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E-Book

Ein Jahr in Tel Aviv

Reise in den Alltag

AutorChristiane Wirtz
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451802652
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die 'Stadt, die niemals schläft', steckt voller Kontraste: Schick und mondän, mit legendärem Nachtleben, ein Strandparadies - und doch voll der jüdischen Tradition. Ein Leben in der Ausnahmesituation - Christiane Wirtz ist der Faszination verfallen.

Christiane Wirtz ist Juristin, arbeitete als freie Journalistin u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung und DIE ZEIT. Derzeit ist sie Redakteurin beim Deutschlandfunk.

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Leseprobe

Vor dem Jahr


An jenem Abend, kurz bevor ich an Bord der El Al ging, sagte ich Frau Fröhlich den Kampf an. Genau genommen war Frau Fröhlich das Fräulein Fröhlich, auch wenn das keiner so sagte, und wahrscheinlich hatte unser Kampf schon vor einer Ewigkeit begonnen, aber das wusste ich erst in dem Augenblick, in dem der Flug LY 352 zum ersten Mal aufgerufen wurde.

„Ich kann deinen Vater jetzt nicht stören“, sagte sie, während ich mein Mobiltelefon fest an mein Ohr presste. „Herr Dr. Lindemann ist gerade bei ihm.“ Um mich herum redeten alle wild durcheinander, ich konnte kaum ein Wort verstehen und suchte mir eine ruhige Ecke am Fenster. Neben der Maschine hatte die Bundeswehr zwei Panzer bereit gestellt, die uns über das Rollfeld begleiten würden, bis wir deutschen Boden verlassen hatten. Ich ließ meine Augen durch den Raum gleiten, auf der Suche nach einer Toilette. Mein Magen-Darm-Trakt hielt mich schon seit Tagen auf Trab. Ich hatte mir inzwischen abgewöhnt, feste Nahrung zu mir zu nehmen, und eine Vorratspackung Imodium in die Reiseapotheke gepackt.

„Ich bin schon in Schönefeld. Könnten Sie ihm das bitte ausrichten“, sagte ich zu Fräulein Fröhlich und sah, wie sie am anderen Ende des Telefons ihre akkurat gezupften Augenbrauen in die Höhe zog. Sie arbeitete schon seit mehr als dreißig Jahren in der Kanzlei meines Vaters. Ihre Gewichtigkeit war parallel zu seiner Karriere gewachsen, während sie mich noch immer für die Fünfjährige hielt, die, es war einmal, auf ihrem Schoß sitzen und mit der Schreibmaschine spielen durfte. Einen Moment, den sie perfekt zu setzen wusste, hörte ich nur ihr Schweigen in der Leitung.

„Augenblick“, sagte sie dann, immerhin, soviel Absolution hatte selbst sie noch nötig, und hängte mich in die Warteschleife. Draußen sah ich zwei Soldaten, die mit schweren Stiefeln über das Rollfeld liefen und in die beiden Panzer kletterten.

„Es geht jetzt wirklich nicht“, sagte Fräulein Fröhlich, als sie zurück zu mir in die Leitung kam, und ich bildete mir ein, eine gewisse Befriedigung in ihrer Stimme zu hören. „Du weißt doch, Herr Dr. Lindemann. Sie besprechen sich in einer wichtigen Sache.“

Herr Dr. Lindemann, selbstverständlich, Herr Dr. Lindemann, oberste Priorität, Herr Dr. Lindemann, absolute Diskretion. Dieser Name war mir seit frühester Kindheit vertraut. Die Familie Lindemann hatte vor Generationen ein Verlagshaus am Rhein gegründet, ein renommiertes, versteht sich von selbst, und Herr Dr. Lindemann genoss das Privileg, als einziger Klient meines Vaters sogar am Wochenende bei uns zu Hause anrufen zu dürfen.

