche. Straff organisierte Gangsterbanden brandschatzten und mordeten im großen Stil – die Ordnungskräfte konnten nur in Einzelfällen etwas dagegen ausrichten. Die Innenansicht einer Bande zu liefern, ein Aggressions- oder Angstpotential zu zeigen, das durchaus dem Vergleich mit Camorra, RAF oder Al-Qaida standhält, solch beachtliche kriminelle Energien auf der Bühne freizusetzen war Risiko und Provokation.

Eine weitere, vielleicht die größte Provokation war es darüber hinaus, das Thema nicht einfach „romantisch“ abzuhandeln – eben à la Robin Hood, im Stile des edlen Räubers –, sondern durchaus ernsthaft, gewalttätig, bösartig, mit allen Gemeinheiten, die dazugehören. Und in diese Banditengruppe galt es nun eine Type als Boss zu platzieren, dem nichts an Skrupellosigkeit fehlt, und dann dennoch zu behaupten, zu zeigen: Es gibt da noch eine ganz andere Seite in ihm. Und die Frage zu stellen, wie er zu dem geworden ist, was man vor sich sieht?

Der junge Schiller ging aufs Ganze und wusste dabei, dass er eines nicht wollte: in der Schublade enden. 1778 – 1779 – 1780 arbeitet er an dem Stoff, bereitet gleichzeitig seinen Medizin-Abschluss vor (vgl. auch hier Büchner) und ist permanent Patient: Zahnweh, Ziegenpeter, Kopfweh, geschwollene Drüsen, Übelkeit, Grippe, verrenktes Knie, kaltes Fieber, Durchfall, Schwächezustände, Drehschwindel, Malaria – es ist, als ob cand. med. F. Schiller sämtliche Krankheiten nicht nur studieren, sondern im permanenten Selbstversuch auch erproben wollte. Immerhin reicht die Kraft aus, um die medizinische Dissertation und ein Drama von Weltrang abzuschließen. Als er 1780 die Militärakademie verlässt, ist beides geschafft. Das Studium mit zwei Arbeiten: 1.) Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, 2.) De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum (Über die Unterscheidung von entzündungsartigen Fiebern und Faulfiebern). Und während die Dissertation redigiert wurde, hatte er de facto zugleich bereits die Drucklegung der Räuber im Sinn. Das hört sich nach einem Leben auf der Erfolgsspur an. Die Realität ist weniger glatt. Der Job als Regimentsmedikus bei einem nicht gerade angesehenen Regiment ist ihm lästig. Die Privatpraxis dümpelt. Der Schuldenberg wächst. Dennoch Druckbeginn und neuerliche Kreditaufnahme. Ein Hickhack um die Details beginnt.

Schiller spielt mit der Idee, das Stück anonym oder unter anderem Namen erscheinen zu lassen. In einem Brief an seinen Freund J. W. Petersen führt er im Dezember 1780 drei Gründe für die Publikation an, um die Reaktionen der Öffentlichkeit erst einmal aus der Distanz auszuloten.

Der erste und wichtigste Grund, warum ich die Herausgabe wünsche, ist jener allgewaltige Mammon, dem die Herberge unter meinem Dache gar nicht ansteht – das Geld. [...] Der zweite Grund ist wie leicht zu begreiffen, das Urtheil der Welt, dasjenige was ich und wenige Freunde mit vielleicht übertrieben günstigen Augen ansehen, dem unbestochenen Richter dem Publicum preißzugeben. [...] Und dann endlich ein dritter Grund, der ganz ächt ist, ist dieser: Ich habe einmal in der Welt keine andre Aussicht als in meinem Fache zu arbeiten. D. h. Ich suche mein Glük und meine Beschäftigung in einem Amt wo ich meine Physiologie und Philosophie durchstudieren und nüzen kan, und wen[n] ich etwas draußen schreibe so ist es in diesem Fache. Schrifften aus dem Felde der Poesie, Tragödien usw. würden mir in meinem Plane, Profeßor in der Physiologie und Medicin zu werden hinderlich seyn. Darum such ich sie hier schon wegzuräumen. [...]

P. S.

Höre Kerl! wenn’s reussirt. Ich will mir ein paar Bouteillen Burgunder drauf schmeken laßen.

Nun, es bzw. er wird „reussiren“. Der Band wird gedruckt und der Text macht Eindruck; er irritiert, frappiert, lässt keinen kalt. Vor allem nicht die wenigen, die das „komische“ Buch zu Gesicht bekommen.

Christian Friedrich Schwan beschreibt in einem Brief an Körner (14. Juli 1811) retrospektiv die näheren Umstände:

Schiller hatte dieses noch in der Carlsschule geschriebene Stück ins geheim bey einem Buchdrucker in Stutgardt drucken lassen. Öffentlich durfte es dort um so weniger erscheinen, da mehrere Hauptrollen darin unverkennbare Characterzüge von einigen Vorgesetzten und Aufsehern in dieser Anstalt enthielten. [...]

Scharffenstein ergänzt:

Nun ging‘s an den Accord mit einem subalternen Buchdrucker, der, dem Ding nicht trauend, es nicht anders als auf Schillers Unkosten übernahm. Diese Edition, fast Fließpapier, sah aus wie die Mordgeschichten und Lieder aus Reutlingen, die von Hausirern herumgetragen werden. Unbeschreibliche Freude machten die ersten Exemplare; inzwischen, da der Kram, der in Gottes Namen und ohne alle Kundschaft veranstaltet worden war, wenig Abgang hatte, sah Schiller nachdenklich den Wachsthum des Haufens mit komisch bedenklichen Augen an.

