Der Naturforscher Charles Darwin veröffentlicht in London am 24. November 1859 Das Buch „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der begünstigsten Rassen im Kampf ums Dasein.“
Im Kampf ums Überleben werden die schlecht Angepassten durch natürliche Auslese, durch Selektion, ausgemustert. Bei Darwin geht es um verschiedene Pflanzen und Tiere wie z.B. um Purzeltauben und Misteldrossen. Spätere deutsche Interpretationen begründen die Sterilisierung und Ermordung von Menschen mit dem Kampf ums Dasein.
Der Arzt Alfred Ploetz veröffentlicht 1895 sein Hauptwerk: „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Die Grundlinien einer Rassenhygiene.“ Die Begriffe Eugenik („wohlgeboren“) und Rassenhygiene werden synonym benutzt.[3] Laut Alfred Ploetz ist es nur Paaren mit bester Erbmasse erlaubt, Kinder zu zeugen. Die Züchtung von Menschen ist staatlich zu regeln.[4] Schwache Menschen sind minderwertige Menschen, Hilfe ist reine Gefühlsduselei:
„Wer sich dann in dem Ökonomischen Kampf als zu schwach erweist und sich nicht erhalten kann, verfällt der Armuth ihren ausjätenden Schrecken. […] Solche und andere humane Einstellungen
wie Pflege der Kranken, der Blinden, der Taubstummen, überhaupt aller Schwachen, hindern oder verzögern nur die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl. Besonders Dinge wie Krankheits- und Arbeitslosen- Versicherung, wie die Hülfe des Arztes, hauptsächlich des Geburtshelfers, wird der strenge Rassenhygieniker nur ein missbilligendes Achselzucken haben. Der Kampf um's Dasein muss in seiner vollen Schärfe erhalten bleiben.“[5]
Ab 1904 gab Alfred Ploetz eine Zeitschrift heraus mit dem sehr komplizierten Titel: „Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene. Zeitschrift für die Erforschung des Wesens von Rasse und Gesellschaft und ihres gegenseitigen Verhältnisses, für die biologischen Bedingungen ihrer Erhaltung und Entwicklung, sowie für die grundlegenden Probleme der Entwicklungslehre.“
Der Psychiater Ernst Rüdin dessen Schwester Pauline mit Ploetz verheiratet ist, gestaltete ab 1905 die Zeitschriften. Eine vielversprechende Ehe: Rassenhygiene und Psychiatrie verschwägern sich.[6] Darüber später mehr.
Alfred Ploetz gehört 1905 zu den Mitbegründern der „Gesellschaft für Rassenhygiene.“ Die Gesellschaft wird fünf Jahre später in „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene“, umbenannt. Unter den Mitgliedern sind: Der Erbbiologe Fritz Lenz, der Rassenforscher Eugen Fischer, der Autor Gerhart Hauptmann, der sozialdemokratische Hygieniker Alfred Grotjahn, der Verleger Julius Friedrich Lehmann, der Botaniker Erwin Baur. Dies ist die erste Rassenhygienische Gesellschaft der Welt.[7]
Emil Kraeplin, einer der berühmtesten Psychiater des Zwanzigsten Jahrhunderts, veröffentlicht 1909 sein Hauptwerk: „Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte.“ Hierin veröffentlicht der Münchner ein verhängnisvolles Krankheitsbild: Geisteskrankheiten sind vererbt und degenerativ. Die „dementia praecox“ („Jugendirresein“), später Schizophrenie genannt, würde gesetzmäßig zur Verblödung, zum geistigen Tod führen.
Das Lehrbuch von Emil Kraeplin hat fatale Folgen.
