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E-Book

Georg Groddeck

Eine Biographie

AutorWolfgang Martynkewicz
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783105602270
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Georg Groddeck (1866-1943) eröffnet 1900 ein Sanatorium in Baden-Baden und macht sich als begnadeter Arzt und Vortragsredner bald einen Namen. Als einer der ersten erkennt er, daß die Heilung eines Patienten gleichermaßen physisch wie psychisch erfolgen müsse, und gilt daher als »Vater der Psychosomatik«. Mit seinem »Buch vom Es« reiht er sich in die Zunft der Psychoanalytiker ein, wird aber als Außenseiter betrachtet. Die Person Groddecks mit all ihren Widersprüchen zu zeigen ist Hauptanliegen dieser Biographie, die gleichzeitig ein Bild von den geistigen Strömungen seiner Zeit entwirft. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Wolfgang Martynkewicz, geb. 1955, Studium der Literaturwissenschaft, Psychologie und Soziologie, Promotion 1990. Veröffentlichte u. a. eine Monographie über Arno Schmidt (1992) sowie ein Buch über Jane Austen (1995).

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Leseprobe

Ganz Groddeck


Im Jahre 1917 wird der inzwischen international anerkannte Entdecker der Psychoanalyse, Sigmund Freud, auf Erscheinungen aufmerksam, die er im Briefverkehr mit seinem Kollegen und Schüler Sándor Ferenczi als »groddecksches Symptom« bezeichnet. Es handelt sich dabei um Symptome, die als körperliches Leiden auftreten, aber keine unmittelbar organischen Ursachen haben, sondern durch unbewußte Phantasien hervorgerufen werden.

Das »groddecksche Symptom« wird im Briefwechsel zwischen Freud und Ferenczi in den folgenden Jahren zum geflügelten Wort für alles das, was man heute als »psychosomatisches Körpertheater«[1] bezeichnet. In den Stücken, die dabei aufgeführt werden, wird der Körper zur Sprache, der innere Vorgänge symbolisiert.

Am 6. November 1917 beschreibt Freud in einem Brief an Ferenczi ein »groddecksches Symptom«, das – in Anbetracht seiner sechs Jahre später ausbrechenden Krebserkrankung – eine zusätzliche Dimension erhält: »Gestern hatte ich die letzte Zigarre verraucht, war seither böswillig und müde, bekam Herzklopfen und eine Steigerung der seit den schmalen Tagen bemerkbaren schmerzhaften Gaumenschwellung (Carcinom? etc.). Da brachte mir ein Patient 50 Zigarren, ich zündete eine an, wurde heiter, und die Gaumenaffektion ging rapid zurück! Ich hätte es nicht geglaubt, wenn es nicht so auffällig wäre. Ganz Groddeck.«[2]

Der Namengeber, Georg Groddeck, ist als Arzt und Leiter eines Sanatoriums in Baden-Baden bis zu diesem Zeitpunkt nur einem kleinen Kreis bekannt. »Meinen ärztlichen Ruf«, schreibt er Freud 1917, »verdanke ich ursprünglich meiner Tätigkeit als physikalischer Therapeut, speziell als Masseur. Infolgedessen ist meine Klientel wohl anders geartet als die der Psychoanalytiker.«[3]

Alfonso Hüppi, Groddecks Naser, Übermalung eines Portraits der Patientin E.H., 1926

Groddeck behandelt in seinem Sanatorium organische Erkrankungen. Mit Vorliebe widmet er sich den sogenannten hoffnungslosen Fällen; den chronisch Kranken, denen bisher kein Arzt helfen konnte und die resigniert nach Baden-Baden kommen. Groddeck gibt ihnen keine Arznei, er hat keine Wundermittel parat, was er seinen Patienten verordnet ist – zumindest auf den ersten Blick – denkbar einfach: Bäder, Massagen und Diät. Er bedient sich also der traditionellen Mittel der Heilkunde, wendet sie aber – wir werden es noch sehen – auf ganz spezifische Weise an. Und im Gegensatz zu vielen anderen Kuren, gibt er seine Patienten nicht aus der Hand, er überwacht die Anwendungen und übernimmt sie zum Teil selbst, vor allem die Massage. Heilung – das war einer seiner Grundüberzeugungen – muß von der Person des Arztes ausgehen, die Mittel sind demgegenüber von sekundärer Bedeutung.