Eigentlich ein hoffnungsloses Unterfangen. Und Schiller verleiht dieser provozierenden Hoffnungslosigkeit in der „unterdrückten Vorrede“ zum Drama rhetorisch geschickt Ausdruck:

Nun ist es aber nicht [...] die Masse meines Schauspiels als vielmehr sein Inhalt, der es von der Bühne verbannet.

Ein unschickliches, deplaziertes Stück sei es, denn es verstoße gegen alle nur denkbaren dramatischen und theatralischen Regeln, Einheiten, Tabus und Normen. Der junge Büchner wird vierzig Jahre später ganz ähnlich argumentieren.

Entweder man schreibt ein Stück nach den Regeln der Kunst. Oder man schreibt ein Stück nach der Wirklichkeit. Nämlich nach der komplexen psychischen und physischen Wirklichkeit der menschlichen Natur in all ihrer Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und Indezenz. Wann immer ein deutscher Dichter des 18. Jahrhunderts auf Nummer sicher gehen will, zieht er argumentativ gegen die „Franzosen“ zu Felde; so auch der junge Schiller. Was man dort auf den Bühnen zu sehen bekomme, seien „[...] doch selten mehr als eiskalte Zuschauer ihrer Wut, oder altkluge Professore[n] ihrer Leidenschaft“. Stücke wollten sie, so Karl Moor (1.2), wie von einem französischen Tragödienschreiber „auf Stelzen geschraubt“ und mit „Drahtfäden gezogen“. Oder, um mit Camille Desmoulins aus Dantons Tod zu sprechen, „Marionette[n] wo man den Strick hereinhängen sieht, an dem sie gezerrt werden“. „Gefühlchen“, „Begriffe“, die auf der Bühne herumstehen, Rock und Hosen tragen, wie Menschen aussehen und bei jedem Schritt in „fünffüßigen Jamben krachen“. Ganz anders Schiller, so Schiller. Wer wirklich lebendige Menschen malen will, der muss Dinge zeigen, „die das feinere Gefühl der Tugend [beleidigen], und die Zeitlichkeit unserer Sitten empört“. Jeder Menschenmaler, so Schiller weiter, „ist in diese Notwendigkeit gesetzt, wenn er anders eine Kopie der wirklichen Welt, und keine idealische Affektationen, keine Kompendienmenschen will geliefert haben.“ Also gelte es, grelle Kontraste, lasterhafte Vorgänge in ihrer „nackten Abscheulichkeit“ zu enthüllen und in „kolossalische[r] Größe“ darzustellen. Mehr noch, nicht nur, was die Dimension, sondern auch was die Qualität der Regelverstöße betrifft, so gelte es, rücksichtslos, rückhaltlos zu sein; Schiller empfiehlt eine ästhetische Rosskur:

Das Laster wird hier mit samt seinem ganzen inneren Regelwerk entfaltet. Es [...] skelettisiert die richtende Empfindung [...]. Ich habe versucht [...] die vollständige Mechanik [s]eines Lastersystems auseinanderzugliedern [...] Ich denke, ich habe die Natur getroffen.

Was diese vermeintliche oder faktische Orientierung an der „Natur“ Wahrheit betrifft, so geht Schiller noch einen Schritt weiter. Sein Hauptanliegen: Ambivalenz und innere Widersprüche zu zeigen. In Schillers dramatischem „Karikaturen-Register“ trifft man folgerichtig

[…] Bösewichter an, die Erstaunen abzwingen, ehrwürdige Missetäter, Ungeheuer mit Majestät; Geister, die das abscheuliche Laster reizet, um der Größe willen [...] Man stößt auf Menschen, die den Teufel umarmen würden, weil er der Mann ohne seinesgleichen ist [...] Mit einem Wort, [...] man wird meinen Mordbrenner bewundern, ja fast sogar lieben.

Satan, Nero, Medea, Macbeth, Richard II. – alles faszinierende Raubtiere, die nicht einfach mit einem Wort zu umreißen sind – und: die erst zu dem geworden sind, was sie sind. Und ob einer ein Brutus oder ein Katilina wird – das entscheiden Zufälle, Kräfte, Konjekturen, Bedingungen unterschiedlichster Art.

Schillers Studien zur Mechanik der „Maschine Mensch“ begannen auf der Karlsschule. Ob er bei einer Leichenöffnung zugegen war oder einen Kommilitonen, der unter schweren Depressionen litt, betreute; ob er den Herzog als väterlichen Tyrannen oder tyrannischen Übervater erlitt: Stets analysierte er diesen internen Zusammenhang, der aus einem sich selbst und die anderen reflektierenden Wesen ein Individuum der besonderen Art werden lässt. Das berühmte „Keiner ist eine Insel“ – bei Schiller wird das Wort zur dramaturgischen Zentralprämisse. Und die ungleiche-Brüder-Konstellation musste sich seinem Denken in Kontrastmodulen geradezu aufdrängen: Franz und Karl, das ist wie Kain und Abel, dazu gibt es in Gestalt des Vaters auch noch den lieben Gott – und schon ist die dramatische Grundkonstellation, eine geradezu archetypische Grundkonstellation fertig. Unter der Prämisse, dass nun eine dynamische Geschichte die potentiellen...

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