Beispielsweise wurde die Tochter von Johanna Neuhaus, eine der ersten deutschen Zahnärtinnen, Luise, 1922 in die Psychiatrie in Merxhausen eingewiesen. Im Aufnahmeprotokoll ist vermerkt: „Pat. leidet an Dementia praecox, eine Heilbarkeit ist ausgeschlossen.“ Luise Neuhaus endet später in der Vergasungsanstalt Hadamar. Zuwendung und Therapie hat sie nie erfahren, da ihre Krankheit ja gesetzmäßig zur Verblödung führen musste.[8]
Karl Binding veröffentlicht 1920 die 62 Seiten schmale Schrift: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form.“ Der Begriff lebensunwert entstammt dieser Veröffentlichung. Binding war Reichsgerichtspräsident und lehrte 40 Jahre Recht in Leipzig. Er galt als der führende Vertreter des Rechtspositivismus, wonach der Wille des Staates allein rechtens ist.[9] Der erste Teil des Bändchens ist von Karl Binding verfasst.
Bindings Kernfrage, die er selbst beantwortet:
„Gibt es Menschen, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?
Man braucht sie nur zu stellen, und ein beklommenes Gefühl regt sich in Jedem, der sich gewöhnt hat, den Wert des einzelnen Lebens für den Lebensträger und für die Gesamtheit einzuschätzen. Er nimmt mit Schmerzen wahr, welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir darauf verwenden, um lebensunwertes Leben so lange zu erhalten, bis die Natur – oft so mitleidlos spät sie der letzten Möglichkeit der Fortdauer beraubt.
Denkt man sich gleichzeitig ein Schlachtfeld, bedeckt mit Tausenden toter Jugend, oder ein Bergwerk, worin schlagende Wetter Hunderte fleißiger Arbeiter verschüttet haben, und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben – und man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit im größten Maßstab auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite.“[10]
Laut Ernst Klee wurden zu dieser Zeit „Geisteskranke“ und geistigbehinderte Menschen nicht mit „Sorgfalt“ gepflegt sondern unter widrigsten Umständen in Psychiatrien verwahrt. Außerdem ließ man schon während des ersten Weltkriegs (1914 – 1918) in Deutschland 50 % der Psychiatrie-Patienten qualvoll verhungern.[11]
Laut Binding dürfen alle „unheilbar Blödsinnigen“ getötet werden da:
„Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte. Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke – außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder der treuen Pflegerin.“[12]
Die Tötung eines lebensunwerten Menschen muss von einer Kommision laut Binding (zwei Ärzte und ein Jurist) einstimmig beschlossen werden. Der Jurist Binding äußert sich auch dazu, wenn ein Irrtum seitens der Gutachter vorliegt.:
„Nimmt man aber auch den Irrtum einmal als erwiesen an, so zählt die Menschheit jetzt ein Leben weniger. Dies Leben hätte vielleicht nach glücklicher Überwindung der Katastrophe noch sehr kostbar sein können: meist aber wird es kaum über den mittleren Wert besessen haben. Für die Angehörigen wiegt natürlich der Verlust sehr schwer. Aber die Menschheit verliert infolge Irrtums so viele Angehörige, dass einer mehr oder weniger wirklich kaum in die Waagschale fällt.“[13]
Hier wird deutlich, dass für Binding eine einzelne Person nichts zählt.
Alfred Hoche, Pfarrersohn und Direktor der Universitätsnervenklinik in Freiburg ist Autor des zweiten Teils des Buches: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Zweite Auflage“
Die „Vollidioten der Allgemeinheit“ (heute: geistig behinderte Menschen, die zu dieser Zeit meist in psychiatrischen Anstalten untergebracht sind) belasten Alfred Hoche am meisten. Diese „Vollidioten“ würden laut Hoche „ein ungeheures Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung, Heizung dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entziehen. Hoche verdeutlicht seine Abscheu und seinen Hass in folgender Ausführung:
„Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. […] Unsere deutsche Aufgabe wird für lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerte Zusammenfassung aller Möglichkeiten, Freimachen jeder verfügbaren Leistungsfähigkeit für fördernde Zwecke. Der Erfüllung dieser Aufgabe steht das moderne Bestreben entgegen, möglichst auch die Schwächlinge aller Sorten zu erhalten, allen, auch den zwar nicht geistig toten, aber doch ihrer Organisation nach minderwertigen Elementen Pflege und Schutz angedeihen zu lassen – Bemühungen, die dadurch ihre besondere Tragweite erhalten, daß es bisher nicht möglich gewesen, auch im Ernst nicht versucht worden ist, diese...