Groddeck konnte die Menschen faszinieren, er war ein Charismatiker. Schon mit seiner Physiognomie, seinem masssigen Körper, wirkte er auf seine Patienten mächtig, ja, bisweilen geadezu übermächtig. Vieles an ihm schien etwas groß geraten zu sein, die schweren, prankenhaften Hände, der Kopf, eingerahmt von den großen, abstehenden Ohren, die wulstigen Lippen und die kräftige Nase. Besonders eindrucksvoll – und von vielen hervorgehoben: Seine Augen, ein bannender, stechender Blick, den manche als satanisch empfinden. Das Dämonische seines Antlitzes und seiner Physis fand eine Entsprechung in seiner Redeweise, in seiner ausdrucksstarken, festen Stimme, die ungeheuer suggestiv wirkt. Manche Patienten fühlen sich aber auch eingeschüchtert, einige beschweren sich über seine Lautstärke, seinen zuweilen herrischen Ton. Bemerkenswert ist, daß diese gebieterischen, autoritären Züge häufig mit einer Gegenbesetzung versehen werden. Hermann Keyserling spricht von einem »wahrhaft diabolischen« Gesicht, das zugleich eine »tiefe Gütigkeit«[4] ausstrahlt. Das Fesselnde und Faszinierende, das von Groddecks Erscheinung ausging, hing offenbar gerade mit dieser Ambivalenz zusammen. Er symbolisiert für viele Patienten das, was sie in ihrem Leben vermissen, was sie suchen und in keinem anderen Menschen finden, den festen, ruhenden Pol. So kommt er mit seiner Physiognomie, seinem Habitus, den Bedürfnissen und Wünschen einer vornehmlich weiblichen Klientel entgegen. Schon mit seinem Äußeren entspricht er jenem tiefverwurzelten Bild vom Arzt als Heiler, Magier und Seelenführer; ein Bild, das sich schon bei Hippokrates findet, für den Aussehen, Auftreten und Erscheinung des Arztes ein wesentliches Element der Heilkunst sind.

Gegenüber seinen Patienten nahm Groddeck eine alles andere als distanzierte Haltung ein, sein Ideal war nicht die von Freud gepriesene und seinen Schülern auferlegte gleichschwebende Aufmerksamkeit, er präsentierte sich als aktiv eingreifende Person, ja, als Über-Person und Projektionsfigur. Von Freud bekam Groddeck zwar 1917 bestätigt, daß er zur Zunft der Psychoanalytiker gehört, doch hat sich Groddeck dem Reglement der Analytiker nicht untergeordnet, die technischen Regeln und das Setting lehnte er als verbindliche Richtschnur ab. Nicht nur in dieser Hinsicht vertrat er ganz eigene Vorstellungen, die Freud zwar mit Skepsis betrachtete, doch gleichwohl – anders als bei den einige Jahre zuvor aus der Psychoanalytischen Vereinigung ausgestoßenen Alfred Adler, Wilhelm Stekel und C.G. Jung – akzeptierte. Als Groddeck zur Psychoanalyse stieß, hatten sich die Zeiten verändert, man konnte sich in der Vereinigung Abweichungen erlauben, zumal wenn man nicht als Rivale im Machtzentrum auftrat. Groddeck wurde das Recht zugestanden, anders zu sein und für seine Klientel andere Wege in der Behandlung zu gehen als die von Freud geebneten und vorgeschriebenen. Und Groddeck pflegte dieses Anderssein, diesen Sonderstatus. Insofern gibt es bei Licht betrachtet zwischen Freud und Groddeck mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Das zeigt sich nicht nur an den Behandlungskonzepten, sondern auch an der Mentalität der beiden Personen, an ihren grundsätzlichen Einstellungen und Anschauungen. Während Freud alles daran setzte, die Psychoanalyse zu verwissenschaftlichen und in einen institutionell abgesicherten Diskurs zu überführen, lehnt Groddeck alles systematische Denken ab, in jeder Methode sieht er einen Zwang, begrifflichen Festlegungen weicht er aus. Ein antiwissenschaftlicher Affekt durchzieht alle seine Schriften.

