Stalkingtagebuch Teil 1: Der Horror nimmt seinen Lauf
26. April 2012: Anonyme Anrufe
Nachts. Berlin. Ich hatte einen schönen Abend mit Freunden, sitze gut gelaunt im Taxi und höre meine Mailbox ab. Ein Anrufer hat keine Nummer, aber eine Nachricht hinterlassen, er befriedigt sich darauf selbst.
Ich sage zum Taxifahrer: »Seltsam, der Typ muss sich verwählt haben.«
Der Taxifahrer erwidert: »Diese Stadt ist voller Irrer. Man muss vorsichtig sein.«
Ich frage den netten Taxifahrer: »Mal ehrlich, würden Sie so was machen, eine wildfremde Frau anrufen und sich selbst befriedigen? Was könnte ein Mann daran spannend finden?«
Der Taxifahrer antwortet: »Keine Ahnung, mich würde das nicht antörnen, aber es gibt ja viele Perverse.«
Ja, es gibt viele Perverse! Ich war ein Mensch, der an das Gute in seinen Mitmenschen glaubte. Glauben wollte. Die Erfahrungen, die ich seit der Walpurgisnacht 2012 bis heute machen musste, haben mich zu einem anderen Menschen gemacht. Ich glaube inzwischen nicht mehr bedingungslos an das Gute in meinen Mitmenschen. Natürlich habe ich auch vor dem 30. April 2012 gewusst, dass das Böse in jedem Menschen steckt, und die Kunst des Lebens darin liegt, das Gute überwiegen zu lassen. Viele Menschen schaffen das. Mein Stalker nicht. Vielleicht ist er nur böse, vielleicht ist er psychisch krank, möglicherweise ist er beides. Seine Taten entschuldigt das nicht.
27. April 2012 Obszöne Anrufe
Der Abend nach der Taxifahrt. Ich sitze mit einem Freund gut gelaunt und entspannt auf dem Balkon, wir trinken Wein, ein Anruf. Ein Unbekannter ist am Apparat. Er stöhnt. Ich lege auf. Ich ahne, dass der Anruf vom vorangegangenen Tag und dieser nun kein Zufall mehr sind. Ich habe keine Ahnung, wer der Anrufer sein könnte. Ich kann es mir nicht erklären, aber an einen Menschen, der sich verwählt oder zufällig meine Nummer gewählt hat, glaube ich nun nicht mehr.
Aus heutiger Sicht scheint es mir wie ein Aufwärmen, bevor ein großes Spiel beginnt. Es wird ein seltsames, unbarmherziges Spiel: Der Anrufer ist der Jäger, ich bin die Gejagte. Es gibt offenbar keinen Grund für sein Spiel …
28. April 2012 Dasselbe Spiel
Am nächsten Abend wiederum dasselbe Spiel. Ich lege auf und gehe ab sofort nur noch ans Telefon, wenn ich die Nummer des Anrufers identifizieren kann. Ich frage Freundinnen, ob ihnen Ähnliches widerfahren sei. Einige staunen, andere erzählen von ihren Erlebnissen. Mindestens ein Drittel meiner Freundinnen hat ähnliche Anrufe erlebt. Aus praktischer Sicht kann man sagen: Das spart die hohen Telefonsexgebühren. Aus moralischer Sicht muss man sagen: Liebe Männer, lasst das bitte. Ich kenne keine Frau, die das toll findet, und das müssten die anonymen Stöhner unter anderem daran erkennen, dass die Frauen auflegen. Wortlos. Grußlos. Wem die Ohren wehtun, der hat’s verdient, dann hat die Angerufene zur Trillerpfeife gegriffen. Ein einfaches, aber wirksames Gegenmittel.
29. April 2012: »Ich bring dich um!«
Anruf vier wird mich das Stöhnen des Anrufers bei seinen ersten Anrufen schnell als vergleichsweise harmlos vergessen lassen und mein Leben grundlegend verändern: Es wird mir mit Mord gedroht. Der Anruf kommt in der Nacht vor der Walpurgisnacht, und bis heute frage ich mich, wie der Täter so blöd sein konnte, seine Nachricht auf meiner Mailbox zu hinterlassen. Sie liegt seitdem gut verwahrt an einem sicheren Ort. Eines Tages, wenn es zum Prozess kommen wird, wird diese Nachricht ein wichtiges Beweismittel sein. Da ich nachts mein Handy auf lautlos gestellt habe, höre ich die Mailbox erst am nächsten Morgen in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit ab. Was ich höre, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Eine verzerrte Männerstimme sagt: »Silvia, am 1. Mai wirst du umgebracht.« Diese Walpurgisnacht wird zum unvergesslichen Horror für mich: Wer will mich umbringen? Und warum?
30. April 2012: Gute Polizisten, schlechte Polizisten
S-Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Ich treffe auf einen Polizisten und frage ihn, wo der nächste Polizeiabschnitt ist. Ich erzähle ihm kurz, was vorgefallen ist. Er ist hilfsbereit und freundlich, schaut mich teilnahmsvoll an und sagt nachdenklich etwas, was ich im Stress der Stunde nicht richtig einordnen kann, was mir nachher aber noch oft einfallen wird: »Ich wünsche Ihnen viel Glück und dass es bald aufhört. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie an die richtigen Polizisten geraten.«
»Gibt es falsche Polizisten?«, denke ich mir, bevor ich weitereile zum nächstgelegenen Polizeiabschnitt. Für mich sind Polizisten meine Freunde und Helfer, ich habe weitgehend gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Und wenn nicht, dann lag es meistens daran, dass ich zu schnell gefahren bin oder falsch geparkt habe. Bei genauer Betrachtung war ich daran natürlich selbst schuld. Gerade in Berlin finde ich es bewundernswert, wenn jemand den Beruf des Polizisten ausübt. Ich war einmal dienstlich auf einer 1.-Mai-Demo in Kreuzberg, und ich werde nie vergessen, wie Polizisten, die vermutlich aus ganz Deutschland kamen, zusammengepfercht in einem winzigen Bus saßen und einen Stadtplan studierten. Sie taten mir leid, weil sie an einem Feiertag in einer fremden Stadt Dienst tun mussten.