„Wir melden uns dann bei dir“, hörte ich Fräulein Fröhlich sagen. – „Mein Flug geht in zwanzig Minuten.“ – „Na, dann wollen wir mal hoffen, dass da bei dir alles gut geht“, sagte sie in einem Tonfall, der mich augenblicklich an Mahmud Ahmadinedschad und Hassan Nasrallah, Mord und Todschlag, Kain und Abel denken ließ. Wenn ich länger darüber nachdachte, war ich mit Unruhen im Magen-Darm-Trakt eigentlich noch glimpflich davon gekommen. Aber ich wollte nicht länger darüber nachdenken. Den Gefallen tat ich ihr nicht.

„Wäre nett, wenn Sie es vor dem Abflug noch einmal versuchen könnten“, sagte ich mit einem Poker Face in der Stimme und drückte auf die rote Taste meines Telefons. Ich versuchte es noch einmal unter „Papa mobil“, doch auch dort meldete sich nur die Stimme einer Frau, die mich aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Draußen vor dem Fenster krochen die beiden Panzer schwerfällig unter die Tragflächen – einer rechts und einer links – und brachten sich neben der Maschine in Position. Dann wurde der Flug LY 352 zum zweiten Mal aufgerufen.

Ich behielt mein Telefon bis zur letzten Minute in den Händen. Im Grunde hatte ich mich von meinem Vater nur verabschieden wollen, bevor ich el al ging, was so viel hieß wie nach oben. Wobei … Natürlich ging es um weit mehr als nur um einen Abschied, seinen Segen für diese Reise wollte ich mir abholen, doch den verweigerte er mir hartnäckig. Seit einigen Wochen vermied er es so gut es ging, mit mir zu reden. So in ganzen Sätzen meine ich. Erst als die Stewardess durch den Gang lief, um die Anschnallgurte zu kontrollieren, schaltete ich das Telefon aus und ließ es in meiner Handtasche verschwinden. Dann meldete sich der Kapitän aus dem Cockpit und wünschte uns eine angenehme Reise.

Diese Reise hatte an einem Karfreitag begonnen. Ich war wie jeden Tag in die Kanzlei gegangen. Offiziell hatte ich mich darüber beschwert, dass ich arbeiten musste, aber was will man machen, eigentlich war ich darüber gar nicht so unglücklich. Immerhin waren Ostern vier freie Tage und meine Freunde waren allesamt in den Schnee gefahren. Um mich selbst von meiner Unabdingbarkeit zu überzeugen, hatte ich einem wichtigen Klienten versprochen, dass unser Vertragsentwurf am Dienstag nach Ostern bei ihm sein würde.

Von meinem Schreibtisch aus sah ich die Lichter Berlins, die Kuppel des Reichstags und den neuen Hauptbahnhof, es war inzwischen dunkel geworden. Ich druckte den Vertrag noch einmal aus, um ihn Korrektur zu lesen, und checkte zum hundersten Mal an diesem Tag meine Mails. Ich konnte kaum glauben, dass ich heute noch keine einzige bekommen hatte. Dabei wartete ich auf nichts bestimmtes, ich sehnte mich einfach nach einem verschlossenen Umschlag in meinem Postfach. Meine Hand führte die kabellose Maus immer wieder auf „Senden/Empfangen“, worauf mein Computer gebetsmühlenartig wiederholte, dass er die angeforderten Aufgaben erfolgreich ausgeführt habe. Ohne allerdings eine Nachricht zu hinterlassen. Nichts geschah. Im Grunde geschah schon seit Jahren nichts. Geschweige denn etwas Positives. In der Woche nach meinem Zweiten Staatsexamen hatte ich mein Büro in der 10. Etage bezogen, seitdem sammelte ich täglich billable hours und wartete darauf, endlich Partnerin in der Kanzlei zu werden. Vor einem halben Jahr hatte meine Internistin eine chronische Magenschleimhautentzündung diagnostiziert, seitdem ging ich einmal in der Woche zum Yoga, was es auch nicht viel besser machte. Nachts träumte ich von einem Flugzeug, das ich zu verpassen drohte, die riesigen Zeiger einer Bahnhofsuhr, mir fehlte das Ticket, ich steckte im Stau fest oder fand meine Autoschlüssel nicht. Morgens wusste ich nie, ob ich das Flugzeug tatsächlich verpasst hatte. Ich wachte jedes Mal auf dem Weg dorthin gestresst auf.