Zur Darstellung seiner Gedanken bedient sich Groddeck vornehmlich der literarischen Gattung des Romans. Ganz anders als Freud, der in seinen ›Studien über Hysterie‹ noch mit leisem Erschrecken und mit einigem Unbehagen konstatiert, daß sich seine Krankengeschichten wie Novellen lesen würden und des ernsten Gepräges der Wissenschaft entbehren, hat sich Groddeck dieser Bedenken entledigt. Die wissenschaftliche Form ist für ihn ein starres Netz aus Begriffen, mit dem die im Fluß befindlichen Dinge angehalten, fixiert werden. In Wirklichkeit aber wechseln die Wahrheiten, und nur der, der sich der paradoxalen Rede bedient, vermag etwas vom Leben zu erfassen.

Groddecks ablehnende Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Denken, seine – wie wir noch sehen werden – fundamentale Opposition gegen die Moderne trennen ihn vom aufklärerischen Anspruch der Psychoanalyse. Er glaubt an die Kraft des Unbewußten, des Es, und alle Vorstellungen einer Eroberung dieser Bereiche durch das Ich weist er kategorisch zurück. Von dem Ernst, den die Analytiker in ihrem Auf- und Erklärungseifer an den Tag legen, fühlt sich Groddeck geradezu herausgefordert. Mit Ironie und ein wenig Selbstbespöttelung heißt es im ›Buch vom Es‹: »Was vernünftig oder nur ein wenig seltsam klingt, stammt von Professor Freud in Wien und dessen Mitarbeitern; was ganz verrückt ist, beanspruche ich als mein geistiges Eigentum.«[5]

In dieser Pose des Nonkonformisten, der mit unbändiger Lust gegen alles zu Felde zieht, was im Gewand des Ernsten und vermeintlich Seriösen daherkommt, hat sich Groddeck am liebsten gesehen, in ihr war er faszinierend und überzeugend. So haben ihn seine Patienten gemocht und verehrt, so wollen ihn noch heute seine Anhänger sehen. Groddeck der wilde Analytiker, der die Sicherheiten erschüttert, die in jedem systematischen Denken liegen, der Fragen stellt, die quer zum wissenschaftlichen Diskurs stehen, der einen anderen Blick auf das Leben riskiert und ganz en passant ein neues Paradigma, eine neue Behandlungsmethode begründet:

»Hat jemand Kopfschmerzen und ich frage, zu welchem Zweck, dann ist er zunächst verständnislos; vielleicht sagt er nachher: Ich weiß es nicht. Da gibt es ein einfaches Mittel; man fragt; wozu haben Sie Ihren Kopf? Mit dem Kopf denkt man. Das ist einer der Gründe, warum nicht bloß Kopfschmerz entsteht, sondern eine Reihe von Erkrankungen, um das Denken zu verhindern, besonders das Phantasieren.«[6] Mit solchen Fragen und unorthodoxen Ansichten hat Georg Groddeck seine Patienten und die Zuhörerschaft seiner populärmedizinischen Vorträge, die er in den Jahren zwischen 1916 und 1919 in seinem Baden-Badener Sanatorium hält, gern konfrontiert. Und während die Zuhörer oft noch ihre Verblüffung abreagierten, erzählt Groddeck schon von seinen Hustenanfällen, mit denen er unangenehme Eindrücke ›wegzuhusten‹ pflegt. Groddeck nahm die Krankheiten beim Wort: »Alle wissenschaftlichen Erklärungen gehen von dem Gedanken aus, die Kälte mache den Menschen krank. Die Sprache denkt anders; sie behauptet, der Mensch benutze die Kälte, um...

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