Ich fühle mich wie in Trance, als wäre ich von meinem bisherigen Leben völlig abgeschnitten, und frage, als ich auf der Polizeistation eintreffe, ohne weiter darüber nachzudenken, ob ich mit einer Beamtin sprechen könne. Ich schildere kurz, was vorgefallen ist, die Polizisten sind sehr nett und verständnisvoll. Während ich warte, betritt ein junges Paar die Polizeistation, die beiden sind Touristen und sehr aufgeregt, man hat ihnen eine Tasche geklaut. Ich sitze ein paar Meter entfernt und frage mich, ob der unbekannte Anrufer irgendwo in der Nähe ist und ob er seine Drohung wahr machen wird – und wenn ja, wie.
Wie gern hätte ich die Probleme der beiden Touristen! Natürlich sind sie aufgeregt, aber ich denke mir, was ist eine geklaute Tasche schon gegen eine Morddrohung. Ich befand mich in einer von jenen Situationen im Leben, in denen ich gern mit anderen tauschen würde. Aber das Leben ist unerbittlich: Mein Problem bleibt meines – und wird es lange bleiben. Heute Morgen nach dem Aufstehen war ich noch ein froher, ausgeglichener Mensch – wenige Stunden später fühle ich mich, als lebte ich unter einer Glasglocke, die zusätzlich mit Watte gefüttert ist.
Stunde um Stunde vergeht. Ich sitze in einem Raum, mir gegenüber die Polizistin, die meinen Fall aufnimmt. Sie ist freundlich und überaus verständnisvoll, keine Sekunde lang habe ich den Eindruck, dass sie mich nicht ernst nehmen würde oder gar abwimmeln will. Im Gegenteil: Sie ist ungemein engagiert und versucht wirklich alles, um mir zu helfen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Wären alle Polizeibeamten so, das Problem Stalking würde sich in diesem Land schlagartig relativieren. Stalker würden es sich dreimal überlegen, ob sie irgendjemandem das Leben schwer machen – und käme der Stalkingparagraph konsequent zur Anwendung, kämen ein paar Täter mehr ins Gefängnis – das würde sich herumsprechen, und das Problem wäre in relativ kurzer Zeit weitgehend gelöst.
Leider sieht die Realität anders aus.
Ich frage die Polizistin, ob sie sich die Nachricht auf meiner Mailbox wohl anhören könne und wie sie die einschätze.
Sie hört die Botschaft ab, ihr Gesicht wird ernst: »Das müssen Sie ernst nehmen. Das ist kein Spaß, hier hat sich niemand nur einen schlechten Scherz erlaubt.«
Der Unbekannte meint es also ernst. Wer ist er? Was will er?
Nun beginnt sie systematisch und beherzt ihre Arbeit, und ich werde dieser Frau für alle Zeiten dankbar sein. Sie lässt nichts unversucht, um eine Spur zu finden, diese zu verfolgen. Da der Täter dumm genug war, seine Nummer nicht zu unterdrücken und von einem öffentlichen Ort anzurufen, ist die Sache einfach: Der Anruf kam nachts um ein Uhr aus einem Internetcafé in Berlin.
Seit ich das weiß, sehe ich Internetcafés mit anderen Augen: Stellen Sie sich vor, jemand ruft von dort aus jemanden an, spricht eine Morddrohung aus, stöhnt dabei herum, befriedigt sich möglicherweise selbst – und niemand bemerkt es! Oder vielleicht will es niemand bemerken? Oder vielleicht ist es in einigen Berliner Bezirken an der Tagesordnung, dass man telefonisch Menschen bedroht und alle hören weg …?
»Kennen Sie jemanden, der in dem Bezirk wohnt, in dem sich das Internetcafé befindet?«, fragt die Polizistin.
Wer in Berlin wohnt, dessen Freunde und Bekannte sind meist über alle Bezirke verstreut. So ist es auch bei mir. Ich denke nach, eigentlich kenne ich niemanden, der in der Nähe des Internetcafés wohnt. Aber plötzlich fällt mir ein: Ich hatte mal einen Facebook-»Freund«, einen flüchtigen Bekannten, den ich, weil mir seine Postings auf die Nerven gingen, vor vielen Monaten gelöscht hatte. Er hatte unter anderem ständig schlechte und langweilige Fotos aus seinem Kiez veröffentlicht – hätte er das nicht gemacht, hätte ich ihn und sein Viertel vermutlich schon längst vergessen. Er wohnt – Zufall? – um die Ecke von jenem Internetcafé, in dem die Morddrohung ausgesprochen wurde. Ich kann mir nicht erklären, warum ausgerechnet er mir nach dem Leben trachten sollte – aber in den kommenden Monaten werden alle Fäden, alle Spuren immer wieder zu ihm führen.
Die Idee der Polizistin ist es, die sogenannte Gefährderansprache, die Teil des Stalkingparagraphen 238 ist, zur Anwendung zu bringen. Die Idee klingt sehr vernünftig: Die Gefährderansprache soll der Deeskalation dienen, im Idealfall gelingt es der Polizei,...