Mein Blick grub sich immer tiefer in den Bildschirm des Computers, während das Postfach vor meinen Augen langsam verschwamm. Keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen hatte, jetzt kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Irgendwann nahm ich meinen Mantel aus dem Schrank und ging die Treppen hinunter auf die Straße. Ich lief über die Potsdamer Straße nach Hause, in Berlin war es noch einmal kalt geworden, die Luft brannte in meinen Lungen. Als ich den Winterfeldmarkt erreichte, bauten die Händler dort ihre Obst- und Gemüsestände für den nächsten Morgen auf.

Am Dienstag nach Ostern rief meine Sekretärin an und sagte, dass sie den Vertragsentwurf nirgends finden könne. Der Mandant habe schon ein paar Mal angerufen. Ich fuhr sofort ins Büro. Und änderte mein Passwort. Jeden Morgen, noch bevor ich den Mantel in den Schrank gehängt hatte, schrieb ich „raus&hier“ in die Maske auf dem Bildschirm und der Computer setzte sich in Bewegung. Ein gutes Zeichen, wie ich fand. Es vergingen einige Wochen, in denen ich mein kleines Geheimnis nur mit der EDV-Hotline teilte. Mit sonst niemandem.

Eine Woche nach meinem 35. Geburtstag ließ ich mir endlich einen Termin bei meinem Chef geben. Auf einmal hatte ich es wahnsinnig eilig. Das Risiko schien mir zu groß, dass ich mit der Zeit auch den Mut verlieren würde.

Mein Chef war ein alter Freund meines Vaters, sie hatten gemeinsam in Heidelberg studiert, und ich hatte schon mein erstes Praktikum in seiner Kanzlei gemacht. Als ich in sein Büro kam, ließ er zwei Tassen Tee bringen.

„Nun, wie geht es dir?“, fragte er sichtlich gut gelaunt. Offensichtlich gab es in seinem Leben keinen Grund zur Klage. „Hmm … ganz gut“, murmelte ich. „Aber ich kündige.“

Damit war es erst einmal raus. Alles was danach kam, waren hilflose Erklärungen dessen, was er ohnehin nicht verstehen würde. Ich verstand ja selbst nicht alles. Für einen Augenblick kam ich mir vor wie in einer Filmszene, ich sah mich vor seinem großen Schreibtisch sitzen, hinter ihm die Regale mit den Gerichtsentscheidungen der vergangenen hundert Jahre. SIE redete und redete und redete, war in einem Redefluss versunken, während ER unendlich langsam mit dem Löffel in seiner Teetasse rührte.

Als ich wieder auftauchte, war es still.

„Und was sagt dein Vater dazu?“, fragte er schließlich. „Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.“ – „Hast du denn schon eine Vorstellung davon, wie du dein Geld verdienen willst?“ – „Ein paar Ideen. Aber genau weiß ich es noch nicht.“ Das schien ihn erst einmal zu beruhigen. Jedenfalls legte er den Löffel auf seine Untertasse und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Was meinst du. Vielleicht nimmst du erst einmal ein bisschen Urlaub. Sechs Wochen, wenn du willst. Dann kannst du dir über alles klar werden.“ Noch vor drei Monaten hätte ich jetzt einfach „ja“ gesagt, mich bedankt und glücklich sein Büro verlassen. Doch inzwischen war ein Teil von mir bereits losmarschiert, hatte sich selbständig gemacht und war nicht mehr aufzuhalten. „Das ist nett, vielen Dank. Aber ich glaube nicht, dass ich danach zurückkommen würde.“ – „Ich schlage vor, du gehst jetzt nach Hause und denkst noch einmal nach“, sagte er mit der Zuversicht dessen, der mich als ein...

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